Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Sara Hassan.
Über eine geschickte Selbstinszenierung
Kürzlich erzählte mir eine Kollegin eine Geschichte aus dem Europäischen Parlament: Unter den Assistentinnen ist ein Abgeordneter, aus einer progressiven Fraktion, dafür bekannt, ihnen immer wieder penetrant auf die Brust zu starren. Die Frauen versuchen also, ihm wenn möglich aus dem Weg zu gehen. Irgendwann kommt in einer Fraktionssitzung #metoo zur Sprache. Verpflichtende Kurse für Abgeordnete sollen Bewusstsein für Belästigung am Arbeitsplatz schaffen. Der erste, der sich dazu zu Wort meldet, ist ausgerechnet dieser Abgeordnete. Er betont eindringlich, wie wichtig und bereichernd die Kurse gegen Belästigung doch seien – und stilisiert sich während der Sitzung immer mehr zur vermeintlichen feministischen Speerspitze. Die Fraktion applaudiert. Die Assistentinnen schweigen.
Der eigentlich problematische Abgeordnete hat sich also durch geschickte Selbstinszenierung kurzerhand zum glühenden Feministen gemacht. Und besetzt damit eine Position, die es in Zukunft schwer macht, seinen Namen mit etwas in Verbindung zu bringen, das diesem Bild widerspricht. Zum Beispiel, dass er mit seinem Verhalten Frauen bedrängt. Der Mechanismus ist einfach: Wenn ich mich nur oft genug (hier nach Belieben einsetzen: protofeministisch, antirassistisch, solidarisch) nenne und äußere, dann bin ich das am Ende auch. Nur dass ein*e selbsternannte*r Feminist*in natürlich keine*r ist, wenn in der Realität nicht tatsächlich umgesetzt wird, wofür man zu stehen vorgibt.
Es ist nicht damit getan, mit einem Label durch die Welt zu laufen
Dieses Problem findet sich in verschiedenen Spielarten immer wieder in (vermeintlich) progressiven Kreisen: Es ist die Aktivistin, die auf Demos zwar lautstark Parolen skandiert, aber bei Ungerechtigkeiten im Alltag den Mund nicht aufbekommt. Es ist der Kollege, der lieber wegschaut, wenn jemand im Büro gedemütigt wird, aber #metoo-Artikel schneller teilt als man bis Drei zählen könnte. Es ist die Mobberin in einer feministischen Petitions-Initiative, die keinen Diskurs will und alles an sich reißt. Es ist ein genderübergreifendes Problem, das jeden unterdrückenden Machtmenschen meint, der sich Glaubwürdigkeit borgt, indem er sich solidarisch nennt. Ob man nun in NGOs, Parteien oder losen feministischen Zirkeln unterwegs ist, einen dieser Charaktere trifft man wahrscheinlich irgendwann an.
Diesen Konflikt zwischen Sein und Schein anzusprechen ist ganz besonders in jenen Umfeldern schwierig, die sich selbstverständlich als „die Guten”, also die Progressiven begreifen, weil sie überzeugt sind, ein Weltbild zu haben, das auf Gleichberechtigung und Menschenrechten fußt. Unter ihnen finden sich immer wieder Menschen, die sich ein Label anheften – Anti-Rassistin, Feministin, Verbündete – und die das, was sie einmal für sich festgelegt haben, von da an als das begreifen, was sie eben sind. Schließlich haben wir doch ausgemacht, dass wir feministisch, anti-rassistisch, progressiv, – die Guten! – sind. Darum wird das auch nicht wieder ausgepackt und ausgehandelt.
Aber wie ginge das, immer unangreifbar zu sein? Zumal sich Diskurse doch ständig weiterentwickeln, was fortlaufend neue Auseinandersetzung erfordert. Wenn man glaubt, dass es genug ist, das Label zu beanspruchen, macht man das Label kaputt – und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, die das Label aufrichtig tragen. Und wer dennoch auf Widersprüchliches hinweist, wird meist erstmal abgeschmettert, denn wer will diesen unbequemen Konflikt schon bei sich selbst erkennen? Dazu kommt, dass ja in vielen progressiven Zusammenschlüssen über allem „der größere Zweck” schwebt, dessen Erfüllung niemand gefährden darf. Dem muss man alles andere unterordnen, im Zweifel eben auch diese Widersprüche.
Sind wir was wir vorgeben zu sein?
Wer sich vom Performance-Druck innerhalb dieser Kreise beeindrucken lässt, nimmt sich keine Zeit dafür, mal einen Schritt zur Seite zu machen und zu fragen: Entspricht das gerade dem, was wir vorgeben zu sein? Wer das doch wagt, handelt sich schnell den Vorwurf ein, zu spalten. Das ist ein beliebter rhetorischer Kniff: Kritischen Stimmen Pharisäertum vorzuwerfen und sie dann damit zum Schweigen zu bringen, sie würden das große Ganze gefährden. Dieser Vorwurf wird besonders gern formuliert, wenn sich Marginalisierte in Debatten einbringen, in denen deren Stimmen bisher kein Gehör gefunden haben. Dadurch wird Diskurs automatisch pluraler und für den den privilegierten Mainstream zunehmend unangenehmer. Denn plötzlich weisen Marginalisierte auf dieses Privileg und womöglich den fadenscheinigen oder gleich heuchlerischen Umgang damit hin.
Das stellt die Verhältnisse ganz grundsätzlich infrage und weil das Angst macht, dreht man die Debatte lieber mit „Spaltung” ab. Also macht man wieder gute Miene zum bösen Spiel. Den Elefanten im Raum spüren alle, aber niemand darf ihn ansprechen, damit the Show weitergehen kann. Aber die Wahrheit ist, es geht nicht einfach so weiter: Diese Widersprüche fressen die Seele auf. Sie machen Menschen unglaubwürdig, zerfressen den Kitt, der sie zusammenhält und lassen Organisationen irgendwann erodieren.
Irgendwann einmal hat man dann wirklich Freund*innenschaften, politische Figuren, Bewegungen oder Netzwerke zerstört, weil im Hohlraum zwischen Sein und Schein die Widersprüche zu groß geworden sind. Wenn die Widersprüche erst später an die Oberfläche kommen, können solche Hohlräume auch nachträglich Erreichtes in Frage stellen oder sogar gegen eine Bewegung verwendet werden.
Practice what you preach
Ich denke, das muss nicht so sein. Es gibt ein paar Lösungsansätze. Dafür ist es wichtig, den Fokus all dieser Labels von der Performance hin zur Praxis zu verschieben. Menschen, die gern progressiv wären, sollten vor allem offen mit diesen Herausforderungen umgehen. Der US-Videoblogger und Radiomacher Jay Smooth plädiert in seinem Ted Talk dafür, dass Menschen, die Rassismus verinnerlicht haben (also alle) die Auseinandersetzung damit begreifen sollten wie tägliches Zähneputzen. Niemand würde ernsthaft argumentieren: Ich bin an sich eine saubere Person, und darum muss ich mir auch die Zähne nicht putzen. Es ist eben etwas, das man jeden Tag aufs Neue machen muss, um den Kasten sauber zu halten.
Und wenn uns jemand darauf hinweist, dass wir etwas zwischen den Zähnen stecken haben, würden wir uns bedanken und es entfernen statt aufgebracht zu rufen: „Was soll das heißen, ich hab etwas zwischen den Zähnen? Ich bin eine saubere Person!” Genau so laufen aber aktuell viele Diskussionen mit Menschen ab, die sich selbst für absolut unproblematisch halten (was für ein eigenartiger Anspruch) und dann empört reagieren, wenn sie jemand auf etwaigen Nachholbedarf hinweist. Es ist völlig in Ordnung, gewisse Dinge erst zu lernen und sich zu entwickeln.
Es ist aber nicht in Ordnung, so zu tun, als wäre man immun gegen problematische Einschläge und Verhaltensweisen oder gegen Lethargie und Stillstand. Als wüsste man ohnehin alles schon und bräuchte kein kritische Auseinandersetzung. Als dürften feministische Organisationen oder linke Aktivist*innen keine Fehler machen. Als wären die perfekt. Wer diesen Mythos aufrecht hält, lässt jede*n, die*der auch mal so nebenbei davon profitieren will, genau so perfekt erscheinen. Jede noch so problematische Person kann sich nämlich dadurch den Anstrich geben, den sie sich nicht verdient hat. Wer hingegen offen mit gewissen toten Winkeln umgeht, Fehler eingesteht, Raum für Verbesserung offenlässt, der*die kann tatsächlich wachsen und lernen – als Mensch und als Organisation.
Echte Solidarität ist nichts, was sich leicht anfühlt
Die Krux ist: Es ist nicht einfach. Was ich auch erst auf die harte Tour lernen musste, ist: Solidarität, die sich leicht anfühlt, bringt Betroffenen meist kaum etwas, sondern ist häufiger Pose und Inszenierung. Wenn sich heute jemand feministisch oder „woke” nennt, beeindruckt mich das erst mal nicht. Ich schaue ganz genau hin, was diese Person in der Praxis macht. Ob sie vielleicht auf Twitter feministische Frauen retweetet, im echten Leben aber ihre Mitarbeiter*innen mobbt, unterdrückt, belästigt oder dabei Komplizin ist.
Darum passe ich heute auf, wenn Menschen bei den einfachen Dingen zur Stelle sind, die sofortige Genugtuung bringen, sonst aber bei keiner emanzipatorischen Auseinandersetzung auftauchen. Weil es eben gerade die unangenehmen Sachen sind, denen man sich stellen muss, um patriarchale Strukturen zu überwinden. Weil es einfach ist, wegzuschauen und schwierig, aufzustehen. Einfacher, unangenehmen Debatten aus dem Weg zu gehen als sich ihnen zu stellen. Einfacher, problematische Menschen, die wir gerne haben, eine Grenzüberschreitung durchgehen zu lassen statt sie zur Verantwortung zu ziehen. Es bedeutet ständige Auseinandersetzung und benötigt immer neue Energie. Man kann sich nicht darauf ausruhen, sondern muss diese Position jeden Tag aufs Neue verteidigen.
Ja, das ist anstrengend, aber die gute Nachricht ist, gemeinsam kommt man so weiter. Wenn wir alle die Zähne putzen, merken wir auch, wenn jemand anderes das nicht tut und etwas faul ist. Wir stecken da zusammen drin.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).