Sie werden aus dem Plenarsaal geworfen oder wegen vermeintlicher Kindeswohlgefährdung angezeigt – Madeleine Henfling und Ann-Sophie Bohm sind Mütter in der Politik. Ein Gespräch über (Un-)Vereinbarkeit und Sexismus im Politikbetrieb.
Im August 2018 wurde die Politikerin Madeleine Henfling aus dem Thüringer Landtag geworfen. Der Grund: Sie hatte ihr wenige Wochen altes Baby in einer Trage dabei. Der Landtagspräsident verwies sie des Plenarsaals, Henfling dürfe nur ohne Säugling zurückkehren. Babys seien in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen.
Dass Kinder im Politikbetrieb unerwünscht sind, musste in dieses Jahr auch Ann-Sophie Bohm erfahren. Die Co-Chefin der Thüringer Grünen wurde angezeigt. Grund: Sie hatte ihr sechs Monate altes Baby bei einer Stadtratssitzung in Weimar dabei. Kindeswohlgefährdung, lautete die anonyme Anzeige.
„Man versucht offenbar, Menschen mit kleinen Kindern aus der Politik zu drängen. Die Politik braucht aber genau diese Menschen”, sagte Ann-Sophie Bohm.
Was steckt hinter diesen Anzeigen und Verweisen aus politischen Räumen von Kindern und ihren Müttern? Gehen Politik und Care-Verantwortung zusammen und was muss ich strukturell verändern, damit Vereinbarkeit nicht nur ein Schlagwort ist, sondern auch im Politikbetrieb umgesetzt wird? Darüber sprechen wir kurz vor der Bundestagswahl mit beiden Politikerinnen im Videocall.
Politik machen als Mutter – ist das anders, als Politik machen als Frau ohne Kinder?
Ann-Sophie Bohm: „Meine Mutterschaft ist ja relativ frisch, deshalb kenne ich den Unterschied. Mit der Zeit stumpft man schon etwas ab: Wenn mir auf einem Wahlplakat eine Zielscheibe auf die Stirn gesetzt wird, ist das ein doofes Gefühl, mit dem ich allerdings umgehen gehen. Aber dann hatte ich auf Instagram mal eine Diskussion, es ging um Corona und Impfungen. Irgendwann thematisierte eine Diskussionsteilnehmerin meine Elternschaft und ich habe gemerkt: Oh, okay, es geht jetzt nicht mehr nur um mich. Im Zweifel geht es dann bei Bedrohungen auch um mein Kind. Wobei ich zum Glück nicht sehr viele Drohungen erhalte, dafür bin ich momentan nicht wichtig genug.“
Madeleine Henfling: „Ich sehe da nicht unbedingt einen Zusammenhang. Öffentlichkeit, also eine öffentliche Person zu sein, kann auch ein Schutz sein. Zum Beispiel, wenn es um Angriffe von Nazis geht. Wenn Leute nicht so bekannt sind, ist es für Nazis einfacher. Seda Başay-Yıldız hat ja auch gesagt, dass das Herstellen von Öffentlichkeit für sie ein Schutzmechanismus ist. Zum Glück funktioniert bei uns in Thüringen immerhin die Solidarität, wenn es zum Beispiel einen Angriff auf ein Büro gibt – dann äußert sich auch die CDU solidarisch.“
Ann-Sophie Bohm: „Stimmt. Nach der Anzeige habe ich lange überlegt, wie ich damit umgehen soll. Aber dann dachte ich: Die Öffentlichkeit ist die beste Waffe, die ich jetzt habe. Ich bin immerhin in der Position, das öffentlich machen zu können, auch wenn mein Account auf Twitter zu den kleineren zählte.“
Das Privileg der Öffentlichkeit muss man sich ja auch leisten können – wenn Politikerinnen von weiteren Diskriminierungen betroffen sind, wird das ja auch nicht leichter. Stichwort: Bodyshaming.
Henfling: „Ja, das merke ich auch, wenn meine und die Erfahrungen von Kolleginnen vergleiche. Was sollen die Leute aus der rechten Ecke auch sagen, bei mir blonder Frau? (lacht) Ich bin nahe dran an dem, was man für ,normal‘ hält, an der Normschönheit. Da müssen sich Kolleginnen von mir ganz andere Sachen anhören. Und auch spannend: Das passiert bei keinem dicken Mann. Bodyshaming gibt es nur bei Frauen.“
Bohm: „Menschen, meistens Männer, übertragen ihre politische Ablehnung ins Persönliche. Vergangenes Jahr war ich beim MDR-Sommerinterview, das wurde breit auf Social Media gespielt, wo dann Kommentare von Männern erschienen wie ,Wer will die denn ficken?‘ Und wenn man als Politikerin schwanger ist: ,Wer schwängert denn sowas?‘“
Henfling: „Ja, die Sichtbarmachung, dass du Sex hattest.“ (lacht)
Bohm: „Ja, ganz schlimm und dann auch noch eine Grüne! (lacht) Bei Frauen wird die politische Ablehnung mit Äußerlichkeiten verknüpft und dann gibt es den Drang, klar zu machen, dass sie – also die kommentierenden Männer – diese Frau unattraktiv finden. Das passiert bei männlichen Politikern selten.“
Potenziert sich Sexismus als Mutter in der Politik?
Henfling: „Das hängt davon ab, ob man die Mutterschaft öffentlich macht. Teilweise hat man das nicht selbst in der Hand. Ich selbst mache schon immer mit Kindern Politik, mein ältestes Kind ist 12, ich kenne es nicht anders. Aber interessant ist, dass sich die Wahrnehmung ändert. Es hatte nie jemand auf dem Schirm, dass ich Kinder habe. Bis zu der Geschichte vor drei Jahren habe ich immer wieder gehört: ,Ach, Sie haben Kinder?‘ Es konnte nie jemand glauben, dass ich aktiv Politik mache und gleichzeitig Kinder habe. Als es dann durch die Presse ging, wusste es jede*r. Und dann immer die Frage: ,Wie machen Sie das?‘“
Bohm: „Wenn man als Frau in die Politik geht, potenziert sich der Sexismus. Das sehen wir aktuell auch an Annalena Baerbock. Klar kommt Sexismus auch von Frauen, aber im politischen System eher von Männern. Das ist so ein Beißreflex: Da ist eine Frau, die sich traut, Politik zu machen? Dann auch noch eine junge Frau und dann auch noch eine Grüne? Das ist zu viel für viele Männer. Eine Frau, die sich was traut, wird dann klein gemacht. Frauen gelten als weniger kompetent, das sehen wir auch im Wahlkampf.“
Bohm: „In unserer Ratsfraktion machen wir oft personenbezogene Sprechstunden. Mir ist aufgefallen, dass mich total selten Leute anrufen – bei meinen männlichen Kollegen ist das anders. Vielleicht liegt das auch daran, dass Menschen Männern mehr Kompetenzen zuschreiben. Mutterschaft erhöht dann das Standing in der Gesellschaft. Es gibt einer mehr Glaubwürdigkeit. Ich glaube, das ist mit dem Denken verwurzelt, dass man als Mutter eine nützliche Frau ist. Aber natürlich gibt es immer die Frage: Schafft man das denn alles gleichzeitig?“
Hat sich etwas verändert dadurch, dass Sie jetzt öffentlich Mutter sind?
Henfling: „Die Solidarisierung, auch von konservativen Menschen. Diese Solidarität von Menschen zu bekommen, mit denen ich überhaupt nichts am Hut habe, war interessant – und seltsam. Im Landtag wurde ich dadurch zu einer Expertin für Familienfragen. Immer, wenn es um Vereinbarkeit geht, werde ich jetzt gefragt: Können wir das Stillzimmer durch ein Archiv ersetzen? Und auf der Straße, da werde ich angesprochen: ,Ach, Sie sind die mit dem Kind!‘ Leider nicht: ,Ach, Sie sind doch die mit den tollen Ideen!‘ (lacht) Die Leute kennen mich jetzt.
Es gibt einen Mechanismus, dass Leute nicht mit Anliegen zu dir kommen, weil sie sich sagen: ,Ach, die hat ja Kinder.‘ Wo ich mir denke: Ich kann selbst entscheiden, was ich schaffe und nicht. Das führt dazu, dass wir an bestimmten Dingen nicht beteiligt werden. Dieses Phänomen finde ich wirklich schwierig. Wenn ich etwas nicht schaffe, dann sage ich das, dann verweise ich auf eine Kollegin oder einen Kollegen. Darauf zu verweisen, dass ich etwas nicht schaffe, weil ich Kinder habe, würde bei Kollegen, die auch Vater sind, niemals passieren.“
Bohm: „Da sehen wir einfach, dass die Care-Arbeit einfach weiterhin Frauen zugeschrieben wird.“
Neben nervigen Fragen und Stereotypen bekommen Drohungen ja nochmal eine weitere Form der Relevanz, wenn Kinder zur Familie gehören. Es betrifft dann nicht nur Sie selbst, sondern auch Ihre Kinder.
Henfling: „Vor einigen Jahren wurden die Radmuttern an unserem Auto gelockert. Das Auto, mit dem wir auch unsere Kinder transportieren. Ich war mit meinen Kindern in dem Auto unterwegs und hatte mich über komische Geräusche gewundert. Am nächsten Tag ist meinem Mann das Rad abgefallen. Wir hatten Glück, dass uns nichts passiert ist.“
Ann-Sophie Bohm wurde wegen vermeintlicher Kindeswohlgefährdung angezeigt. Das kennen Sie auch aus eigener Erfahrung, Frau Henfling.
Henfling: „Ja, ich hatte auch so eine Anzeige, habe sie aber nicht öffentlich gemacht. Ich saß zu dem Zeitpunkt viele Jahre im Jugendhilfeausschuss. Plötzlich saß der Leiter des Jugendamts dienstlich bei mir zu Hause. Das war schlimm, dieses Rabenmutterding: Du kannst das nicht, du bist keine richtige Mutter, weil du nicht 24/7 Mutter bist und das Allerschlimmste: Du gefährdest dein Kind. Man macht sich also die ganze Zeit voll die krassen Gedanken, wie man Familie und Politik vereinbaren will und die Öffentlichkeit watscht dich ab, weil sie fünf Minuten deiner Zeit mit deinen Kindern mitbekommt. ,Du bist keine gute Mutter‘, den Vorwurf fand ich schlimm. Dadurch wurde ich auch als kompetente Politikerin in Frage gestellt. Mir wird manchmal gesagt: ,Das einzige, was Sie als Politikerin hinbekommen haben war ja, ihr Kind mit in den Plenarsaal zu nehmen.‘“
Bohm: „Ich habe ja selbst entschieden, es öffentlich zu machen. Ich hätte nicht gedacht, dass es solche Wellen schlägt. Ich bin aber sehr froh, dass wir diese Diskussion führen. Wir brauchen diese Debatte um Vereinbarkeit. Wir Frauen lassen das einfach nicht mehr mit uns machen, so nach dem Motto: Bist du Mutter, bist du erstmal drei Jahre raus. Nein, damit ist jetzt Schluss. Wir haben Kinder und wir nehmen selbstverständlich am öffentlichen Leben teil.“
Henfling: „Das ist ein großer Unterschied zwischen Vätern und Müttern in der Politik. Bei Vätern ist das einfach kein Thema. Das empfinde ich als unsolidarisch.“
Bohm: „Ja, Väter in der Politik sollten offener mit ihrer Vaterschaft umgehen.“
Henfling: „Es ist für mich immer eine Gratwanderung, wie sehr ich meine Familie und Vereinbarkeitsfragen im Politikalltag thematisiere. Ich sage häufig nicht, sorry, um 17 Uhr macht die Kita zu. Ich thematisiere das dann nicht, sondern finde Möglichkeiten. Natürlich auch aus Sorge, dass ich da lästig bin als Frau. Als Mann ist das kein Thema. Im Landtag hat noch niemand seine Kinder thematisiert. Im Lockdown haben wir dann endlich mal darüber gesprochen und gesagt: So geht das nicht, wir müssen unsere Kinder mitbringen, wir sind sonst nicht arbeitsfähig. Generell versuche ich allerdings, das Thema rauszuhalten.“
Politik und Care-Arbeit zusammen, das ist in den aktuellen Strukturen schwierig. Würden Sie Müttern empfehlen, Politik zu machen?
Henfling: „Nö.“ (beide lachen)
Bohm: „Es macht Spaß und ist wichtig, aber ich kann nicht sagen, dass ich es empfehlen würde.“
Henfling: „Eine Frage, die wichtig ist: Gibt es eine Partnerin, einen Partner dazu der oder die das unterstützt? Natürlich ist Politik wichtig und natürlich sollten mehr Mütter in die Politik gehen, damit sich daran was ändert.“
Eigentlich gibt es viele Eltern in der Politik – nämlich Männer. Und eigentlich müssten sie Rechte für Eltern erkämpfen. Im Landtag hat eine Kollegin von mir auch ein Kind bekommen, in der Sommerpause, so clever wie wir sind, haben wir das natürlich alles getaktet. Die Väter halten sich immer im Hintergrund, dabei müssten die Männer mitmachen. Ich bin dankbar für jeden Mann, der offen über seine Vaterschaft spricht. Mich nervt, dass die nicht genauso hart für Vereinbarkeit kämpfen, wie wir das tun. Denn theoretisch hätten wir eine kritische Masse beisammen.“
Bohm: „Wir müssen an die Strukturen ran. Ich denke da an Laberrunden, in denen sich Männer erzählen, wie dufte sie sind. Das kann und muss man einfach lassen. Das war auch das Schöne an Corona: Da waren die älteren Herren so genervt von Videokonferenzen, dass sie nicht mehr so viel gelabert haben. Wir haben dadurch viel effektiver gearbeitet. Das ist dann für alle schöner, vor allem für die, die noch Care- und Pflegearbeit leisten müssen.“
Würden Sie sagen, dass Mütter effektiver arbeiten?
Henfling: „Ja.“
Bohm: „Auf jeden Fall. Wir müssen einfach sehr viele Aufgaben in einen Tag quetschen und deshalb einfach richtig gut strukturiert sein.“
Henfling: „Und gleichzeitig ist der Anspruch an uns höher. Wenn wir in der Kita mal das Frühstück vergessen haben, ist das viel schlimmer, als wenn der Vater das Frühstück vergisst.“
Bohm: „Bevor ich Mutter wurde, dachte ich schon, ich hätte wenig Zeit. Und jetzt denke ich oft: Krass, wie viel mehr Zeit ich vorher hatte. Jetzt überlege ich drei Mal, bevor ich Termine zusage: Muss das jetzt sein? Kann ich das noch schieben? Ich setze ein Kind ja nicht in die Welt, um dann kaum Zeit mit dem Kind zu verbringen. Politik ist extrem elternfeindlich, das sehen wir schon daran, dass so viel abends stattfindet. Mein Kind ist jetzt noch klein, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das alles gehen soll, wenn ich mein Kind von der Kita abholen muss. Als Alleinerziehende geht es dann gar nicht.“
Was braucht es konkret, damit mehr Mütter und auch mehr Alleinerziehende Politik machen können?
Bohm: „Die Anzeige, die ich bekommen habe, bezog sich auf meine ehrenamtliche Stadtratsarbeit. Ich hatte schon Sorge, Frauen abzuschrecken, wenn ich das öffentlich mache. Die Sitzungstermine im Ehrenamt beginnen immer um 17 Uhr, eine beschissene Zeit, sorry. Genau wenn Kitaschließzeit ist. Wenn man dann in einer Sitzung ist, braucht man eine separate Kinderbetreuung, die nicht angeboten wird.
Es bräuchte also andere Zeiten – die könnten dann allerdings zeitgleich mit einer Erwerbsarbeit sein. Besser wäre eine Kinderbetreuung, zum Beispiel im Nebenraum. Wichtig sind aber auch atmosphärische Dinge, also wie Politik gemacht wird. Diese ewigen Laberrunden, in denen toxische Männlichkeit den Ton angibt. Das muss aufhören.
Es geht um einen Willen, was zu ändern. Es muss klar sein: Wir wollen jetzt elternfreundlicher werden. Und natürlich auch freundlicher, was pflegende Angehörige betrifft. Es geht um den Willen, offener zu werden. Wir müssen froh sein, wenn Menschen sich ehrenamtlich engagieren. Die digitalen Konferenzen während Corona waren schon hilfreich; natürlich kann ich mein Kind nicht währenddessen alleine betreuen, aber ich kann mal stillen oder gute Nacht sagen.“
Henfling: „Hybrid sollte das neue Normal sein, das sollte einfach bei allen Sitzungen angeboten werden. Manchmal geht es wirklich nur um eine halbe Stunde zwischen Kita und nächstem Termin. Da braucht man auch keinen Babysitter, sondern einfach eine Möglichkeit, trotzdem dabei zu sein. Alle organisatorischen Dinge in der Politik können in Videokonferenzen geklärt werden. Kinderbetreuung in Parlamenten sollte selbstverständlich sein. Gibt es eine Elternzeit? Gibt es Vereinbarungen für Eltern? Welche Verpflichtungen kann ich im Mutterschutz abgeben? Wir sollten uns mehr von den Sharing-Modellen skandinavischer Ländern abschauen. Da wird ein Job von zwei Menschen gemacht und es klappt.
Dieser Wille, etwas zu verändern, der blitzt kurz auf, wenn sowas passiert wie mit meinem Sohn. Dann reden alle darüber, dass Politik familienfreundlicher werden muss. Aber wenn es darum geht, wirklich was zu ändern, wird weitergemacht wie bisher.“
Bohm: „Eine Sache ist mir noch wichtig: Wir wissen, dass wir als Mütter in der Politik privilegiert sind, was die Vereinbarkeit angeht. Wir haben überhaupt die Möglichkeit, das mal Kind mitzunehmen. Ganz viele Frauen, die erwerbstätig sind, haben das nicht. Wenn unsere Gesellschaft insgesamt familienfreundlicher werden würde, wäre auch für uns einiges besser. Vor allem aber würden ganz viele andere Eltern davon profitieren. Die heutigen Kita-Schließzeiten richten sich an den Arbeitszeiten von Beamten aus. Aber was ist mit Eltern, die in Schichten arbeiten? Oder Alleinerziehende, die Schichtdienst leisten?
Es muss aufhören, dass Kinder und Eltern als Störfaktoren wahrgenommen werden. Wir finden in der Politik für alle Arbeitnehmer*innen Lösungen – warum dann nicht auch für Eltern in der Politik?“