Was ist ein erfülltes Leben? Das ist eine der Fragen, die Ariadne von Schirach in ihrem neuen Buch anstößt. Darin geht es auch um Schönheitswahn.
Schön sein statt leben
Schon das erste Kapitel von Ariadne von Schirachs Buch „Du sollst nicht funktionieren: Für eine neue Lebenskunst“, das sich gegen den Selbstoptimierungswahn wendet, ist eine sehr dichte Erzählung über die Moderne und gleichzeitig Kritik an ihrem physischen und seelischen Wirken. Der Einstiegstext „Stresskörper“ verwebt die Entgrenzungserfahrung, die heutige Ansprüche an das äußere Erscheinungsbild mit sich bringen, mit dem Realitätsverlust, der durch die Verlagerung des Lebens ins Digitale geschehen kann.
Dabei sind die Fragen, die Ariadne von Schirach stellt, größer als die Kritik an der „Göttin Anorexia“ und angebeteten Jugend, die sich in „professionell jungen Körpern“ zeige, wenn 50-Jährige alles dafür tun, um der Marketingzielgruppe der Best Ager auch optisch nahe zu bleiben. Das Syptom, dass junge Menschen vor allem aufgrund ihres „makellosen Äußeren und makellosen Geschmacks“ von der Gesellschaft wahrgenommen würden, und gutes Aussehen nicht wie einst ein Verweis auf innere Werte mehr ist, sondern „ein innerer Wert an sich“ geworden sei, bringt die Autorin zusammen zu der Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein, und wofür sich das Leben lohnt.
Was vermisst der Mensch, so wendet von Schirach sich an den Leser, wenn der Tod ihn ereilte und er den Körper nicht mehr hätte? Menschen, die auf den Sterbebett befragt würden, was sie am meisten bedauerten, erzählten dann, sie seien gern öfter barfuß gelaufen oder im Meer geschwommen. Wenn man sich gerade an einem schwülen Sommertag vorstellt, wie es ist in den kühlen See zu tauchen, vergisst man sofort die Sorge um vermeintlich überflüssige Kilos oder die Idee eines perfekten Instagram-Bildes.
Was ist ein erfülltes Leben?
Lohnt es sich, für die Arbeit zu leben? Oder für die Arbeit schön sein zu wollen? Von Schirachs Gedanken werden besonders da plastisch, wo sie beginnt Protagonistinnen vorzustellen, deren Lebensinhalt (auch) ihr Aussehen ist. Da ist das „Hungermädchen“, das ihr mühevoll designtes Äußeres hinter dem Satz „So bin ich eben“ versteckt, und die Verkäuferin bei einem Luxuslabel, der am Ende ihrer Schönheit nicht mehr viele Perspektiven bleiben. Beide tragen nur einen Vornamen, sie stehen stellvertretend für viele. Dann ist da Heidi Klum, der die Autorin ein inhaltsleeres und „vulgäres“ Leben vorwirft, und von Schirach wohl will, das man sich als Leser nun fragt, was nicht nur ein erfülltes Leben, sondern eben auch Erfolgsbegriffe von heute bedeuten und bedingen.
Vielleicht stellt man dann im Bewerbungsgespräch beim nächsten Mal die Frage nach dem erfüllten Leben, statt die Frage nach dem Fünf-Jahres-Plan und hofft, dass die auf Anpassung trainierten Absolventen auch darüber schon einmal nachgedacht haben. Als Führungskraft hat man eben mehr Verantwortung, als aus den Angestellten das Beste für das Unternehmen herauszuholen, man trägt Verantwortung für eben diese Menschen. Sie dabei zu unterstützen, dass sie einen Idee dafür haben, wie ihr Leben dann aussieht, wenn sie vielleicht nicht zur Firma passen oder es die Firma selbst nicht mehr gibt, ist auch eine Führungsaufgabe: Menschen ganzheitlich bei der Persönlichkeitsentwicklung begleiten, nicht nur für ihre beruflichen Aufgaben. Wer bereit dafür ist, Verantwortung für andere zu tragen, muss darauf achten, dass sie durch ihre Arbeit nicht ihre Gesundheit verlieren, oder die Beziehungen zu denjenigen Menschen, die nach der Arbeit auf sie warten.
Genuss statt Selbstoptimierung
Wenn von Schirach dazu auffordert, den Körper nicht länger zu bewirtschaften, sondern wieder zu bewohnen, da er „das Fenster zur Welt“ sei, dann klingt das zunächst wie ein Spruch, der gerahmt in einem Yoga-Studio einer Großstadt hängen könnte. Doch der Text will sich von der mächtigen Ideologie lösen, in der das sich das „Daheim-Fühlen“ im eigenen Körper ebenso industrialisiert worden ist wie das gute Aussehen, das ein besseres Leben versprechen soll. Mit dem Körper im Einklang zu sein bedeutet für die Autorin eben nicht, ihn angestrengt gesund und jung zu halten, sondern die Harmonie mit ihm beiläufig und genussvoll zu erreichen – auch mit Rauchen und Trinken.
Den eigenen Körper und das umgebende Leben wieder wahrnehmen zu können, erfordere auch eine Distanz, die in der beständigen Bildproduktion für das Internet und das Publikum dort verloren ginge, so Schirach. Wer ständig bereit ist, abgelichtet zu werden, habe keine kritische Distanz mehr zu sich selbst. Sie fragt: Welche Sprache beginnt der Körper wieder zu sprechen, wenn er frei von der Erwartungen der Umwelt ist? Dem Körper das Genießen zurückzugeben gelinge erst dann, wenn man ihn aus dem „Gefängnis der Bilder“ befreie. Ein Gefängnis, das nicht erst seit sozialen Netzwerken und Selfie-Kult bestand. Schirach sieht in der Selbstbefreiung aus den „eigenen falschen Bildern“ den Beginn, das eigene Leben zurückzuerobern und zu bestimmen. Ein Gedanke, den die Autorin sich bei Hannah Arendt geliehen hat, die einen Beginn der Revolution darin sah, eben das zu tun: Das eigene Leben zu fordern.
Und an dieser Stelle muss der Leser selbst beginnen, sich zu fragen, wie er das tun kann, und wie das Spannungsfeld seiner eigenen Freiheit und den Begrenzungen der Gesellschaft gesteckt ist. Ob er sich darauf zurückziehen kann, wie harsch die Erwartungen nun einmal sind und wie rigoros nach normierter Qualifikation, Aussehen und Jugend selektiert wird, oder wo der eigene Lebensentwurf beginnen kann.
Barfuß kommen Ideen dazu vielleicht schneller. Deswegen lohnt es sich von Schirachs Text noch einmal abseits dieses Artikels auf dem Bildschirm zu erfahren. In ihrem zweiten Buch widmet die Philosophin sich weiteren Themen wie der Natur, der Liebe und der Sprache. Kapitel, die noch vor uns liegen, bei der Lektüre am See.
Ariadne von Schirach: Du sollst nicht funktionieren: Für eine neue Lebenskunst. Erschienen bei Tropen.