Foto: Viet Nguyen-Kim

Mai Thi Nguyen-Kim: „Wissenschaft bedeutet Neugier und Offenheit, aber auch Skepsis und Reflexion“

Wie kann die Wissenschaft uns helfen, unseren Alltag zu verstehen – und politische Debatten produktiver zu gestalten? Die Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim will mit ihrem YouTube-Kanal jungen Menschen näherbringen, welches Potential im MINT-Bereich steckt. Im Interview spricht sie unter anderem über Karrieremöglichkeiten, Gender-Stereotype und Fake Science.

„Wir brauchen mehr wissenschaftlichen Spirit“

Eine Gesellschaft, in der Wissenschaft mehr als ein Randphänomen ist, würde eine Entwicklung anstoßen, die auch aktuellen politischen Debatten zugute kommt – davon ist Mai Thi Nguyen-Kim überzeugt. Die promovierte Chemikerin möchte vor allem junge Menschen für MINT-Themen begeistern – und so „wissenschaftlichen Spirit“ in die Welt bringen.

Seit zwei Jahren produziert sie Videos zu naturwissenschaftlichen Themen und Fragestellungen, die regelmäßig auf ihrem Youtube-Kanal „MaiLab“ erscheinen. Von Fluoriden in der Zahnpasta über Gehirndoping bis hin zu optischen Täuschungen erklärt Mai Thi, wie uns Chemie im Alltag begleitet – und wie sie unser Leben erleichtern kann. In ihren Videos geht es oft um spannende Experimente, Wissenstests und Selbstversuche. Das Format, das sie seit 2016 betreut, gehört zum Netzwerk Funk von ARD und ZDF und wurde unter anderem mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

Wir haben Mai Thi gefragt, warum es so wichtig ist, dass junge Menschen, insbesondere Mädchen, einen Zugang zu MINT-Berufen finden und wie das in der Praxis funktionieren kann. Im Gespräch erklärt sie, inwiefern sich auch Politik und Wirtschaft für die Karriere von Wissenschaftler*innen stark machen muss – dabei geht Mai Thi auch kritisch auf die aktuelle Debatte um Fake Science ein.

Wie nimmst du die Debatte um Fake Science wahr? Was muss sich deiner Meinung nach ändern, damit Forschungsergebnisse allgemein verlässlicher sind?

„,Fake Science‛ beschreibt zwei verschiedene Probleme. Problem Nummer eins: Scharlatane und Betrüger*innen, die mit erkaufter Schein-Wissenschaft Laien täuschen. Sie schaden nicht nur diesen Menschen, sondern auch der echten Wissenschaft und ihrer Glaubwürdigkeit. Problem Nummer zwei: Wissenschaftler*innen, die allein über die Anzahl ihrer Publikationen bewertet werden und unter dem Druck zu Betrüger*innen werden.

Doch wenn wir schon über Wissenschaft sprechen, sollten wir das Problem auch statistisch korrekt einordnen. In Deutschland sprechen wir von rund 1,3 Prozent des wissenschaftlichen Personals – deswegen warne ich davor, eine Vertrauenskrise heraufzubeschwören. ,Fake Science‛ hat lange nicht dieselben Dimensionen wie ,Fake News‛. Wie ich zu dem Begriff ,Fake Science‛ stehe, bespreche ich in diesem Video ausführlich. Trotzdem muss Wissenschaft an den allerhöchsten Standards gemessen werden und ich hoffe, dass der Druck der öffentlichen Debatte zu konstruktiven Lösungen führt.“

„Wenn Wissenschaftlerinnen weniger sichtbar sind, werden sich junge Mädchen weniger mit Wissenschaft identifizieren.“

Das Angebot an Wissensvideos im Internet wird immer größer. Frauen sind in der Wissenschaft allgemein, und so auch auf Youtube, nach wie vor unterpräsentiert. Was, denkst du, sind die Ursachen dafür und was möchtest du dem entgegensetzen?

„Es ist ein Teufelskreis: Wenn Wissenschaftlerinnen weniger sichtbar sind, werden sich junge Mädchen weniger mit Wissenschaft identifizieren. Das heißt aber gleichzeitig: Diesen Teufelskreis kann ich durchbrechen, wenn ich mich – für meinen kleinen Teil – sichtbar und hörbar mache. Und dasselbe gilt natürlich auch für alle anderen Wissenschaftlerinnen, die uns in der Öffentlichkeit repräsentieren. Viele Mädchen schreiben mir, dass sie durch mich ihre Liebe zur Wissenschaft entdeckt haben. Und diese Mädchen werden in ihrem Umfeld weitere Mädchen inspirieren, und in Zukunft bestimmt noch viele mehr. Das stimmt mich sehr optimistisch.“

Was können Politik und Wirtschaft tun, um Frauen bei ihrer Karriere in der Wissenschaft zu unterstützen?

„Bei einer Karriere in der Wissenschaft müssen nicht nur Frauen, sondern alle Nachwuchswissenschaftler*innen stärker unterstützt werden. Lange Abende und Wochenenden im Labor werden mit schlechter Bezahlung und befristeten Verträgen belohnt. Dabei geht es den Naturwissenschaften noch gut, in den Geistes- und Sozialwissenschaften sieht es noch düsterer aus. Die unattraktiven Rahmenbedingungen einer akademischen Karriere vertreiben leider viele exzellente Köpfe aus der Wissenschaft. Wenn wir als technologisch fortgeschrittenes Land Wert auf Wissenschaft legen, müssen wir uns auch um die Menschen kümmern, die sich der Wissenschaft verschreiben. Deswegen möchte ich in Zukunft meine Reichweite auch dazu nutzen, auf solche Missstände aufmerksam zu machen.

In der Wirtschaft können Frauen besser unterstützt werden, indem Eltern besser unterstützt werden – Väter wie Mütter. Ich bin dankbar, in Deutschland zu leben. Ich habe eine Zeit lang in den USA gelebt, meine Freunde dort können von einer Elternzeit wie in Deutschland nur träumen. Aber wir können ein Umdenken vertragen. Es sind immer noch die Frauen, die etwa deutlich länger Elternzeit nehmen – unter anderem, weil Männern hierfür weniger Verständnis entgegengebracht wird. Männern sollte nicht nur auf dem Papier, sondern auch in unseren Unternehmenskulturen genauso viel Elternzeit zustehen wie Frauen. Die Vaterrolle sollte in unseren Köpfen genauso wichtig sein wie die Mutterrolle. Solange wir hier nicht umdenken, bleibt die Last des Karriere-Kind-Dilemmas ein Frauenproblem.“

„Solange eine Karriere in der Wissenschaft nur schwer mit Familienplanung vereinbar ist, wird die Wissenschaft viele exzellente Frauen verlieren.“

Wenn nun alle Mädchen MINT-Berufe ergreifen, wie es ihnen derzeit geraten wird, was würde passieren?

„Als früher alle Wissenschaftler Männer waren, schlummerten in den Köpfen vieler Mädchen und Frauen die Keime für geniale Ideen und Technologien, von denen die Menschheit niemals erfahren und profitieren sollte. Wenn wir nur Jungs für MINT begeistern, verschenken wir das Potential von 50 Prozent der Menschheit. Ob Informatiker*in oder Erzieher*in – die meisten Berufe leiden unter Gender-Stereotypen. Überall verschenktes Potential.

Aber ich habe eigentlich nicht das Gefühl, dass Mädchen sich heute nicht für MINT interessieren. Ich finde, hier hat sich sehr viel getan. In manchen Fächern gibt es sogar mehr weibliche Studienanfänger*innen als männliche. Doch eine Professur verfolgen nach wie vor deutlich mehr Männer. Solange eine Karriere in der Wissenschaft nur schwer mit Familienplanung vereinbar ist, wird die Wissenschaft viele exzellente Frauen verlieren.“

Mai-Thi erreicht mit ihren Videos vor allem junge Menschen. Quelle: Viet Nguyen-Kim

Welche Ziele verfolgst du mit MaiLab, was willst du aber vielleicht bewusst auch nicht erreichen?

„Es macht mich stolz, wenn MaiLab als verlässliche Quelle für Wissenschaft gesehen wird. Aber ich möchte nicht, dass Menschen mir blind vertrauen. Ich möchte keinen Personenkult um mich, sondern mündige, reflektierte Zuschauer*innen. Wenn Leute Fans sind, sollen sie das wegen der Inhalte sein. Ich möchte meine Zuschauer*innen aufklären, weil ich an sie glaube. Unter jedem Video beweisen sie mir, wie neugierig, offen, intelligent und konstruktiv sie sind. Meine Zuschauer*innen sind meine größte Motivation.

Oft schreiben mir junge Menschen, dass meine Videos sie so inspiriert haben, dass sie zum Beispiel eine Ausbildung zur Laborantin oder ein Chemiestudium beginnen. Das macht mich natürlich sehr glücklich. Aber eigentlich ist es gar nicht mein Ziel, Menschen für ein Chemie- oder MINT-Studium zu motivieren. Vielmehr möchte ich, dass jede*r einen Zugang zu MINT und Wissenschaft haben kann, egal welche Ausbildung man hat oder vorhat.“

„Ich bin überzeugt, dass es unserer Gesellschaft als Ganzes gut tun würde, wenn sich jede*r mehr mit Wissenschaft beschäftigen würde.“

Warum findest du es wichtig, dass sich vor allem junge Menschen mehr mit wissenschaftlichen Themen beschäftigen?

„Wissenschaft bedeutet Neugier und Offenheit, aber auch Skepsis und Reflexion. Wissenschaft ist die Liebe für Fakten, ohne Angst vor Komplexität und Differenziertheit. Wissenschaft ist gewissermaßen auch Demut. Es ist das Bewusstsein nicht im Besitz der ,Wahrheit‘ zu sein und die Gewohnheit, seine eigenen Argumente immer wieder selbst zu überprüfen. Diesen wissenschaftlichen Spirit vermisse ich auch in vielen gesellschaftlichen und politischen Debatten. Ich bin überzeugt, dass es unserer Gesellschaft als Ganzes gut tun würde, wenn sich jede*r mehr mit Wissenschaft beschäftigen würde. Wir brauchen mehr wissenschaftlichen Spirit!“

Wie schaffst du es sachliche, vielleicht eher trockene Wissensthemen so zu verpacken, dass sie auf Youtube geklickt werden und Aufmerksamkeit bekommen? Fällt dir da ein Thema ein, bei welchem das besonders gut funktioniert hat?

„Ehrlich gesagt bin ich immer wieder erstaunt, was alles gut ankommt. Oft behandle ich ein Thema mit der Vermutung, dass nur ich als Nerd das richtig gut finden kann. In letzter Zeit habe ich viel Spaß an ,Deep Dives‘, wo ich besonders tief in die wissenschaftliche Materie eintauche – und jedes Mal bin ich erschlagen von der positiven Resonanz. So langsam beschleicht mich das Gefühl, dass alles, was mich persönlich fasziniert oder begeistert, auch bei den Zuschauer*innen gut ankommt. Mein Fazit bisher: Die Leute wollen es wirklich wissen! Dass Wissenschaft trocken ist, ist vielleicht einfach nur das größte Missverständnis der Menschheit.“

„Wie kann man sich nicht für Chemie interessieren? Oder zumindest dafür, wie die Natur, die Erde, das Universum oder unser Körper funktionieren?“

Was ist für dich so faszinierend an Chemie und warum ist sie so bedeutend für unser Verständnis der Natur?

„Diese Frage wird mir oft gestellt und meistens weiß ich gar nicht, wo ich da anfangen soll. Das ist für mich fast so schwer zu beantworten, wie ,Warum lebst du gerne?‘. Ich drück es mal anders aus: Wie kann man sich nicht für Chemie interessieren? Oder zumindest dafür, wie die Natur, die Erde, das Universum oder unser Körper funktionieren? Ihr könnt diesen Text gerade nur lesen, weil elektromagnetische Strahlen, auf lichtempfindliche Proteine in eurer Netzhaut fallen und elektrische Impulse und kleine Moleküle durch eure Gehirnzellen jagen. Jeder Atemzug ist doch Faszination pur, wenn man ihn naturwissenschaftlich reflektiert. Manchmal frustriert mich diese Fragen fast schon ein wenig. Aber deswegen bin ich ja auf Youtube – da beantworte ich die Frage gewissermaßen in jedem einzelnen Video.“

Bei welchen deiner Videos gab es bisher die meiste Reaktion? Welche Themen interessieren deine Abonnent*innen besonders?

„Meine größte Überraschung hatte ich bei einem eher untypischen Video, in welchem ich die Wissenschaft hinter dem Phänomen ASMR erklärte. ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response und es gibt ein ganzes Genre an ASMR-Videos auf YouTube. Menschen, die empfänglich für ASMR sind, können ein kribbelndes und entspannendes Gefühl in Kopf und Rücken empfinden. Getriggert wird das Ganze durch leise Geräusche wie Flüstern – so gibt es Youtube-Videos, wo Menschen manchmal eine Stunde lang in die Kamera flüstern, damit sich ihre Zuschauer*innen daran entspannen können. Natürlich habe ich das ganze Video flüsternd referiert, was interessanterweise die Nicht-ASMRler unter meinen Zuschauer*innen geradezu aggressiv machte. Doch dann ging das Video plötzlich durch die Decke! Ich vermute, dass die ASMR-Community darauf aufmerksam wurde, da es vielleicht das erste deutschsprachige Wissenschaftsvideo über ASMR war. Jetzt gehört es jedenfalls zu meinen am meisten geklickten Videos – wieder ein Beweis für mich, dass die Leute Wissenschaft genauso spannend finden wie ich, egal welchen Hintergrund sie haben.“

„Wir sind alle aus den gleichen Zellen aufgebaut, in denen die gleichen chemischen Reaktionen ablaufen.“

Du beschäftigst dich unter anderem auch mit Rassismus und den Vorurteilen gegenüber asiatischen Menschen. Wie begegnen dir diese Probleme in deinem Alltag und wie gehst du damit um?

„Ich persönlich nehme das meiste mit Humor. Ich kann nicht für alle Asiat*innen sprechen, aber ich muss mich meistens nur mit stereotypischen Vorurteilen herumschlagen, über die ich schon lange nur noch lachen kann. Wie in der Wissenschaft, und überall im Leben, finde ich es wichtig zu differenzieren: Rassismus kommt in vielen Abstufungen. Mir sagen fremde Menschen, dass meine Eltern bestimmt sehr streng sind. Meine türkische Freundin hat Probleme, eine neue Wohnung zu finden, da Vermieter*innen ihr Nachname nicht gefällt. Und irgendwo traut sich gerade jemand nicht auf die Straße aus Angst, aufgrund seiner Hautfarbe verprügelt zu werden. Hass hat eine ganz andere Dimension als nervige Vorurteile. Doch Vorurteile können natürlich der Keim für Hass sein. Überwinden können wir Rassismus mit Empathie – aber auch mit ein bisschen wissenschaftlichem Spirit. Unsere Hautfarbe sind doch bloß Melanine. Wir sind alle aus den gleichen Zellen aufgebaut, in denen die gleichen chemischen Reaktionen ablaufen. Wir sind alle nur Homo Sapiens.

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