Foto: Andreas Labes

Carolin Emcke: „Ich denke die ganze Zeit darüber nach, ob etwas, das ich tue, falsch verstanden werden kann oder übergriffig wirkt“

Wie kann der #metoo-Diskurs weitergeführt werden? Die Publizistin Carolin Emcke stellt in ihrem neuen Buch das Darüber-Sprechen ins Zentrum. Wie, mit wem und in welchen Räumen kann der Austausch über Gewalt, Macht und Sexualität etwas verändern? Ein Gespräch.

„Ja heißt ja und …“

Sie erzählen in Ihrem Buch, dass Sie Zweifel hatten, ob Sie überhaupt etwas zu #metoo sagen wollten, haben dann Ihren Beitrag sogar im ersten Schritt als Lecture Performace in die Schaubühne gebracht. Haben Sie bewusst nach der Resonanz des Publikums gesucht, um Ihrem Zweifel etwas entgegenzusetzen?

„Nein, ich glaube, ich habe überhaupt erst beim Schreiben gemerkt, dass sich der Text eine andere Form sucht und dass ich keinen Text schreiben wollte, der als reiner Essay daherkommt oder der etwas in sich dogmatisch Geschlossenes hat. Ich wollte erst den Text durchlässiger machen und dann, durch die Performance am Theater, auch mich selbst durchlässiger für Reaktionen der anderen. Ich wollte mich selbst aussetzen oder auch anbieten, weil es bei #metoo eben um Verwundbarkeit, Intimität und Körperlichkeit geht. Mir schien das die konsequenteste, radikalste Art zu sein, mich auf das Thema einzulassen. Ich habe so etwas noch nie gemacht und erst auf der Bühne gemerkt, wie direkt und körperlich die Emotionen des Publikums zu spüren sind. Nach der Vorstellung sind dann Menschen zu mir gekommen und haben von sich erzählt. Das hatte ich vorher nicht geahnt.“

Wie viel ist davon im Buch dann noch eingeflossen?

„Es gibt einen Teil, der ist stetig, das ist das, was im Theater als Text gesprochen wurde. Es sind dann aber doch noch eine ganze Reihe von Überlegungen mit reingekommen, die mit diesen Reaktionen zu tun haben. Sie waren ganz unterschiedlich und sehr vielfältig. Das Buch wäre ohne diese Reaktionen so nicht entstanden.“

Veranstaltungen rund um #metoo werden vor allem von Menschen besucht, die Erlebnisse in diesem Kontext gemacht haben. Waren auch Nicht-Betroffene bei Ihnen im Publikum, die lernen wollten?

„Zunächst einmal hatte ich das Gefühl, dass es in unterschiedlichen Hinsichten Betroffene geben kann. Es gibt eine Sorte von wirklich konkret Betroffenen: Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, die vergewaltigt wurden, die Übergriffe erlebt haben. Von ihnen waren ganz offensichtlich welche im Publikum, denn mich haben einige danach angeschrieben und auch angesprochen – sie haben sich zum Teil bedankt, was mich sehr berührt hat. Es gab anscheinend einen größeren Anteil von Menschen im Publikum, die in irgendeiner Art und Weise häusliche Gewalt erfahren haben: ob als Kinder durch die Eltern, ob als Partner*innen, die in einer Beziehung Gewalt erlebt haben. Und dann gab es viele, die dieses Schweigen, dieses Tabuisieren in den Familien miterlebt haben. Das waren häufig auch ältere Menschen, bei denen man nur ahnen kann, was die eigenen Erfahrungen sind, was die Erfahrungen der Mütter sind, aber wo es aus den Gesprächen heraus deutlich wurde, dass es dieses Hadern mit dem Schweigen, mit der Scham in den Familien gab.“

Bei #metoo standen am Anfang nicht die Scham über das Schweigen sondern eher überraschte und erschrockene Reaktionen: Wir haben das nicht geahnt. Wir wussten nicht, wie schlimm es ist, wie verbreitet …

„Ich glaube, dass das stimmt. Ich glaube zum einen, dass es diese Reaktionen als vorgeschobene Abwehr gibt, aber ich glaube auch – und das gilt auch für mich selbst – dass man sich gewaltsame Erfahrungen erst einmal vorstellen können muss, um sich mit Menschen solidarisch zu erklären und mit den Erfahrungen von anderen empathisch sein zu können. Wahrnehmungen sind ja vorgeprägt: Was wir für möglich oder für wahrscheinlich halten, ist auch davon geprägt, wie häufig wir davon gehört haben, dass jemand so etwas erlebt hat. Insofern hat Empathiefähigkeit gar nicht nur etwas mit der Bereitschaft zu tun, ob man gerne empathisch sein möchte, sondern hat auch etwas mit Wissen zu tun und etwas mit dem Üben der Vorstellung, dass solche Dinge geschehen.“

Müssen wir unsere Vorstellungskraft trainieren?

„Exakt. Es gibt im Buch auch eine Passage, in der ich schildere, wie ich den Missbrauch eines jungen Mannes in Afghanistan einfach überblendet hatte. Ich habe sie nicht aktiv bestritten oder geleugnet, sondern ich konnte es nicht denken. Erst als ich später einen Text über den Missbrauch von jungen Männern las, die verschleppt und versklavt wurden, tauchte eine ganz andere Deutungsmöglichkeit auf, die ich vorher mir nicht vorgestellt hatte: dass eben in Afghanistan nicht nur Mädchen und Frauen, sondern auch Jungen und Männer Opfer sexualisierter Gewalt werden. Das war nicht mutwilliges Leugnen – sondern mein eigenes Nicht-Wissen, Nicht-Ahnen hat es vor mir verborgen. Dafür war und ist die #metoo-Diskussion so wichtig: dass man übt, sich etwas vorzustellen.“

Durch Ihr aktuelles Buch aber auch die vorausgehenden Bücher zieht sich das Thema Empathie oder auch das der fehlenden Empathie. Wie steht es um die Empathie in unserer Gesellschaft?

„Zur Zeit leben wir sicherlich historisch in einer Phase, in der es politische Bewegungen und Parteien gibt, die versuchen, Empathie nur mit dem eigenen Clan, mit dem eigenen Stamm, mit der eigenen Klasse, mit dem eigenen Geschlecht usw. zu haben. Sie versuchen, Empathie in einer bestimmten Weise narzisstisch zu begrenzen. Empathisch zu sein über die eigenen Kategorien oder Klassen hinaus – auch das ist etwas, das man üben muss.“

Sie haben vergleichsweise lange gewartet, um sich zu #metoo zu äußern und suchen nun eine eher stille Form der Auseinandersetzung …

„Und das stört Sie?“

Nein, das stört mich nicht. Ich frage mich, wie Sie mit dem Debattenlärm da draußen umgehen. Kann die ruhige Form der Auseinandersetzung die stärkere sein?

„Ich glaube, es braucht beides. Ich will gar nicht suggerieren, dass es falsch wäre, sofort zu reagieren und zu diskutieren und ich will auch nicht behaupten, dass diejenigen, die in der Lage sind, schnell zu reagieren, weniger wichtig oder weniger passender oder weniger schlau wären. Ich bin einfach ein bisschen langsam. (lacht) Doch auch die Art und Weise, in der die politische Öffentlichkeit sich in den letzten drei Jahren entwickelt hat, die Neigung zu einer bestimmten Form von Aggressivität, Lust an der Eskalation, Lust an der Polarisierung, das verschreckt mich eher. Das ist sicherlich der eine Grund, dass ich manchmal eher zögere, weil ich nicht wieder in einen Zirkel hineingeraten will, der sich wechselseitig hoch katapultiert. Letztlich war ich tatsächlich auch nicht ganz sicher, ob ich und in welcher Form ich etwas zu #metoo sagen kann. Das ist eine merkwürdige Internalisierung von einer Stigmatisierung als queere Intellektuelle: Weil jemandem wie mir oft die Weiblichkeit abgesprochen wird und ich deswegen erst einmal denke, dass es andere sind, die sich eher dazu äußern können. Ich brauche dann erstmal eine Reflexion, um das zu durchbrechen. Warum soll ich mich hindern lassen? Als ob ich keine Erfahrung hätte mit Chauvinismus und mit Stigmatisierung. Das ist sicherlich eine innerliche Hemmschwelle gewesen lange Jahre, die mich bei diesen Fragen hat zögern lassen. Ich musste mir selbst erst die Sprecher*innen-Position erklären, um mich dann auch zu trauen.“

Haben Sie über das Abwarten Aspekte in der #metoo-Diskussion entdeckt, die noch nicht durchdrungen wurden?

„Der Fokus lag zunächst auf einzelnen Fällen und dem Versuch des Nachweisens, dass eine bestimmte Person die eigene Macht missbraucht hat, Frauen missbraucht hat, genötigt hat. Darüber wurden dann zum einen die Personen und ihre Verhaltensweisen genauer angeschaut, zum anderen auch der direkte Kontext, diese komplizitäre Kultur in bestimmten Branchen. Ich habe diese Einzelfälle auch verfolgt und manche erscheinen einem dann noch widerlicher als andere. Aber diese einzelnen Fälle haben mich nicht so umgetrieben. Was ich wirklich interessant fand, war die Abwehr des Diskurses durch Frauen, die suggerierten, es ginge bei dieser Debatte um eine Einschränkung von Lust und eine Einschränkung von Sexualität. Da habe ich dann gedacht: Jetzt lohnt es sich doch, noch etwas dazu zu schreiben.“

Warum hat #metoo aus Ihrer Sicht so provoziert und wurde so stark abgewehrt?

„Was glauben Sie denn?“

Eine These, die ich habe, ist dass #metoo die Machtverhältnisse von Sprechenden und Zuhörenden einmal verdreht hat. Es war so laut und massiv, dass man nicht weghören konnte und andere in die Position der Zuhörenden gezwungen wurden, das hat auch irritiert.

„Das ist ein guter Punkt. Zum einen glaube ich, dass dadurch, dass so viel abgestritten wurde und es auch um justiziable Fälle ging, besonders viel konkret beschrieben werden musste um den Nachweis zu bringen, dass das wirklich geschehen ist. Die Genauigkeit will die eigene Glaubwürdigkeit stärken. Das hat oft auch Unbehagen ausgelöst: So genau wolle man es nicht wissen. Hier kreuzen sich zwei interessante Phänomene. Einerseits ein Unbehagen, das sagt: ,Das ist mir zu viel. Das ist mir zu intim. Davon möchte ich nichts wissen.‘ Da wird also Sexualität tabuisiert. Darüber möchte man grundsätzlich nichts so genau wissen. Gleichzeitig ist da ein Missverständnis: Denn wir reden hier gar nicht von Sexualität. Wir reden von Gewalt. Wir reden von Missbrauch. Und um Gewalterfahrungen zu kritisieren und auch vor Gericht zu bringen, braucht es Präzision, denn nur die kann eben auch Hinweise darauf geben, ob die Anschuldigungen wahr sind.“

Warum fühlen sich Menschen von #metoo so immens persönlich angegriffen?

„Weil sich alle angesprochen fühlen, weil alle ihr eigenes Verhalten befragen, weil alle eingebunden sind in soziale und kulturelle Praktiken und Gewohnheiten, die Frauen infantilisieren oder stigmatisieren, ihnen weniger Status, weniger Gehalt, weniger Macht, weniger Lust zugestehen. Dazu gehört dann, dass die Leute sich einzeln befragen, ob ihr eigenes Verhalten in irgendeiner Weise übergriffig sein könnte. Das haben viele als bedrohlich empfunden. Ehrlich gesagt, denke ich die ganze Zeit darüber nach, ob etwas, das ich tue, falsch verstanden werden kann oder übergriffig wirkt. Da kann ich wirklich nur sagen: ,Welcome to the club!‘ Und das ist ja genau der Sinn der Sache: dass man einen öffentlichen Diskurs über das Miteinander, über asymmetrische Machtverhältnisse und Missbrauch führen kann.“

Ich hatte das Gefühl, die Debatte wäre eingesperrt worden in den Grenzen der Strafbarkeit.

„Absolut. Das ist einerseits für diese einzelnen Fälle von Nötigung und Vergewaltigung richtig gewesen. Dafür braucht es juristische Instrumente. Und sicherlich wollten viele auch die Debatte auf diese Fälle beschränken, wollten unbedingt vermeiden, auch über Strukturen zu sprechen, wollten unbedingt vermeiden, über Bilder von Geschlechtlichkeit, von Körperlichkeit, von Sexualität, von Weiblichkeit, von Männlichkeit, von trans zu sprechen. Da konnte man manchmal auch lachend vorm Fernseher sitzen und zugucken, wie unbedingt es bei diesen Einzelfällen bleiben sollte. Es sollte auf gar keinen Fall eine gesellschaftliche Diskussion werden, die darüber hinausgeht.“

Sie möchten anregen, über Gewalt sprechen zu lernen. Warum ist das so schwierig?

„Fangen wir mal damit an, wie Eltern mit ihren Kindern über Gefahren zu sprechen versuchen, auf die sie als liebende Eltern vorbereiten wollen. Ob es sich dabei um sexuellen Missbrauch handelt oder um andere Schmerzen oder Kränkungen. Ich weiß auch von Freund*innen, die als People of Color mit der Frage hadern, ob und wie sie ihre Kinder davor warnen, dass sie rassistisch verletzt und ausgrenzt werden könnten. Das ist eine ausgesprochen ambivalente, wahnsinnig schwierige Situation. Natürlich möchte man, dass das eigene Kind strahlend und mutig in die Welt geht und sich alles zutraut. Man möchte dem eigenen Kind nicht schon die Potenzialität dieser Gewalt einschreiben. Das Risiko ist, dass dem Kind schon etwas genommen wird, bevor ihm etwas genommen wird. Andererseits: Es nicht darauf vorzubereiten und dann das Kind dem Schock einer solchen Erfahrung auszusetzen und es damit allein zu lassen – das ist eben auch verkehrt. Was mich interessiert ist, was eigentlich darauf folgt, dass häusliche Gewalt, sexualisierte Gewalt oder Missbrauch in diesen Warnungen nie ausgesprochen werden. Für mich ist das Beschädigende daran, dass man zwar irgendwie sagt, ,Lass Dich nicht ansprechen. Da kann etwas passieren‘, aber was genau da passieren kann, wird ausgelassen. Und diese Auslassung macht es später, wenn jemandem etwas widerfahren ist, umso schwerer, es auszusprechen, zu kritisieren, anzuklagen. Weil das Verbrechen selbst, weil die Gewalt bis dahin beschwiegen wurde. Das ist das Fatale: dass die Tabuisierung die Last des Sprechens dem Opfer zuschreibt und immer suggeriert: ,Darüber spricht man nicht‘. Dieses: ,Darüber spricht man nicht‘ beschützt die Täter. Das war mir wirklich eines der Anliegen für diesen Text, dass man die Scham wieder dahin schiebt, wohin sie gehört. Die Menschen, die geschlagen wurden, die missbraucht wurden, die vergewaltigt wurden, die haben sich nicht zu schämen. Die anderen haben sich zu schämen. Dazu muss man aber das Sprechen über diese Erfahrungen anders gestalten.“

In dem Satz „Ich wurde vergewaltigt“ fehlt zum Beispiel der Täter.

„Das ist das eine, dass man schon deutlich macht in der Art der Erzählung, wer was getan hat. Das Ergebnis darf aber nicht sein, dass sich Opfer von sexualisierter Gewalt jetzt hyperkritisch prüfen, ob sie die richtige Sprache finden. Es ist schon eine Leistung, überhaupt solche Erfahrungen in Worte zu fassen. Aus meiner Arbeit in Krisenregionen und den vielen Begegnungen mit traumatisierten Menschen weiß ich, dass sich solche Erlebnisse oft nur gebrochen erzählen lassen, in Kreisbewegungen, nicht unbedingt linear. Diese Erzählungen klingen anders, haben oft eine andere Struktur als das, was wir gewohnt sind, zu hören. Das hat mit der Natur der Gewalterfahrung selbst zu tun. Deswegen wäre es fatal, Menschen, die so etwas ertragen mussten und überlebt haben, auch noch die Bürde der glatten, eleganten Formulierung aufzuerlegen. Die müssen gar nichts. Wir müssen als Gesellschaft darüber nachdenken, welche Form von Tabuisierung wen schützt und es wem besonders schwer macht, darüber zu sprechen.“

Sie kritisieren, dass der der Diskurs gerade nicht alle Menschen ansprechen würde. Was fehlt Ihnen?

„Es war sicherlich eine der Schwächen und eine der wirklichen Versäumnisse, dass im öffentlichen Diskurs vornehmlich bestimmte Milieus und bestimmte Frauen zum Sprechen kamen. Das ist kein Vorwurf an diese Frauen, sondern das ist ein Vorwurf, dass man noch genauer in andere Lebensbereiche, in andere Branchen hätte reinschauen müssen. Ich habe vieles auch erst bei der Recherche zu diesem Buch gelernt. Ich bin zu Sozialarbeiter*innen gegangen, zu Anwält*innen und habe mir Geschichten aus ihrer Erfahrungswelt erzählen lassen. Dass es so eine große Dunkelziffer gibt von Missbrauch in Pflegeeinrichtungen, das wusste ich beispielsweise nicht. Daher sollte man das Gespräch sozial ausweiten und sich andere Branchen, andere Kontexte angucken. So kann man sehen, wie viel schwerer es für Menschen in noch prekäreren, noch marginalisierteren Lebensumständen ist, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Trans Personen sind eine andere wichtige Kategorie, bei der wir wissen, wie stark trans Personen noch einmal anders verwundbar sind, wie wenig Schutz und wie wenige Unterkünfte es für sie gibt. Ein weiterer Punkt ist auch, dass man Männer in den Blick nehmen muss als Opfer von sexualisierter Gewalt. Aber auch, das war mein Eindruck speziell nach den Veranstaltungen in der Schaubühne, dass eine ältere Generation einen großen Wunsch hat auch über ihre Erfahrungen nachzudenken oder zu sprechen. Ältere Menschen haben viel weniger Gelegenheit oder sind mitunter nicht so geübt in dem Sprechen darüber. Hinzu kommt vielleicht auch, dass bestimmte Formen von politischem Diskurs so abgehoben und selbstgewiss daherkommen, dass sie auch nicht für jede*n einfach zugänglich sind oder sich jede*r traut, sich da als anschlussfähig zu denken.“

Wie öffnet man diese Diskurse?

„Ich habe da auch keine Lösung und natürlich ist ein Theater immer noch ein Ort mit einer hohen Schwelle. Aber für mich ist die Frage des Genres sehr wichtig und die Frage, wie sehr wir darüber nachdenken, ob Diskussionen anschlussfähig sind für andere Generationen. Schon bei ,Wie wir begehren‘ hatte ich wirklich überraschende Reaktionen von sehr viel älteren Leser*innen als ich angenommen hatte, die sich eingeladen fühlten, dieses Buch zu lesen und sich diese Fragen zu stellen. Jetzt bei der Schaubühne habe ich bemerkt, da kommen manche zum zweiten und zum dritten Mal und bringen ihre Eltern mit oder bringen ihre Partner*innen mit. Diese Öffnungen sind mir wichtig und ich denke viel darüber nach, welche Instrumente, welche Sprache, welche Orte sie erlauben oder befördern.“

Was könnte das Sprechen zwischen verschiedenen Generationen bewirken?

„Wenn wir daran denken, wie unsere Mütter und Großmütter erzogen worden sind, in welcher Zeit sie aufgewachsen sind, mit welchen Vorstellungen von Körperlichkeit und Intimität und natürlich auch mit welchen Frauenbildern, würden wir sagen: Es ist heute tatsächlich anders. Es hat auch etwas mit der Art wie wir sprechen zu tun. Ich würde nicht sagen, dass ich mich deshalb zurückhalten und die Tabus der vorherigen Generation übernehmen muss. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass manches an dem Diskurs über Macht und Sexualität erstmal auch andere erschreckt oder ihnen unpassend erscheint. Doch ich versuche, auch mich selbst zur Disposition zu stellen und bei mir selbst nach den Momenten des Unsicherseins, des Versagens zu fragen und so, hoffe ich, lässt man andere leichter hinein mit ihren Erfahrungen und ihren Unsicherheiten.“

Das heißt, der Diskurs über #metoo sollte gerade mehr Unsicherheit, mehr Verletzlichkeit zulassen?

„Ja, da gab es mitunter auch so eine Härte im Diskurs. Da gab es Auftritte von Frauen, die mit erstaunlicher Selbstzufriedenheit herumposaunten, sie verstünden gar nicht, was das Problem wäre. Wenn irgendjemand sie belästigen würde, dann könnten sie sich doch einfach wehren, einfach ,nein‘ sagen. Da wurden Machtfragen komplett ausgeblendet, denn es gibt eben Hierarchien, es gibt unterschiedliche Privilegien, es gibt unterschiedliche Statusformen, die eben auch drohen und bedrohen können. Aber es gibt auch unterschiedliche soziale, kulturelle, übrigens auch physische Kompetenzen, die es der einen leichter und der anderen schwerer machen, sich zu wehren. Die rücksichtslose Härte, mit der da unterstellt wurde, alle müssten gleich angstfrei, gleich wortgewandt, gleich kraftvoll genug sein – die hat mich wirklich befremdet. Von mir würden Leute vermutlich denken: Die ist einigermaßen selbstbewusst, artikuliert, mit einer ganzen Reihe von Privilegien und mit einem bestimmten Status ausgestattet. Und trotzdem bin ich nicht permanent in der Lage, gut zu reagieren oder mich zur Wehr zu setzen.“

Gibt es trotz der Härte, trotz fehlender Reflexion den Raum dafür, über das „Ja“ zu Sexualität sprechen?

„Ja, unbedingt! Zum einen, weil man diese Zuschreibung wirklich abwehren muss, dass Kritik an sexualisierter Gewalt lustfeindlich sei. Da muss man sagen: ,Nee, Kinders. So einfach läuft das nicht.‘ Bei dem #metoo-Diskurs ging es um Abwehr von Missbrauch und Gewalt. Da ging es um Lust auf Sexualität! Das andere ist, dass es grundsätzlich elementar ist, über Lust auf Sexualität nachzudenken. Ich glaube zwar nicht, dass man alles an der Erotik oder in den erotischen Situationen versprachlichen müsste. Aber es geht auch darum, dass wir zurzeit einen politischen Backlash erleben, der zutiefst antifeministisch ist. Der die Rechte von Frauen, aber auch von LGBTIQ wieder einschränken will. Man kann dazu ins Wahlprogramm der AfD schauen oder auch in die Liste der Vokabeln, deren Verwendung Donald Trump für die US-Gesundheitsbehörde einschränken wollte. Dazu gehören Begriffe wie ,Fötus‘ und ,transgender‘. Man muss sich nur die Rhetorik oder Politik von Bolsanaro in Brasilien anschauen, die massiv transfeindlich ist. Wir erleben eine Form von chauvinistischem, autoritärem, anti-aufklärerischem, anti-modernem Diskurs. Anstatt dem immer hinterherzuhecheln und in der Defensive zu sein, was man jetzt wieder alles erklären sollte, sollten wir lieber wieder offensiv über Sexualität, über unterschiedliche Formen von Sexualität, über Lust sprechen und dafür auch Räume schaffen, öffentliche und nicht-öffentliche. Es ist ja schön, wenn die ,Ehe für alle‘ jetzt endlich legalisiert wurde, aber es geht schon auch darum, Sexualität und Lust außerhalb der Ehe zu verteidigen. Daher war es mir wichtig, jetzt auch über Sexualität zu sprechen.“

Welche Art von Räumen könnte das sein?

„Es gibt unterschiedliche Sorten von Räumen: Wir haben mediale Räume in den klassischen Medien. Da sind in den letzten Jahren politische Akteur*innen hineingekommen und auch hofiert worden, mit obszöner Lust am Tabubruch. Die sind mit einem Übermaß an Sichtbarkeit ausgestattet worden und haben die Schwellen des Sagbaren im öffentlichen Raum verschoben: rassistische Ressentiments, revisionistische Geschichtsklitterung, nationalistischer Trash – all das ist ausgestellt und normalisiert worden. Die Redaktionen, die das zugelassen haben, wollten das zirzensische Spektakel dem gemeinsamen Erörtern vorziehen – um jetzt auf einmal den rechten Populismus zu thematisieren, den sie selbst gezüchtet haben. Insofern fallen diese medialen Orte aus. Da gibt es keine offenen, nachdenklichen Gespräche mehr. Ich finde es gibt sehr wenige Räume, in denen über politische, soziale, ökonomische, ökologische Fragen mit so einem Moment von Unsicherheit und Noch-Nicht-Wissen nachgedacht werden kann. Ein anderes Phänomen sind die digitalen Räume wie Facebook oder Twitter. Das sind leider auch nicht mehr wirklich die Räume, in denen Überzeugungen erstmal entwickelt werden können. Das sind Räume für Leute, die schon Überzeugungen haben. Mein Gefühl ist, dass es eher analoge Räume sind, die wir brauchen, dass wir wieder in Salons wie im 18. Jahrhundert entdecken müssen, dass wir uns heute Orte suchen müssen, ob es Buchhandlungen sind, Clubs, Wohnzimmer, Theater, wo wir uns tatsächlich begegnen, Orte, in die wir diese Unsicherheiten mitbringen dürfen. Dort kann man dann vielleicht auch politisch progressivere Ideen und auch Utopien entwickeln als die Ideen, zu denen man gerade immer nur in eine Ecke gedrängt im öffentlichen Diskurs Stellung nehmen kann.“

Danke für das Gespräch.


Carolin Emckes neues Buch „Ja heißt ja und …“ ist gerade im S. Fischer Verlag erschienen. 112 Seiten, Hardcover 15 Euro, E-Book 12,99 Euro.

Ihre Lecture Performance wird als Gastspiel in einigen Städten in Deutschland und der Schweiz zu sehen sein. Diese Termine stehen bislang fest:

Freitag, 7.6.19 – Schauspielhaus Zürich
Dienstag, 11.6.19 – Schauspiel Stuttgart
Montag, 17.6.19 – Thalia Theater Hamburg
Mittwoch, 19.6.19 – Schauspiel Frankfurt
Donnerstag, 20.6.19 – Schauspielhaus Bochum
Montag, 24.6.19 – Münchner Kammerspiele
Mittwoch, 26.6.19 – Schaubühne Berlin
Donnerstag, 27.6.19 – Schaubühne Berlin
Freitag, 28.6.19 – Schaubühne Berlin
Sonntag, 30.6.19 – Schauspiel Köln
Mittwoch, 10.7.19 – Münchner Kammerspiele

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