Foto: Nikolas Vogt

Friederike Kempter: „Rückblickend kommen mir die 90er-Jahre wie eine Zeit der Unschuld vor“

Ein bitterböser Blick auf die Ängste und Neurosen der Gegenwart durchzieht den Film „Einsamkeit und Sex und Mitleid“. Friederike Kempter spielt darin Carla, die sich nur schwer von einem übergriffigen Exfreund lösen kann. Wir haben mit ihr über ihre Rolle gesprochen.

„Meine Figur durchlebt im Film eine Emanzipationsgeschichte“

Der Episodenfilm „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ begleitet Menschen in der Großstadt dabei, wie sie an sich und anderen verzweifeln. Sie suchen das Glück und versuchen, die Fehler ihrer Vergangenheit zu verdrängen – und das sind ganz schön viele. Mittendrin Kinder und Jugendliche, die – ob sie wollen oder nicht – Teil dieser Welt sind und ebenfalls ihren Weg finden, während Angst vor Terror, trostlose Jobs und zielloses Online-Dating den Alltag der Erwachsenen bestimmen. Unter der Regie von Lars Montag wurde der bitterböse Bestseller von Helmut Krausser nun verfilmt und startet am 4. Mai in den deutschen Kinos. Im hochkarätigen Ensemble spielt auch die Schauspielerin Friederike Kempter (u.a. bekannt aus dem Tatort Münster) mit. Wir haben mit ihr über ihre Rolle und Themen des Films gesprochen.

Ihre Figur Carla ist nicht einfach zu verstehen. Was bindet sie an ihren vermeintlichen Beschützer?

„Die Angst, auch wenn im Film unklar bleibt, was genau es ist. Carla hatte ein Erlebnis, das sie in ihrer Angst bestärkt hat, ein kleines Trauma. Und jetzt trifft sie auf jemanden, der das ausnutzt und sie manipuliert. Man sieht es im Film nicht ganz, aber wir haben uns überlegt, dass die Beziehung zwischen ihr und Thomas eigentlich schon beendet war und er ihre Freundlichkeit durch seinen Anruf ausnutzt und wieder nach ihr greift. Carla erkennt jedoch irgendwann, dass die Angst, die ihr eingeredet wird, vielleicht gar nicht so groß ist und sie sie hinter sich lassen kann.“

War es für sie schwierig, in Szenen mitzuspielen, in denen Figuren sich eindeutig rassistisch äußern?

„Ja, es hat mich Einiges gekostet, dass zu spielen. Ich musste in meine eigene, dunkelste Ecke hinabtauchen und das war richtiggehend körperlich anstrengend. Aber es geht ja nicht um mich, es geht um die Figur und ihre Geschichte und da darf ich als Schauspielerin nicht werten. Das sind die Spielregeln, es ist quasi ein geschützter, künstlicher Raum, in dem man sich während des Drehens bewegt. Es war uns wichtig, da radikal zu sein und eine Frau in der ganzen Hässlichkeit ihres armseligen Rassismus zu zeigen.“

Gibt man sich in so eine Rolle anders hinein als in eine sympathische?

„Nein, weil man nicht wertet. Das ist ganz wichtig, kein Mensch denkt ja über sich selbst, dass er unsympathisch sei. Und da ich ja mit der Figur, die ich spiele, zumindest für die Szenen, verschmelzen möchte, muss ich versuchen sie zu verstehen. Das fällt mal schwerer und mal leichter, aber der Prozess der Annäherung an eine Rolle ist immer der Gleiche.“

Der Film kontrastiert die Welt von Kindern und Jugendlichen mit der kaputten Welt der Erwachsenen. Wie beurteilen sie diese Welt als Frau in der Lebensmitte? Was können wir voneinander lernen – oder sollten sich die Jungen lieber ganz von den Erwachsenen lossagen?

„Das ist schwierig zu sagen. Ich habe gerade das Gefühl, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem jegliche Unschuld aus der Welt verschwunden ist. Als ob wir wirklich einen Punkt überschritten hätten und etwas unwiderruflich verloren gegangen ist. Ich bin 79 geboren, wenn ich jetzt die Welt anschaue, in der ich aufgewachsen bin, kommen mir die 90er-Jahre rückblickend vor wie eine Zeit der Unschuld vor. Ich habe auch das Gefühl, dass Kinder immer früher ihre Unschuld verlieren, weil sie mit dieser Welt konfrontiert werden, die so schnell und verrückt geworden ist. Wir sollten gemeinsam mit den Jungen nach dem Guten in der Welt suchen. Ich selbst bin gerade aber ziemlich ratlos, was den Zustand unserer Erde und der Menschen darauf angeht.“

Im Film gibt es einen Anger-Room, in dem frustrierte Erwachsene Möbel zertrümmern können. Gibt es etwas, über das Sie gern Wut und Stress verarbeiten?

„Wenn ich mich gedanklich verliere, ist etwas Körperliches für mich ein guter Weg, damit umzugehen. Ich habe Laufen als Neues für mich entdeckt und es hilft total.“

Kann man Einsamkeit mit Sex füllen?

„Kurzfristig bestimmt. Ich glaube das Problem ist, dass man sich danach  meistens noch einsamer fühlt. Oder man hat Glück und findet jemanden, der oder die dann nicht nur den Körper berührt sondern auch das Herz und den Verstand und die Seele. Das nennt man dann wahrscheinlich Liebe und die ist ein sehr gutes Mittel gegen Einsamkeit.“

Als Schauspielerin arbeiten Sie unregelmäßiger als jemand, der einen festen Bürojob hat. Vermissen Sie manchmal einen gleichförmigen Alltag?

„Ja, total! Die Aufgabe ist es, sich die Routine selbst zu schaffen. Ich vermisse sie und auf der anderen Seite liebe ich das Unstete und nicht zu wissen, was morgen ist. Dieses Überraschende. Zwischen den Drehs oder Theater oder Büchern muss ich mir aber einen Alltag schaffen, der relativ strukturiert ist.“

Wie geht man mit den Unsicherheiten um, die das Leben als Schauspielerin mit sich bringt?

„Vor fünf Jahren hätte ich noch gesagt: ,Eigentlich sehne ich mich nach Sicherheit.‘ Heute würde ich sagen: Nein! Ein großer Teil von mir kann damit sehr gut umgehen. Es gehört einfach zum Schauspielersein dazu, mal geht es besser, mal schlechter. Mal bekommt man mehr Rollenangebote, mal weniger, das ist ganz normal. “

Sie haben kürzlich gesagt, lieber auf die Liste der 100 schlausten Frauen gewählt worden zu sein – statt für Ihre Sexyness beurteilt zu werden. Haben Sie Hoffnung, dass Frauen noch einmal diese Bürde loswerden, dass Aussehen über allem steht, und wir für unser Können beurteilt werden?

„Sicherlich nicht, so lange vor allem Männer darüber entscheiden, wie Frauen bewertet werden. Deswegen mag ich meine Figur im Film auch, die eine Emanzipationsgeschichte durchlebt und sich irgendwann von diesem Mann lossagt und zu ihrer Stärke zurückfindet, während er klein und winselnd in der Ecke liegt. Vielleicht wird das der einzige Weg sein, um die Welt nochmal zu retten: Dass wir Frauen nach mehr Macht streben und sie bekommen und dann gut und verantwortlich ausfüllen. Und wir sollten als Frauen untereinander an den Punkt kommen, dass wir uns für unser Können, unsere Klugheit und unseren Witz feiern. Die tollen Frauen und auch Männer tun das ja schon, aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns. “

Hier seht ihr den Trailer zum Film:

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