Bewerbungsprozesse laufen meist sehr ähnlich ab: Eine Stellenausschreibung weckt Interesse bei einer*m Bewerberin, die*der daraufhin sämtliche Unterlagen per Mail einreicht oder über ein Portal hochlädt, um danach zu warten, bis sich das Unternehmen schließlich meldet. Sehr standardisiert und ziemlich unpersönlich. Denn oft liegen unsere wirklichen Stärken in den Soft Skills, die nicht sofort erkennbar sind anhand der Stationen im Lebenslauf. Wie also können Recruiter*innen durch die herkömmlichen Bewerbungsunterlagen herausfinden, ob die Person zum Unternehmen passt?
Das HR-Start-Up Aivy will hinter die Lebensläufe blicken. Durch einen komplett gamifizierten Prozess stellt die Software, die für Bewerber*innen auch als App verfügbar ist, die individuellen Stärken der Bewerber*innen in den Vordergrund. Sie ermöglicht dadurch nicht nur einen spannenderen Bewerbungspozess – Aivy unterstützt Unternehmen auch bei ihrem Diversity Management und bei der Überwindung des Unconscious Bias.
Wir haben mit Alexandra Kammer, Head of Diversity Management bei Aivy gesprochen – über aktuelle Herausforderungen in der HR-Branche, die Gewinnung der Zielgruppe Gen Z und angewandtes Diversity Managment in HR-Prozessen.
Aivy will hinter den Lebenslauf von Bewerber*innen blicken und durch psychologische Eignungsdiagnostik das „Perfect Match“ finden. Was klingt wie eine Reality Show, ist für die HR-Branche ein echter Game Changer. Wie funktioniert Aivy genau?
„Wir wollen die Personalauswahl menschlicher machen, indem wir tatsächlich auch den Menschen hinter dem Lebenslauf in den Fokus stellen. Unternehmen sagen: ,Hey, wir wollen dich kennenlernen. Überzeuge uns mit deinen Stärken: Spiel doch bitte mal Aivy durch.‘ – und damit können sie aus der Masse hervorstechen, in dem sie den Bewerber*innen die Chance geben, zu zeigen, was wirklich in ihnen steckt. Der Prozess wird somit nicht nur menschlicher, sondern auch zeitgemäßer. Denn wir wissen ja alle, dass wir über die Unterlagen, die wir einreichen, nicht unmittelbar zeigen können, wer wir sind. Außerdem kommt es durch herkömmliche Verfahren häufig zu Diskriminierungen.
Es gibt sogar schon Unternehmen, die den Lebenslauf durch unser Stärkenprofil ersetzen. Sie sind der Meinung, dass es nicht um die besten Noten oder die besten Unis geht, viel mehr möchten sie wissen, welche Persönlichkeit und welche Stärken die Person mitbringt.
Unser Stärkenprofil ist komplett auf Soft Skills ausgerichtet. Wenn ich von Stärken spreche, dann ist das sowas wie Problemlösungs- und Planungsfähigkeit oder auch kognitive Fähigkeiten wie ein gutes Auffassungsvermögen. Und natürlich spielen auch persönliche Werte eine große Rolle. In welcher Arbeitsumgebung kann ich mich am besten entfalten? Wo fühle ich mich wohl? Bin ich eine Person, die gerne Verantwortung übernimmt oder gebe ich die Verantwortung lieber ab? All diese Dinge werden bei uns durch psychologische Eignungsdiagnostik getestet.“
Das heißt: Ihr könnt Unternehmen dabei helfen herauszufinden, was beziehungsweise wen sie genau brauchen?
„In so einer Stellenausschreibung wird ja oft die eierlegende Wollmilchsau gesucht. Damit tut sich das Unternehmen keinen Gefallen, auch mit Blick auf die Diversity. Es gibt genug Studien, die das belegen: Je länger die Anforderungsliste ist, desto weniger Menschen, die Marginalisierung oder Diskriminierung erfahren haben, bewerben sich. Hier verlieren Unternehmen richtig gute Leute. Und diesen Prozess wollen wir erleichtern, um Objektivität zu schaffen. Dabei fallen so inhaltsleere Worthülsen wie ,sei ein Teamplayer‘ raus.“
Stichwort Diversity. Du hast ja gerade schon angesprochen: Diversity Management hat bei euch einen ganz besonderen Fokus. Ihr sagt, dass ihr im Bewerbungsprozess den Unconscious Bias überwinden könnt. Wie macht ihr das?
„Der erste Schritt sind die objektiven Kriterien. Das heißt, dass sich Entscheider*innen darüber bewusst sein müssen, was hier wirklich gebraucht wird und dass diese Kriterien nicht im Prozess verloren gehen. Das ist oft das Problem, was ein Unconscious Bias hineinbringt und in der Folge dann eben auch Hiring Bias, die im Prozess passieren können. Warum sortiere ich jemanden aus – bewusst oder unbewusst? Wenn die objektiven Kriterien nicht klar sind, dann hat man irgendeinen Maßstab im Kopf und sortiert Lebensläufe anhand subjektiver Kriterien aus.
Dadurch, dass wir mit Aivy die Bedeutung der Objektivität hervorheben, kann dies von Unternehmen als Entscheidungshilfe genutzt werden. Da konnten wir auch schon richtig gute Erfahrungen sammeln. Unsere Partner*innen sagen beispielweise, dass sie gerade eine Stelle neu besetzt haben mit einer Person, die sie normalerweise anhand des CVs aussortiert hätten. Und nun arbeitet diese Person dort und das Unternehmen ist richtig zufrieden mit ihr.“
Da Aivy sowohl als einzelnes Tool aber auch in Verbindung mit herkömmlichen Bewerbungsunterlagen genutzt werden kann, ist der Bewerbungsprozess ja nicht vollständig anonymisiert. Wäre das nicht die ideale Lösung, um den Bias, zumindest im ersten Schritt des Bewerbungsprozesses, vollständig zu verbannen?
„Es gibt auch die Möglichkeit den Prozess zu anonymisieren, wenn man das möchte. Wir lassen das offen. Wir haben darauf geachtet, dass Aivy niedrigschwellig ist und dass es jede*r an sich anpassen kann. Es gibt aber auf jeden Fall auch diese Möglichkeit der Anonymisierung.“
Und wieso lasst ihr das offen?
„Ganz einfach gesagt: Wir haben Aivy so gebaut, dass es für alle zugänglich ist. So zum Beispiel auch unsere Preisstrategie. Es ist so ausgelegt, dass sowohl Start-ups, kleine und mittelständische Unternehmen sowie große Unternehmen Aivy nutzen können. Je nachdem, wie der innere Prozess des jeweiligen Partnerunternehmens ist, kann man den HR-Prozess nicht so leicht anpassen. Deshalb gibt es bei uns an solchen Stellen immer verschiedene Optionen. Zudem löst das anonymisierte Bewerbungsverfahren auch nur einen Teil des Problems.“
Wie meinst du das?
„Der größte Bias vollzieht sich in den Interviews, weil es eine zwischenmenschliche Ebene ist. Wir versuchen durch das Passungsprofil dagegenzusteuern. Das Passungsprofil ist auch dafür gedacht, dass ich es in Interviews mitnehme. Dadurch finden Interviewsituationen auf Augenhöhe statt, und zudem können sich beide Parteien direkt darauf beziehen und Dinge konkret ansprechen und hinterfragen. So hebeln wir den Affinity Bias aus und verhindern, dass eine Person zum Beispiel auf Basis eines 1. FC Köln Schals eingestellt wird.“
Unterstützt ihr Unternehmen auch bei diesem Prozess?
„Ja. Ich gebe oft Workshops in Unternehmen, die uns neu einführen. Der wichtige Unterschied zu vielen anderen Workshops zum Thema Bias in Bewerbungsprozessen ist, dass ich zwar ebenfalls nach ein bis zwei Stunden wieder gehe, aber ich lasse Aivy da. Wir sind das Werkzeug, das bleibt und so können HR-Abteilungen das neue Wissen auch direkt anwenden und den Prozess optimieren. Oft ist es leider so, dass in einem Workshop Wissen vermittelt wird, das danach aber keine Anwendung findet. Bei uns ist das anders.“
Diversity und andere Werte rücken gerade selbst bei bislang konservativen Unternehmen immer mehr in den Mittelpunkt, weil die Gen Z in den Arbeitsmarkt eintritt und diese Generation für ihr starkes Wertegerüst bekannt ist. Welche Rolle spielen Werte im Passungsprofil?
„Werte spielen im Passungsprofil eine wichtige Rolle. Wir testen zum Beispiel auch den Cultural Fit und die Mission. Es gibt tatsächlich ein Spiel, das die eigene Mission ermittelt. Das passt schon perfekt auf diese neue Generation am Arbeitsmarkt.“
Gen Z ist gerade ein wichtiges Thema in der HR-Welt. Erst kürzlich ist das Buch „Gen Z für Entscheider*innen“ erschienen – ein Must-Read für alle Menschen, die mit HR zu tun haben. Im Kapitel Recruiting wird davon gesprochen, dass die Gen Z als Digital Natives schnelle Reaktionen gewohnt sind. Etwas, das im traditionellen Bewerbungsprozess selten der Fall ist. Könnt ihr diesen Prozess beschleunigen?
„Auf jeden Fall. Allein dadurch, dass es durch Aivy keinen Stillstand gibt und Bewerber*innen eben nicht nur mit der automatisierten Nachricht zurückgelassen werden, dass die Bewerbungsunterlagen eingegangen sind, sondern z.B. die Aufforderung erhalten, Aivy zu spielen. So sind Bewerber*innen enganged – es macht sogar Spaß. Natürlich bekommen die Bewerber*innen keine To-Do Liste, es ist eine Einladung, noch mehr über sich selbst in den Bewerbungsprozess einfließen zu lassen. Beide Seiten haben etwas davon – sind mehr bei der Sache. Vor allem junge Talente geben das Feedback, dass sie genau durch dieses Spiel weiter im Prozess geblieben sind.
Für diese Generation ist es zudem wichtig, dass es kein zwei Stunden Assessment Center ist. Wenn Unternehmen zu einem Assessment Center einladen, gehen Bewerber*innen oft frustriert daraus. Teilweise fühlen sie sich sogar richtig dumm. Und das ist für Unternehmen überhaupt nicht zielführend. Vor allem auch Unternehmen, die Konsumgüter verkaufen. Die können es sich nicht leisten, an dieser Stelle potenzielle Mitarbeitende und also wahrscheinlich auch Fürsprecher*innen und Konsument*innen zu verlieren. Man ist einem Unternehmen nie mehr verbunden, als wenn man dort arbeiten möchte. Der Markt hat sich gewandelt. Arroganz können sich Unternehmen hier einfach nicht mehr leisten.“
GLOSSAR
Unconscious Bias – anerzogene und automatische Stereotypisierungen und unbewusste Denkmuster, die tief verankert sind
Hiring Bias – Vorurteile im Bewerbungsprozess und im Recruiting
Affinity Bias – die Tendenz, Menschen zu bevorzugen, die einem ähnlich sind