Kurz vor Weihnachten 2016 erlitt der kleine Sohn unserer Autorin schwere Verbrühungen. Sophie-Theres erzählt, wie ein einziger Moment alles veränderte und was ihrer Familie dabei geholfen hat, mit dem Schicksalsschlag umzugehen.
So etwas erwischt dich eiskalt
Das war einer dieser Momente, dieser kurze Augenblick, ein Wimpernschlag, der ein Leben komplett verändert. In eine andere Richtung lenkt. Große Ereignisse, wirklich große – positive wie negative – kündigen sich niemals lange zuvor an. Sie passieren. Von jetzt auf gleich. Sie erwischen einen eiskalt. Völlig unvorbereitet. Und reißen einen aus dem Leben. Werfen einen aus der mehr oder weniger geregelten Bahn.
Es geschah vor einem Jahr, kurz vor Weihnachten, am 17. Dezember 2016. Die engste Familie war schon angereist und freute sich, endlich wieder beisammen zu sein und mit dem jungen Nachwuchs gemeinsam Zeit zu verbringen. Draußen wurde gegrillt, drinnen geplaudert, gespielt – und Tee gekocht. Alles ganz normal, wie schon unzählige Male zuvor auch.
Der Wasserkocher brodelte und der Tee wurde frisch aufgegossen. Plötzlich platzte die Teekaraffe und zersprang in zwei Teile. Das kochend-heiße Wasser sprudelte wie ein Wasserfall aus dem Gefäß und ergoss sich auf den Boden. Schon winzige Tröpfchen verursachten unangenehme Schmerzen, ich springe instinktiv zur Seite und erblicke dabei im Augenwinkel meinen kleinen Sohn Nelson, gerade ein Jahr alt geworden. Er steht da auf dem Fußboden, regungslos. Um ihn herum eine Pfütze.
Ehe ich registriere, was da gerade passiert ist, nehme ich ihn sofort hoch auf den Arm. Und erst als er sich mit der Hand Hals und Gesicht reibt, lässt sich erahnen, was hier gerade geschehen war. Die Haut reibt sich ab wie weiche Butter. Das rohe, helle Fleisch wird sichtbar. Sofort wird die durchnässte Kleidung ausgezogen und mit Wasser gekühlt. Parallel die 112 gewählt. Notärzte und Rettungswagen treffen innerhalb nur weniger Minuten ein, versorgen die großflächigen Verbrühungen und bereiten alles für den Abtransport ins nahegelegene Unfallkrankenhaus Berlin (UKB) vor. Eine der besten und fortschrittlichsten Kliniken in Europa bei schweren Brandverletzungen.
Die Fahrt im Rettungswagen scheint endlos. Draußen ist es dunkel, die Landschaft, die Bäume und Häuser ziehen an einem vorbei. Was ist hier gerade geschehen? Und wie konnte das geschehen? Oder ist alles nur ein fürchterlicher Traum? Der Blick senkt sich wieder zum eigenen Kind, das da neben einem auf der Trage liegt. Mit geschlossenen Augen, an Schläuchen festgemacht, eingehüllt in Decken und eine goldgelbe Wärmefolie. Nelson bekommt von all dem nichts mehr mit. Die Schmerzmittel fließen in seine Venen.
Die Versorgung im UKB dauert und dauert. Minuten kommen einem vor wie Stunden. Nelson müssen wir mit den Ärzten alleine lassen – sicher auch zu unserem eigenen Schutz. Nach rund zwei Stunden hat das Warten ein Ende, Nelson wird mir schlafend in die Arme gelegt, regungslos, wie eine Mumie liegt er da. An die ersten Nächte erinnere ich mich heute kaum noch. Sie waren schlaflos, das ist das einzige, was ich noch weiß. Wir standen unter Schock. Dachten und lebten nur für den Moment. Von einem Verbandswechsel unter Narkose bis zum nächsten. Schritt für Schritt. Weiter kommt man nicht zum Nachdenken.
Leben für den Moment: Sophie-Theres und ihr Sohn im Krankenhaus. (Bild: Joachim Beckert)
Die schweren Schicksale scheinen hier alle zu einen
Anfangs konnte uns noch keiner genau sagen, wie es weitergeht. All die quälenden Fragen blieben zunächst unbeantwortet. Was in so einer Schwebephase sehr hilft, ist die sofortige psychologische und seelsorgerische Unterstützung. Als betroffene Eltern hat man jetzt zahlreiche Fragen. Ein persönliches Gespräch hilft, über Sorgen und Ängste zu reden, Trost zu finden, neuen Mut zu fassen und erste Ungewissheiten zu klären. Das UKB hat hier ein sehr erfahrenes Expertenteam. Überhaupt ist das gesamte Ärzte- und Pflegepersonal auf der Station großartig. Man spürt den festen Zusammenhalt und die Empathie, trotz professioneller Distanz. Die schweren Schicksale scheinen es zu sein, die hier am UKB alle einen – Ärzte wie Patienten. Nelson fühlt sich hier schnell wohl, das Krankenhaus wird sein, wird unser gemeinsamer Abenteuerspielplatz. Unser Zimmer ist voll mit Spielsachen, Kuscheltieren und vielen, vielen Büchern. Es soll sein fast wie Zuhause.
Außer ihm sind noch fünf weitere Kleinkinder auf der schwerverbrannten Station, ansonsten nur Erwachsene. Die Kinder haben alle sehr ähnliche Verbrennungen und sind zwischen ein und vier Jahren alt – Jungen wie Mädchen gleichermaßen. Nach Angaben von Paulinchen e.V., der Initiative für brandverletzte Kinder, werden in Deutschland jährlich ungefähr 30.000 Kinder wegen Verbrennungen und Verbrühungen ärztlich behandelt, knapp Sechstausend davon sind so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Viele dieser schwerverletzten Kinder behalten lebenslange Narben zurück.
„Bei uns am UKB werden im Jahr durchschnittlich 120 brandverletzte Kinder behandelt“, erzählt Dr. Bernd Hartmann, Chefarzt des Zentrums für Schwerbrandverletzte mit plastischer Chirurgie am Unfallkrankenhaus. „Beim Kleinkind, also bei Ein- bis Vierjährigen, ist die häufigste Unfallursache die Verbrühung, meistens durch heruntergezogene Töpfe, Wasserkocher oder sonstige Gefäße, durch kaputte Wärmflaschen oder zu heiße Kirschkernkissen“, so Hartmann weiter. Betroffen seien dann meistens Brust, Schultergürtel und das Gesicht. „Verbrühungen kommen das ganze Jahr über vor, allerdings wird jetzt in der kalten Jahreszeit mehr Heißes getrunken, so dass die Wahrscheinlichkeit von Verbrühungen in den Wintermonaten steigt“, erklärt Hartmann. Auch die Kontaktverbrennungen an heißen Flächen sind im Winter häufiger, da beispielsweise die Kaminöfen in dieser Zeit mehr in Benutzung sind. Und natürlich auch die traditionellen Kerzen jetzt in der Adventszeit sind eine Gefahrenquelle – „man muss also immer aufmerksam sein und zuerst an die Kindersicherheit denken“, bekräftigt Hartmann.
Unfälle passieren
Heiße Flüssigkeiten können bereits ab einer Temperatur von 52 Grad Celsius die Haut eines Menschen schädigen. Je nach Tiefe der Verletzung spricht man von Verbrennungen ersten, zweiten oder dritten Grades – der dritte Grad ist der schwerste. „Bei schweren, komplizierten Verbrennungsunfällen greift eine operative Therapie und die Kinder müssen rund drei Wochen bei uns stationär behandelt werden, in leichteren Fällen nur eine gute Woche“, so Hartmann. Bei Nelson sind die Verbrennungen an Hals, Schulter, Brust, Bauch und an den Armen, der Schweregrad liegt bei 2b bis 3. Die betroffenen Stellen sollen operativ mit Spalthaut vom Kopf transplantiert werden, rund drei Wochen Klinikaufenthalt planen wir ein, mit kurzen Unterbrechungen an Weihnachten und Neujahr.
Neben den Verbrühungen kommen beim Kleinkind das ganze Jahr über häufig auch Kontaktverbrennungen durch Bügeleisen, Herdplatten oder heiße Lampen vor. Feuer, Strom und Säure sind zudem große Gefahrenquellen. „Fast alle kindlichen Verbrennungen werden durch Unachtsamkeit verursacht, meist am Wochenende“, heißt es auf der Webseite von Burncare. Natürlich ist Achtsamkeit im Alltag das Allerwichtigste, vor allem wenn man Kleinkinder Zuhause hat. Jedoch darf man keinen Menschen per se vorverurteilen. Unfälle passieren. Dafür kann niemand etwas. Das unterstreicht auch Bernd Hartmann, man dürfe niemals Schuldzuweisungen geben. Es bringt zudem ja auch gar nichts, da die Eltern sowieso diejenigen sind, die am meisten leiden und am liebsten alles auf sich nehmen würden. Nichts ist schwerer zu ertragen als ein Schicksal ohne Grund.
Nelson geht es an seinem zweiten Geburtstag wieder gut. (Bild: Sophie-Theres Guggenberger)
In Gedanken geht man alles wieder und wieder durch
Auch in unserem Fall hätte man nichts anders machen können. Das ist, wie vom Blitz getroffen zu werden. Natürlich fragt sich trotzdem jeder, der dabei war an dem Tag, was man hätte anders machen können. Gedanklich geht man alles wieder und wieder durch. Jedoch kommt man stets zu dem Schluss, es ist, wie es ist. Und wer weiß, wofür es am Ende gut war. Was einem ansonsten alles erspart geblieben ist, in welche Richtung das Leben sonst verlaufen wäre.
Zwei Tage nach Nelsons Unfall der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz, bei dem zwölf Menschen sterben und weitere 55 verletzt werden, zum Teil lebensgefährlich. Einige liegen auch hier bei uns im UKB. Alles scheint ins Wanken geraten zu sein, wenn die eigene Welt gerade sowieso schon in Trümmern liegt. Auch Weihnachten und der Jahreswechsel – alles zieht an uns vorbei. Das wichtigste Datum für uns ist jetzt der 2. Januar, der Tag, an dem Nelsons große Transplantation geplant ist. Spalthaut soll von seinem Kopf entnommen und gemeshed werden, also maschenartig eingeschnitten, so dass sie an Oberfläche gewinnt, um die Hautpartien anschließend bestmöglich auf die betroffenen Stellen transplantieren zu können. „Spalthauttransplantate enthalten in der Regel nur die Oberhaut und sind dünner als Vollhauttransplantate. Der Vorteil: die durch die Entnahme entstandenen Wundflächen verheilen innerhalb von nur zwei bis drei Wochen wieder komplett, und das Spendeareal könnte sogar mehrmals verwendet werden“, erklärt Dr. Bernd Hartmann.
Protokollartig hielt ich damals die Zeit um die große Operation mit Transplantation fest:
01.01.: Wir sind positiv gestimmt und freuen uns jetzt auf morgenfrüh, wenn es endlich losgeht bei Nelson. Die Transplantation ist ja ein weiterer großer Schritt in Richtung Heilung. Und wir wissen, in den besten Händen zu sein – gemeinsam mit unserer Familie, engen Freunden und den Ärzten schaffen wir das alles. Morgenfrüh um 7.45 Uhr müssen wir wieder im UKB sein, die Operation soll ca. drei Stunden dauern.
02.01.: Nach über vier Stunden konnten wir Nelson gerade aus dem Aufwachraum abholen. Er hat die Operation und die Narkose gut überstanden. Das erste Feedback des operierenden Oberarztes zum Verlauf der OP war positiv. Am Freitag wird zum ersten Mal der Verband gewechselt, und erst dann lässt sich sagen, ob die Transplantate anwachsen und wie der weitere Verlauf sein wird. Wir sind erst einmal froh, dass er wieder bei uns ist.
6.01.: Gute Nachrichten: Nelsons Transplantate sind so gut angewachsen, dass wir schon am Nachmittag nach Hause durften. Eigentlich waren ja rund zehn Tage Klinikaufenthalt geplant. Wir sind so froh endlich Zuhause zu sein. Am Dienstagmorgen müssen wir wieder in die Klinik zum Verbandswechsel und zur Kontrolle. Aber alles entwickelt sich sehr gut. Die letzten drei Wochen waren eine harte Prüfung, und wir sind unendlich froh, dass wir es bis hier hin gut geschafft haben – alle gemeinsam.
11.01.: Heute durfte Nelson seinen Verband endgültig ablegen. Nach 26 Tagen, was für ein Moment. Für uns wurde erst jetzt das ganze Ausmaß der Verletzungen zum ersten Mal sichtbar. Die Ärztin, die auch die meisten Behandlungen und Verbandswechsel begleitet hatte, befreite Nelson von seinen engen Wundverbänden und war mit dem Heilungsverlauf sehr zufrieden. Über drei Wochen nach dem Unfall sind die Transplantate gut angewachsen und die restlichen Wunden schon recht ordentlich verheilt. Im Laufe des Tages lösten sich fast alle Krusten wie von selbst und die junge Haut begann sich an die normalen Bedingungen zu gewöhnen. Auch das erste Mal Baden nach über drei Wochen klappte prima. Glücklicherweise hält sich der Juckreiz bislang in Grenzen. Heute wurde Nelson zudem präzise vermessen, damit die Kompressionskleidung maßgeschneidert werden kann. Ja, Nelson geht es gut; und wir freuen uns, dass sich alles so positiv entwickelt. Doch all das schmerzt natürlich schon sehr, und der ungewohnte Anblick tut in Herz und Seele weh. Die tiefen Spuren des Unfalls am gesamten Körper, der Kopf kahlrasiert, die linke Kopfhälfte noch auffällig gerötet und stellenweise verkrustet, dort, wo Spalthaut für die Transplantate entnommen wurde. Nelson wirkt reifer und älter, als habe er mit seinem Verband auch einen Teil seiner Unbeschwertheit abgelegt.
15.01.: Alles entwickelt sich weiterhin sehr gut, das hätten wir Anfangs niemals zu hoffen gewagt. Der Unfall, so nah er gedanklich doch immer wieder einmal ist, kommt uns doch weit, weit entfernt vor. Es fühlt sich an, als seien seither schon viele Monate vergangen. Eine sehr intensive Zeit. Noch immer. Jetzt, wo wir die Wunden so offen sehen, sie täglich beim Einreiben und Pflegen spüren, das tut schon sehr weh im Herzen. Aber Nelson ist vergnügt und fröhlich wie immer. Von daher sind die traurigen, die schmerzlichen Momente auch genauso schnell verflogen. Glücksgefühle und tiefe Dankbarkeit rücken wieder in den Vordergrund. Es hätte alles auch viel schlimmer sein können. Kommende Woche – wenn bis dahin alle Wunden bei Nelson verheilt sind, und er seine Kompressionskleidung angenommen hat – werden wir mit ihm auch wieder in die Kita gehen, und ihn nach und nach an den Alltag gewöhnen.
17.01.: Seit heute, genau einen Monat nach seinem Unfall, ist Nelson wieder in der Kita. Unglaublich. Und er hat sich so gefreut. All die Strapazen der vergangenen Wochen merkt man ihm nicht an, das ist wirklich erstaunlich. Da verspürt man große Dankbarkeit – auch mit unserer Kita Pfiffikus in so guten Händen zu sein. Den Alltag so bald als möglich wieder einkehren zu lassen, das ist jetzt für uns alle das allerwichtigste. Zurück in den Kita- und Arbeitsalltag, um nicht in Selbstmitleid und Traurigkeitswellen unter zu gehen. Familie, enge Freunde und Kollegen geben hier Halt und sind eine unverzichtbare Stütze.
20.01.: Ein dünnes, extrem enges langärmeliges Hemdchen und eine große Halskrause muss Nelson jetzt rund zwei Jahre 24/7 tragen, so verlangt es die Kompressionstherapie. Seine „Zauberrolle“ und sein „Jedijäckchen“, beides gehört jetzt zu ihm, sie sind zu seiner zweiten Haut geworden. Und er macht alles so toll mit. Gewiss hilft es, dass er noch so jung ist; und später wird er sich nicht mehr daran erinnern. Nelson geht es ansonsten sehr gut. Er ist fröhlich, wissbegierig und generell sehr weit fortgeschritten in seiner Entwicklung. Er liebt es, wieder in die Kita zu gehen. Ja, der Unfall hat bei ihm (scheinbar) keinerlei seelische oder sonstige körperliche Spuren hinterlassen, was für ein Glück!
Kompressionstherapie so früh wie möglich
Nach dieser anfänglichen Akutphase, beginnt die Langzeitbehandlung: die intensive Nachsorge mit Kompressionstherapie, und zwar so früh wie möglich, also bereits in der Heilungsphase. In den Leitlinien der Verbrennungsbehandlung hat sie ihren festen Platz. Innerhalb der ersten 18 bis 24 Monate laufen in der Verbrennungsnarbe noch Veränderungen ab. Überschüssige Bindegewebsbildungen kommen häufig vor. In dieser Zeit verhindert der ständige Druck durch die Kompressionskleidung daher das Wuchern und Hartwerden der Brandnarbe. Auch der Juckreiz, unter dem Brandverletzte stark leiden, wird durch den permanenten Druck vermindert.
Die meisten Patienten dürfen die Klinik schon bald wieder verlassen, da die empfindliche Haut durch die Kompressionsbekleidung geschützt ist. Die nach Maß individuell angefertigte Kleidung besteht aus einem quer und längs dehnbaren Gummigewebe, das sehr dünn und luftdurchlässig ist. Sie muss in der Regel zwei Jahre lang Tag und Nacht getragen werden – auch beim Spielen und Schwimmen. Kompressionsfreie Zeit ist lediglich morgens, wenn die Narben eingecremt und massiert werden und beim Duschen oder Baden. Durch den ständigen Druck wird die Haut in der Vernarbungszeit glatt, weich und geschmeidig.
„Nur eine rechtzeitige und konsequente Kompressionsbehandlung der Narben kann Funktion und Aussehen nachhaltig verbessern und gegebenenfalls spätere Korrekturoperationen umgehen“, weiß Gertrud Krenzer-Scheidemantel, Kompressionstherapeutin aus Würzburg. Sie muss es wissen, gilt sie doch als Koryphäe auf diesem Gebiet – vor allem für Kinder.
Man merkt schnell, dass eine Kompressionstherapie sehr individuell ist und erst im Laufe der Zeit des eigenen Erfahrens und Ausprobierens findet man den richtigen Weg. Wir haben auf unseren Bauch gehört und unserem gesunden Menschenverstand vertraut. Denn niemand kennt sein eigenes Kind so gut wie man selbst. Dementsprechend sollte man sich auch für eine individuelle Therapie entscheiden, die am besten zum Kind passt. Zwei Wege haben wir ausprobiert. Zuerst das Naheliegende hier in Berlin. Unser Gefühl sagte uns aber, dass dies noch nicht alles sein kann.
Unsere Weltveränderin: eine Kompressionstherapeutin aus Würzburg
Also traten wir auf Anraten von guten Freunden und den Experten von Paulinchen die Reise nach Würzburg an. Dort lebt und arbeitet Gertrud Krenzer-Scheidemantel, gelernte Kinderkrankenschwester und seit über 40 Jahren Fachpflegekraft für die Pflege und Nachsorge brandverletzter Kinder und Jugendlicher. Zunächst an der Kinderchirurgie der Universitätsklinik Würzburg bis sie sich vor rund 25 Jahren als Kompressionstherapeutin selbständig machte. Man spürt sofort den Unterschied. Die Routine. Die Leidenschaft. Ihre Berufung ist es, Kindern und deren Familien bestmöglich zu helfen. Jeder Handgriff sitzt.
Nelson sieht sie zum allerersten Mal, lässt jedoch alles ganz entspannt mit sich machen. Die aufwendige Vermessungsprozedur stört ihn überhaupt nicht, obwohl alles neu und fremd ist. Nelson spürt sofort, dass ihm hier jemand helfen möchte. Aus tiefstem inneren Antrieb. Pragmatisch, bodenständig, unprätentiös, sie macht einfach ihre Arbeit, wie in den vergangenen vierzig Jahren. Gertrud Krenzer-Scheidemantel ist eine dieser ganz besonderen Menschen, eine Weltveränderin im Kleinen, für die Kleinen. Durch ihre unaufdringlich sympathische Art und ihre Expertise vermag sie es, den Menschen Mut zu machen. Durchzuhalten in dieser schweren Phase, denn sie weiß, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Mit ihr wollen wir den weiteren Weg beschreiten. Und hoffentlich haben in Zukunft noch viele betroffene Kinder das Glück, von ihr betreut zu werden.
Die Blicke der anderen sind schwer zu ertragen
Für jede Verbrennung gibt es eine entsprechende Kompressionsbekleidung. So gibt es beispielsweise Ganzkörperanzüge, Jacken, Hosen, Handschuhe, Strümpfe, Halsrollen, auch „Paulinchen“-Rollen genannt, Kinnschlingen und Gesichtsmasken in verschiedenen Variationen. Nelson hat für seine Narbe am Hals einiges ausprobiert, am Ende war es die Paulinchen-Halsrolle, die ihren Zweck optimal erfüllte, eine Entwicklung von Gertrud Krenzer-Scheidemantel. Nelson bekommt eine Wechselgarnitur, alle 24 Stunden muss seine Kompressionskleidung behutsam gewaschen werden. Ohne eine spezielle Anziehhilfe wäre es unmöglich, die hautenge Kleidung anzubekommen. Alle Eltern können sicher gut nachvollziehen, wie schwierig es manchmal alleine schon ist, kleinen Kindern überhaupt irgendetwas anzuziehen. Und wenn es dann noch so hauteng ist. Hier müssen die Eltern erfinderisch sein – und vor allem durchhalten. Auch wenn das Elternherz dabei sicher immer wieder einmal schmerzt. Es lohnt sich für das ganze Leben. Bei Kindern wird alle zwei bis drei Monate kontrolliert, ob die Kleidung noch passt und ausreichend Druck ausübt, da sich die Kleinen ja noch in der Wachstumsphase befinden. So trägt Nelson momentan schon seine sechste Garnitur.
Was gerade in den ersten Wochen und Monaten sehr schwer zu ertragen ist, sind die teils mitleidigen, teils vorwurfsvollen Blicke der Anderen. Wildfremde Menschen, die einen neugierig ansprechen. Und auch nachdem bestätigt wurde, ja, der Kleine habe einen Unfall gehabt, jetzt sei aber alles wieder gut, hindern die Wissbegierigen nicht daran, weiter und weiter nachzufragen. Es ist ein sehr persönlicher, schmerzlicher Schicksalsschlag, den man nicht so nebenbei während einer Spielplatzplauderei ausführen und schon gar nicht mit Fremden teilen möchte. Doch leider scheint es manchen Menschen da an Empathie zu fehlen. Hingegen der Austausch mit Familien, die Ähnliches erleben mussten, tut sehr gut. Die Gespräche geben Zuversicht und etwas mehr Sicherheit. Sie sind wie ein Rettungsanker in einem tosenden Gefühlswirrwarr. Denn was alle hier eint, ist der Umgang mit einem schweren gemeinsamen Schicksal.
Aufklärung kann Unfälle vermeiden
„Nur wer die Gefahren kennt, kann sein Kind davor schützen“, sagt Adelheid Gottwald, Gründerin und Vorstandsvorsitzende von Paulinchen e.V.. Prävention ist ein wichtiges Anliegen von Paulinchen, um Kinder vor den folgenschweren Unfällen zu bewahren. Experten schätzen, dass sich etwa 60 Prozent aller Unfälle durch Aufklärung vermeiden lassen. Deshalb fordert Paulinchen e.V. seit mittlerweile rund 25 Jahren dazu auf, die Menschen auf Unfallgefahren aufmerksam zu machen, um durch vorbeugende Maßnahmen die Unfallzahlen zu reduzieren.
„Bei einem Verbrühungs- oder Verbrennungsunfall sollten Eltern immer zuallererst den Notarzt anrufen – 112“, so Gottwald. „Zur Schmerzlinderung können kleinere verletzte Areale als Erste-Hilfe-Maßnahme mit handwarmem Wasser gekühlt werden. Bei großflächigen Verletzungen, bei Neugeborenen und Säuglingen, sowie bei bewusstlosen Personen sollte man wegen Unterkühlungsgefahr auf die Kühlung mit Wasser jedoch verzichten“, so Gottwald weiter. Grundsätzlich ist ein Erste-Hilfe-Kurs für werdende Eltern empfehlenswert, wo man den richtigen Umgang mit (Alltags-) Unfällen, in die ein Baby oder Kleinkind involviert ist, erlernen kann. Der lässt sich prima in den ersten Wochen des Mutterschutzes absolvieren. Auf jeden Fall sollte man ihn besuchen, noch bevor das Kind da ist, und man die nötige Zeit und Muße dafür hat. Später kann es schon zu spät sein.
Was für eine Ironie des Schicksals, denke ich heute rückblickend. Vor etwa sieben Jahren, damals noch als feste Redakteurin beim Tagesspiegel, besuchte ich für den „Tagesspiegel Klinikführer“ unter anderem auch das UKB. Eine Reportage über einen Oberschenkelhalsbruch stand an und eine Tour entlang des Einlieferungsweges eines brandverletzten Menschen – wenn er mit dem Krankenwagen oder Hubschrauber angeliefert wird, über Aufzug und Gänge bis zum speziell temperierten Schockraum. Damals hätte ich mir niemals vorstellen können, dass auch ich einmal diesen Weg gehen müsste. Viel schlimmer noch – als Begleitung meines eigenen kleinen Kindes.
Ein solcher Schicksalsschlag lehrt einen Demut
Ein Albtraum, den man niemandem wünscht. Dennoch wusste ich Anfangs nicht, was hier genau auf mich, auf uns als Familie zukommen wird; und dass uns dieses einschlagende Erlebnis ein Leben lang begleiten wird. Nur ganz allmählich verblassen die Schreckensbilder, wie die Narben an Nelsons Körper. Verschwinden werden sie nie, sie werden immer sichtbar sein. Ein Leben lang. Eingebrannt in Körper und Seele. Auch die Zeit heilt manchmal nicht alle Wunden. Doch ein solcher Schicksalsschlag relativiert vieles, man besinnt sich wieder auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Situationen, die in der Vergangenheit belastend waren, bekommen eine viel geringere Bedeutung.
Die Normalität ist zurückgekommen. (Bild: Till Beckert)
Als wir so lange im Krankenhaus waren mit Nelson, haben wir uns nur nach dem Tag gesehnt, an dem alles einfach wieder gut ist. Wir alle gemeinsam Zuhause sind, Nelson irgendwo fröhlich spielt und wir alle gesund sind. Und auf einmal war dieser Tag da. Uns kam es damals vor, als lägen Jahre hinter uns. Die wohl schwerste Zeit liegt hinter uns, so viel haben wir schon gemeinsam gemeistert. Ein ganzes gemeinsames Leben liegt noch vor uns. Ein solcher Schicksalsschlag lehrt einen Demut. Dankbarkeit verspüren wir jeden Tag. Und regen uns über die kleinen Dinge, die auch einmal nicht ganz so rund laufen, nicht mehr auf.
In dieser intensiven Zeit sagte ein guter Freund einmal zu uns, dass solche Phasen Familien entweder zerbrechen oder noch stärker zusammenwachsen lassen. Letzteres scheint bei uns der Fall zu sein; so bekommt Nelson im Frühling kommenden Jahres eine kleine Schwester – was für ein riesengroßes Glück.
Der Text von Sophie-Theres Guggenberger ist zuerst im Tagesspiegel erschienen. Wir freuen uns, ihn auch hier veröffentlichen zu können.
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