Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Rebecca Maskos
„Das sagt man einfach so“
„Voll behindert, du Spast!“ schallt es vom Schulhof rüber, und ich denke: Meinen die mich? Natürlich nicht. Obwohl ich‘s ja bin. Okay, „Spastiken“ habe ich jetzt nicht, aber „voll behindert“, ja, das bin ich schon. 100 Prozent Schwerbehinderung steht im Ausweis, und man sieht‘s mir auch an, mit allem Pipapo: Kleinwüchsigkeit, Hörgeräte, Rollstuhl. Als ich irgendwann mal einen Jugendlichen fragte, ob seine Kumpels zufällig mich meinen mit „voll behindert, Alter“, sagte der mir völlig entgeistert: „Nein, das sagt man einfach so!“ Schon klar.
Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn „behindert“ ein Schimpfwort ist? Dass es wohl eine sehr treffsichere Beschämung ist, jemanden so zu nennen. Dass „behindert“ das ist, was man auf keinen Fall sein will. „Behindert“ sein im Sinne der Beschimpfung, das ist das Gegenteil von normal, das ist peinlich, total uncool.
Mein „behindert“ geht anders. Wenn ich behindert sage, dann meine ich: Ich werde behindert, von Barrieren, von Gesetzen, davon, wie Behinderung gesellschaftlich diskutiert wird. Ja, ich werde manchmal auch von meinem Körper behindert. Aber der ist nicht zu denken ohne die Gesellschaft um ihn herum. Mit diesem „sozialen Modell“ von Behinderung bin ich nicht allein. Viele behinderte Menschen verstehen sich so, und auch in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen wird Behinderung so gedacht. „Behinderung“: Das ist etwas Soziales, Gesellschaftliches, und damit ist der Begriff genau passend. Die allermeisten behinderten Menschen verstehen ihn nicht als Diskriminierung. Kaum eine*r von uns würde sich als „andersfähig“, „gehandicapt“ oder „eingeschränkt“ bezeichnen.
Die Schulhofkultur hat ganze Arbeit geleistet
Treffe ich auf nichtbehinderte Menschen, ist die Verunsicherung indes groß. „Wie darf ich dich ansprechen?“, wird gefragt. „Sag doch einfach Rebecca“, möchte ich gerne antworten, aber – ich versteh schon, das löst kein Problem. Ein bunter Strauß an Bezeichnungen wird herumgereicht, in den Medien, bei Veranstaltungen, im Bekanntenkreis: „Menschen mit Einschränkungen“, „Menschen mit Beeinträchtigungen“, „Menschen mit Handicap“, „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“, „Andersbegabte“. Menschen winden sich, nervös flattern die Augenlider – alles nur, um das vermeintlich verbotene Wort „behindert“ zu vermeiden. Und um „nichts falsch zu machen“. Die Angst ist groß, behinderte Menschen zu verletzen. Das ist verständlich, und ein Bewusstsein für nicht-diskriminierende Sprache ist auch überaus wichtig. Nur in diesem Fall geht es oft in die falsche Richtung. Weil die Schulhofkultur ganze Arbeit geleistet hat, scheint der Begriff „behindert“ verbrannt zu sein. Doch hilft es mir, wenn ich jetzt zu einem „Mensch mit besonderen Bedürfnissen“ umdefiniert werde?
Auf keinen Fall. Erstens: „Besondere Bedürfnisse“, die haben wir doch alle. Genauso wie „Einschränkungen“. Wenn man‘s genau nimmt, sogar „Beeinträchtigungen“: Wer hat‘s nicht am Rücken, wer hat keine Allergie, wen plagt nicht irgendwann das Alter? Zweitens: Begriffe wie „besondere Bedürfnisse“ sind Euphemismen, Beschönigungen, um die vermeintliche Stigmatisierung durch „Behinderung“ zu verdecken. Ziemlich interessant ist das übrigens, wenn man sich das Ganze mal historisch anguckt: Der Begriff „Behinderung“ wurde selbst erst in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eingeführt, um diffamierenden Begriffen wie „Krüppel“ etwas entgegen zu setzen.
Lassen wir das Handicap beim Golf!
Ganz schlimm wird‘s aber auf „Denglish“: „Gehandicapt“ leitet sich von „Handicap“ ab – ein Wort, das vor allem im angloamerikanischen Sprachraum mittlerweile ein No-Go ist, weil es viele fälschlicherweise mit Armut und Schwäche assoziieren – die Online-Plattform Leidmedien.de hat dies jüngst analysiert. Auch in Deutschland kommt es bei vielen von uns nicht so gut an. Lassen wir das Handicap doch einfach den Golfspieler*innen.
Und Drittens: Wo bleibt denn dann das schöne Wort „Behinderung“, mit dem man doch gerade das soziale Modell so treffend benennen kann? Das „soziale Modell“ trifft man – finde ich – übrigens am besten, wenn man „behinderte Menschen“ sagt und nicht „Menschen mit Behinderungen“. Denn bei letzterem ist die Behinderung wieder das körperliche Anhängsel und die Barrieren werden nicht mit benannt.
Aber ob nun „behinderter Mensch“ oder „Mensch mit Behinderung“ – das ist Geschmackssache. Ziemlich unten durch ist es jedoch mittlerweile, einfach nur von „den Behinderten“ zu sprechen. Das klingt für behinderte Menschen doch zu sehr nach Schublade, das reduziert uns zu sehr auf unsere Behinderung. Dass wir immer noch „Mensch“ dazusagen müssen, wenn wir über „Behinderung“ sprechen, ist eigentlich traurig – aber in einer Welt, in der wir in Beschimpfungen vorkommen, offensichtlich noch notwendig.
Am besten ist es immer, Menschen selbst zu fragen, wie sie genannt werden wollen. Aber so lange das nicht klar ist und man sich unsicher ist, sage ich: Reclaim „behindert“! Das Wort ist einfach gut.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).