Die Moderatorin Sarah Kuttner gibt im Interview einen offenen und ehrlichen Einblick in ihr Leben mit ADHS. Sie erklärt, warum die Diagnose für sie ein „Game Changer“ war und was sie sich im Diskurs über Neurodivergenz und insbesondere ADHS von der Gesellschaft wünscht.
Die Moderatorin Sarah Kuttner hat ein „Ferrari-Brain“, wie sie es nennt. Die Diagnose ADHS half ihr, vieles an sich zu verstehen. Auch Freund*innen kann sie nun besser erklären, warum sie beispielsweise Treffen, die auf eine Stunde begrenzt sind, für ausreichend hält. Was es mit der permanenten Selbstverachtung auf sich hat und wieso es ab und zu wichtiger sein kann, Schrauben nach Größe zu sortieren, als den Geschirrspüler auszuräumen, erklärt sie im Interview.
Sarah, du sagst, die Diagnose ADHS war für dich Live Changing. Warum genau?
„Das allergrößte Problem für Menschen, die neurodivergent sind, ist Selbstverachtung. Schon als kleines Kind wird dir gespiegelt, dass du irgendwie komisch bist, zu laut, zu schnell, konzentriere dich doch mal! Oh, wie schwer kann es denn schon sein? Oder: Sarah du könntest so viel mehr machen als das, was du machst! Was ich alles gehört habe.“
Dabei warst du doch relativ früh prominent. Was solltest du denn noch mehr machen?
„Es gibt immer irgendwas, was Eltern sich anders wünschen. Es geht eher darum, dass man sich durchgängig schlecht fühlt. Dauernd ist da dieses Gefühl: Irgendwas ist komisch mit mir. Ich habe einen Job daraus gemacht, ich habe es mir einfach aus Versehen unbewusst leicht gemacht und dachte: Okay, schnell reden und im Kopf zackig sein ist alles, was ich kann, komm, ich verdiene damit Geld. Aber es gibt Menschen, die haben ganz normale Berufe und sind trotzdem so ,verrückt’ wie ich. Das merke ich regelmäßig, wenn Leute mir auf meine Videos antworten mit ,Ich hab geweint’ oder ,Wow, du beschreibst genau mich’ und ,Oh Gott, endlich fühle ich mich nicht mehr allein’.
Das ist der Punkt: Man fühlt sich in seinem Körper, in seiner Seele, allein und wie ein Weirdo und versucht irgendwie so zu tun, als wäre man wenigstens so ähnlich wie die anderen Leute – ,Masking‘ heißt das. Das ist so anstrengend. Durch die Diagnose wusste ich: Ah, ich bin gar kein schlechter Mensch, sondern meine Neurotransmitter sind ein bisschen durcheinander beziehungsweise mein Gehirn ist anders eingestellt. Das ist inzwischen meine Vermutung, das ist überhaupt keine Störung, sondern nur eine Varianz von Mensch. Das sind die Schnellen, die Schlauen, die, die gut aufpassen, die alles sehen, die brauchte es auch damals am Lagerfeuer, die einen machen die Pilze sauber und die anderen, die Jäger*innen, müssen reizempfindlich sein, die liegen nachts am Feuer und halten Wache.“
„Durch die Diagnose wusste ich: Ah, ich bin gar kein schlechter Mensch, sondern meine Neurotransmitter sind ein bisschen durcheinander, mein Gehirn ist anders eingestellt.“
Sarah Kuttner
Du bist also eine Jägerin?
„Ja, ich bin die Jägerin, ich habe ein Ferrari-Brain, mein Gehirn ist unfassbar schnell. Ich kann einen Raum lesen innerhalb von Sekunden, weil ich einfach reizempfänglich bin. Ich höre und sehe Sachen, die andere nicht mitbekommen, eine Super-Power! Aber all das sorgt eben doch dafür, dass man denkt, irgendwas stimmt mit mir nicht. Die Diagnose war das Schönste: Now it makes sense. Ich habe zu dem Zeitpunkt eine für mich sehr wichtige Prüfung als Hundetrainerin verkackt und war so verwirrt darüber, weil ich wusste, wie gut ich darin war, und dennoch hat es nicht funktioniert. Das war ganz komisch.
Nach der Prüfung habe ich gesagt: Entschuldigung, ich verstehe nicht, was hier gerade passiert, denn ich hatte all das Wissen drauf. Die haben das aber anders abgefragt. Bei der zweiten Prüfung kannte ich dann schon meine Diagnose und habe vorher Bescheid gesagt und eine super unprofessionelle lange Mail geschrieben ans Bezirksamt: ,Folgendes, ich habe ADHS, das bedeutet, ich lerne anders, ich kann Wissen anders abrufen. Es ist wichtig, dass Sie das auf dem Schirm haben für mich. Sie müssen mir dabei helfen, diese Prüfung zu machen.‘ Und dann habe ich mit 98 Prozent bestanden. Die Prüferin hat mir danach eine SMS geschrieben und meinte, dass ich eine sehr empathische Hundetrainerin werde.“
Warst du auch mal zwischenzeitlich sauer auf dein Gehirn?
„Ich bin dauernd sauer auf mein Gehirn. Ich habe immer noch diese Probleme mit Menschen. Menschen, die mich anstrengend finden, die mich zu viel, zu laut, zu schnell finden. Das hört nicht auf, dass man dauernd das Gefühl hat, sagen zu müssen: Ich meine es wirklich nicht böse.“
Für dich wäre ein 45-Minuten-Treffen mit Freund*innen beispielsweise vollkommen fein.
„Genau. Aber erklär das mal jemanden. Freund*innen sind traurig, wenn man nach einer Stunde schon gehen will, doch ich kann dann nicht mehr, weil ich so viele Reize aufgenommen habe in der Zeit und versuche, eine so gute Freundin zu sein. Oder auch jetzt gerade ein so gutes Interview zu geben. Das kostet. So bin ich, und das gibt mir auch Dopamin, aber das kostet mehr als bei anderen Leuten. Nach anderthalb Stunden bin ich durch, und dann habe ich am nächsten Tag Kater. Das nennt man wirklich sozialen Kater, also nicht durch Sauferei, sondern durch da sein, präsent sein. Funktioniere ich, können mich alle ausreichend leiden? Da brauche ich am nächsten Tag eine Pause.“
Wie machst du das mit deinem Mann?
„Der hat auch ADHS, was hilfreich ist, weil wir versuchen, übereinander zu lachen. Man hat mehr Verständnis für den anderen. Ich beschäftige mich nur mehr mit dem Thema und versuche immer Lösungen zu finden, wie man sich etwa Sachen, die man machen muss, aber nicht machen will, besser und leichter macht. Das funktioniert. Freundschaften sind schwieriger, weil die Menschen eben nicht verstehen, dass man nicht so viel Energie hat, um sich regelmäßig zu sehen. Personen mit ADHS sind dauernd erschöpft von all dem ,normal sein tun’ oder so. Ich bin dauernd müde, ich will eigentlich permanent nach Hause.“
Du wirkst gar nicht müde.
„Weil ich ,an’ bin und ein Profi, aber eigentlich möchte ich gerne im Bettchen liegen und eine rauchen.“
Vor dem Hintergrund hast du eine ziemlich große Karriere gemacht. Findest du nicht?
„Vielleicht auch genau deswegen, weil alles, was meine Arbeit war, sich nie anstrengend für mich angefühlt hat. Mein Buch habe ich beispielsweise in nur zwei Monaten geschrieben. Ich mache dann die eine Sache ganz, weil ich wusste, wenn ich mich damit länger beschäftige, werde ich mich langweilen, mit mir, mit dem Buch. Ich muss jetzt durchballern.“
Inwiefern hilft es, dass du deine Symptome mit deinen Follower*innen teilst?
„Dass sie sich erkennen. Der größte Effekt ist das Gesehenwerden. Ich habe nicht Medizin studiert, ich sage bestimmt auch mal falsche oder vor allem oft verallgemeinernde Sachen. Im Grunde denke ich nur laut und zeichne es direkt auf.“
Zwei Millionen Menschen sind in Deutschland betroffen. Ärgert es dich, wenn manche von „Modeerscheinung“ sprechen?
„,Me too‘ war ja auch keine Modeerscheinung, sondern irgendjemand sagte endlich laut: ,So passt auf, das ist passiert‘, und dann trauen sich die Anderen zu sagen, achso, das darf man laut sagen, mir ist das auch passiert. War mit Depressionen auch so, galt vor 30 Jahren als Mode-Ding.“
Nimmst du Medikamente?
„ Ja, sie helfen bei dieser starken Antriebslosigkeit. Aber eigentlich wird damit natürlich nur ein Symptom besser gemacht. Mit Ritalin kann ich mich besser konzentrieren und vor allem bin ich energetischer, ich halte Sachen besser durch. Doch da besteht natürlich auch die Gefahr, dass man nicht merkt, wenn man sich eigentlich ausruhen sollte. Ich hatte am Anfang des Jahres ein Burnout.“
Was würde dir und den anderen Betroffenen am meisten helfen, was kann die Gesellschaft verändern?
„Verständnis. Wenn du mit mir Zeit verbringen darfst, dann ist das ein wirklicher Liebesbeweis, weil ich ja eigentlich nur mit mir alleine sein will. Wenn man Leute hat, die einen lieben, also nicht nur ertragen, sondern die wertschätzen, dass man so cool ist auf einer gewissen Ebene, das hilft.
Es gibt Personen, die sagen: Es kann jetzt aber nicht alles ADHS sein! Das ist auch keine Entschuldigung für uns. Aber es ist eine Erklärung, das ist ein Unterschied! Wir werden oft so behandelt, als würden wir uns im Sinne von ,Ja, geht jetzt nicht anders, ich habe ADHS‘ rausreden, aber so meinen wir es nicht, wir wollen nur Verständnis im Sinne von ,mein Gehirn kann nicht anders’.
Eine Person mit ADHS möchte einfach nur sie selbst sein, sie möchte auf dem Fußboden sitzen und Schrauben nach Größe sortieren, obwohl eigentlich der Geschirrspüler eingeräumt werden müsste. Und wir brauchen jemanden, der*die nicht sagt: ,Oh, kannst du bitte jetzt endlich mal‘, sondern fragt: ,Soll ich dir helfen, oder soll ich noch mehr Schrauben raufkippen’, denn das würde mich befriedigen, noch mehr Schrauben zu haben, die man sortieren kann.“
Ich wünsche dir viele Schrauben.
„Dankeschön. Das ist ein sehr schöner Abschluss: Ich wünsche dir viele Schrauben.“