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Dr. Ahlers: „Bei hyperaktiven Mädchen denkt man nicht gleich an ADHS!“

ADHS ist eine Störung, von der nur Jungs betroffen sind? Von wegen! Warum genauso gut Frauen davon betroffen sind, aber meist erst später diagnostiziert werden, hat uns Dr. Eike Ahlers im Interview erklärt.

Erste Anzeichen im Kindesalter

Um ein Missverständnis gleich aus dem Weg zu räumen: ADHS ist keine Krankheit wie Masern oder Windpocken. ADHS (oder auch ADS) ist eine Störung, die eine Person ihr ganzes Leben lang begleitet. Die ersten Anzeichen der Diagnose tauchen bereits im Kindesalter auf, oft wird es aber erst im Erwachsenenalter diagnostiziert – insbesondere bei Frauen. Warum?

Diese Frage haben wir Dr. med. Eike Ahlers, wissenschaftlicher Mitarbeiter der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité, Campus Benjamin Franklin, gestellt. Er hat uns erklärt, warum wir ADHS definitiv nicht als „Kleine-Jungs-Krankheit“ bezeichnen sollten, in welchen Lebensbereichen sich die Diagnose besonders bemerkbar macht und, ganz wichtig, worin der primäre Gender-Aspekt besteht.

Quelle: Charité Berlin

Wie kommt es, dass ADHS oftmals erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wird?

„Das liegt vermutlich daran, dass der Forschungsstand dazu noch nicht so alt ist. Seit den 80er Jahren hat die ADHS als Störung im Erwachsenenalter mehr und mehr in die
Praxis Eingang gefunden. Erwachsene, die jetzt diagnostiziert werden, hatten als Kinder weniger diagnostische Angebote.“

Anhand welcher Symptome macht sich ADHS bemerkbar?

„Viele ADHS-Patienten fallen nicht defizitär in einzelnen Bereichen auf, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg: Nach einem Arbeitsmonat, in einer Beziehung, einem wechselhaften Berufsweg, mit Konzentrationsdefiziten, Unaufmerksamkeit im Straßenverkehr, dadurch, dass häufiger Fehler entstehen oder Arbeiten langsamer oder gar nicht erledigt werden. Aber auch durch die Impulsivität, bei Konflikten am Arbeitsplatz, im Kontakt mit Kunden oder Kollegen. Die Tatsache, dass man schneller cholerisch und impulsiv wird und es dadurch häufiger zu Streitsituationen kommt, bringt insbesondere in der Partnerschaft Probleme mit sich.“

Worin besteht der Unterschied zwischen ADS und ADHS? Was tritt im Erwachsenenalter häufiger auf?

„Bei Kindern tritt am häufigsten eine kombinierte Symptomatik auf, mit vielen hypermotorischen Symptomen. Bei Erwachsenen dominieren eher Unaufmerksamkeitssymptome und die hypermotorischen Symptome treten in den Hintergrund. Zwar berichten die meisten betroffenen Erwachsenen, dass die hypermotorischen Symptome immer noch vorhanden sind, aber vielmehr in Form von innerer Unruhe, die von außen gar nicht so sehr auffällt.“

Wenn man selbst die Vermutung hat, man könnte von ADHS betroffen sein, wie ist dann das weitere Vorgehen? Wie lässt sich ADHS genau diagnostizieren?

„Das ist gar nicht so einfach, weil die Symptome im weitesten Sinne unspezifisch sind und auch bei jedem Menschen in irgendeiner Form auftreten. Nur, wenn diese über einen längeren Zeitraum in einer bestimmten Stärke in mehreren Lebensbereichen zusammenliegen und kein anderer Grund die Beschwerden erklären kann, dann kann man von einer ADHS reden.

Wir benutzen deshalb in der Diagnostik Fragebogen-Tests im Vorfeld, erheben Daten, die Biografie betreffen, schauen beispielsweise Schulzeugnisse an. Und, ganz wichtig: Wir unterhalten uns mit den Angehörigen. Dann untersuchen wir den Patienten vor Ort psychiatrisch, um auszuschließen, dass es einen anderen Grund für die Verhaltensauffälligkeiten geben könnte. Die Schwierigkeit, die bei Erwachsenen entsteht, ist, dass wir retrospektiv beurteilen müssen, ob eine ADHS auch in der Kindheit und Jugend vorlag.“

Wenn ADHS nicht im Kindesalter diagnostiziert wurde, wann macht es sich spätestens im Erwachsenenalter bemerkbar? Wer kommt zu Ihnen in die Praxis?

„Bei uns sind es vor allem junge Erwachsene, die im Studium oder in den ersten Berufsjahren Probleme haben. Aber es sind mehr und mehr auch ältere Patienten, die selber Kinder haben, oder die durch Freunde und Bekannte darauf hingewiesen wurden.

Dann gibt es aber auch diejenigen, die als Kinder und Jugendliche betroffen waren, lange keinen Behandlungsbedarf mehr hatten, und dann doch in bestimmten Lebensumständen merken, dass sie noch Probleme haben.

Manchmal kommt es auch vor, dass Erwachsene gar nicht wegen eigener Beschwerden vorstellig werden, sondern vom Arzt ihrer Kinder auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht wurden.“

Ungeduldig, unaufmerksam, unkonzentriert – bei ADHS ist schnell von der „Kleine-Jungs-Krankheit“ die Rede. Was halten Sie davon?

„Mittlerweile ist in der Medizin bekannt, dass nicht nur der augenscheinlich unruhige Junge von der Störung betroffen sein kann. Zusätzlich wissen wir, dass die Störung sich bei vielen Betroffenen, mindestens bei einem Drittel, bis in das Erwachsenenalter relevant bemerkbar macht.“

Wie würden Sie den Genderaspekt definieren, anders gesagt: Inwiefern unterscheiden sich Frauen und Männer in ihren Verhaltensauffälligkeiten?

„Auch eher ruhige Kinder, häufiger dann sogar Mädchen können von deutlichen Aufmerksamkeitsdefiziten betroffen sein. Diese sind gerade im Erwachsenenalter der primäre Grund dafür, eine Behandlung zu suchen. Patienten mit einer ADHS leiden im Erwachsenenalter zusätzlich häufig unter weiteren psychischen Störungen, wie zum Beispiel Depressionen, Symptomen einer Persönlichkeitsstörung oder Schlafstörungen. Dies gilt für Frauen und für Männer. Doch es gibt Hinweise, dass Frauen häufiger an zusätzlicher Depressivität und an Ängsten leiden, wohingegen bei Männern häufig schädlicher Substanzkonsum zu einer Behandlung führt.“

Aber woran liegt es, dass Frauen häufig später diagnostiziert werden als Männer?

„Außenstehende nehmen dabei die Verhaltensauffälligkeiten von Frauen wahrscheinlich weniger wahr. Wenn eine Frau aufgrund von Konzentrationsstörungen in eine psychiatrische Praxis geht, schätzt man sie wohl eher weniger als psychiatrisch behandlungsbedürftig ein – zumindest weniger als einen
Jungendlichen oder einen jungen Erwachsenen, der in der Schulklasse oder Zuhause durch Aggressivität auffällt.

Das ist vermutlich tatsächlich auf die Geschlechterrollen bezogen. So kann ich mir vorstellen, dass man auch bei einem tatsächlich hyperaktiven
Mädchen nicht in Betracht zieht, dass sie an einer ADHS leiden könnte.“

Glauben Sie, dass viele Erwachsene auch gar nicht wissen, dass sie von ADHS betroffen sind?

„Wahrscheinlich schon. Das liegt aber sicherlich auch daran, dass viele Erwachsene derartige Symptome allein auch einfach nicht als Beschwerde erleben. Vor allem erleben wir aber an den Anfragen an uns, dass es ein großes Interesse gibt, andauernde Aufmerksamkeitsdefizite psychiatrisch abklären zu lassen.“

Wie kann man ADHS denn am besten behandeln?

„Das lässt sich nicht pauschalisieren, aber feststeht, dass die Symptome vor allem durch
Medikamente zu reduzieren sind. Die wirken sehr zuverlässig und das
Nebenwirkungsprofil ist gut bekannt.

Um einen Umgang mit den Beschwerden in den Alltag zu integrieren, um damit klarzukommen, ist eine psychotherapeutische Behandlung zusätzlich günstig – vor allem in verhaltentherapeutischer Hinsicht, um im Alltag die Symptome zu
beherrschen. Je nach aktueller Bedürfnislage wird diese Kombination aus Medikamenten, um die Symptome zu reduzieren, und Psychotherapie angewandt. Das sollte aber immer wieder individuell überprüft werden.“

Inwiefern unterscheidet sich die Therapie im Kindesalter von derjenigen im Erwachsenenalter?

„Im Kindesalter ist die Therapie integrierter in die Lebensumstände, die Eltern werden führend mit einbezogen, Kindergärten sowie die Schule. Das ermöglicht Erleichterungen in der Schule, zum Beispiel längere Zeitkontingente bei Klausuren, so auch im Studium. Diese Möglichkeiten hat man im Berufsleben viel weniger. Umso wichtiger wird hier, eine passende therapeutische Unterstützung zumindest zeitweise zu erhalten.“

Welche positiven Eigenschaften kann man ADHS abgewinnen?

„Da tue ich mich sehr schwer. Ein Mensch mit einer ADHS muss zunächst einmal nicht sonderlich als gestört auffallen – manche haben nur ganz leichte Konzentrationsprobleme und sind ein wenig sprunghafter, andere mehr. Was man bei ADHS-Patienten oft erlebt, ist, dass sie sich schnell auf Neues einlassen können und spontan mit großem Elan und großer Motivation Dinge erledigen können.

Wichtig ist, dass man trotz einer ADHS-Diagnose die Menschen dahinter nicht als defizitär oder irgendwie gestört abtut. Ich weiß nicht, ob die ADHS an sich positive Eigenschaften hat, der Betroffene sicherlich. Und er kann sicher auch Vorteile in der Symptomatik entwickeln.“

Von der Gesellschaft wird ADHS oft unterschätzt oder auch als Lüge abgetan, als „Modekrankheit“ bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

„Ich plädiere da für einen ganz unaufgeregten Umgang. Es gibt eine klare Stellungnahme, was der aktuelle wissenschaftliche Stand ist, und danach definiert man heutzutage das Störungsbild der ADHS. Dieser Forschungsstand wurde von der DGPPN, einer psychiatrischen Fachgesellschaft, bereits zusammengefasst und ist für jeden nachlesbar.“

Wie sollten wir denn in unserer Gesellschaft damit umgehen?

„Ich persönlich würde mir einen unaufgeregten, neutralen Umgang wünschen. Es gibt viele Kinder, denen man Unrecht tut, wenn man als ,ADHSler abtut‘. Anderen Betroffenen wird aber auch aus Voreingenommenheit verwehrt, zu schauen, ob eine ADHS vorliegt. Auch sollte weiter erforscht werden, was die biologischen Hintergründe und passende Behandlungsmethoden sind. Und die Diskussion, ob es ADHS gibt oder nicht, ob es gut ist oder nicht, bringt uns an dieser Stelle überhaupt nicht weiter.“

Themenwoche: Frauen mit ADHS

Diese Woche widmen wir dem Thema ADHS. Neben Dr. Ahlers, der uns die medizinische Sicht erklärt hat, erzählen bei uns diese Woche sieben Frauen von ihrem Alltag mit ADHS. Andie ist die erste, weitere folgen. 

Andie: „Nach der Diagnose war klar: Ich bin gar nicht so abgefucked, das ist das ADHS“. Weiterlesen

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