Die Autorin Julia Shaw forscht am University College London über Psychologie und deren dunkle Seite. Mit ihrem Wissen berät sie Polizei, Bundeswehr und Rechtsanwält*innen. In ihrem neuen Buch verrät sie, wie Boshaftigkeit entsteht.
Es schlummert in uns allen
Machen wir uns nichts vor. Wir alle haben sie: moralisch höchst verwerfliche Gedanken. Manchmal blitzen sie in unserem Kopf auf und wir können nicht anders als kurz daran zu denken, fremdzugehen, etwas im Laden zu stehlen oder der Person gegenüber ins Gesicht zu lügen. Manche Vorstellungen sind so schlimm, dass wir uns niemals trauen würden, sie laut auszusprechen. Lieber versuchen wir uns ganz schnell auf andere Gedanken zu bringen. Aber warum verdrängen wir so gerne das alltägliche Böse – von den eigenen Gewaltfantasien bis zu Gedankenspielen zu Machtmissbrauch?
Die Autorin Julia Shaw rückt derartige dunklen Gedanken ins Licht. In ihrem Buch analysiert die Kriminalpsychologin das Phänomen des Bösen. Sie kommt zu dem Schluss, dass wir es alle in uns tragen. Wir veröffentlichen einen Auszug:
Was Hitlers und unser Gehirn gemeinsam haben
Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, würden Sie Hitler als Baby töten? Die Antwort auf diese eine Frage verrät mir eine Menge über Sie. Wenn Sie mit „Ja“ antworten, glauben Sie wahrscheinlich, dass wir mit einer gewissen Veranlagung geboren werden, Schreckliches oder Gutes zu tun. Dass sich das Böse in unserer DNA befinden kann. Antworten Sie mit „Nein“, haben Sie wahrscheinlich eine weniger deterministische Sichtweise menschlichen Verhaltens und glauben vielleicht, dass die Umwelt und die Erziehung eine wichtige Rolle dabei spielen, welche Taten wir als Erwachsene begehen. Vielleicht haben Sie aber auch „Nein“ gesagt, weil das Töten von Babys ein Tabu für Sie darstellt.
Wie dem auch sei, ich glaube, dass die Antwort faszinierend ist. Ich glaube auch, dass sie sich nahezu sicher auf unvollständige Beweise stützt. Denn wissen Sie wirklich, ob schreckliche kleine Babys schreckliche große Erwachsene werden? Und unterscheidet sich Ihr Gehirn tatsächlich so sehr von Hitlers Gehirn?
Lassen Sie uns ein Gedankenexperiment durchführen. Wenn Hitler heute lebte und wir ihn in ein CT-Gerät schieben würden: Was würden wir finden? Beschädigte Strukturen, übermäßig aktive Gehirnbereiche, wie Hakenkreuze geformte Hirnkammern? Bevor wir Hitlers Gehirn rekonstruieren können, müssen wir zunächst kurz prüfen, ob Hitler verrückt, böse oder beides war. Eines der ersten Psychogramme von Hitler stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Es gilt als eines der ersten Täterprofile aller Zeiten und wurde 1944 vom Psychoanalytiker Walter Langer für das Office of Strategic Services (Amt für strategische Dienste) geschrieben, ein US-Nachrichtendienst, der eine frühe Version der Central Intelligence Agency darstellt. Der Bericht beschrieb Hitler als ‚neurotisch‘, als ‚Psychopathen an der Grenze zur Schizophrenie‘ und traf die korrekten Vorhersagen, dass er nach ideologischer Unsterblichkeit strebe und angesichts einer Niederlage Selbstmord begehen würde. Doch der Bericht enthält auch eine Reihe pseudowissenschaftlicher Behauptungen, die sich nicht verifizieren lassen, einschließlich derjenigen, dass Hitler masochistischen Sex genoss und dass er zur ‚Koprophagie‘ neige (zum Kotessen).
Julia Shaw erklärt in ihrem Buch, wie Hitlers Gehirn getickt hat. „Böse“, S. 23
Ein anderer Versuch eines Psychogramms wurde 1998 von dem Psychiater Fritz Redlich veröffentlicht. Redlich führte durch, was er als Pathografie bezeichnet –die Erforschung des Lebens und der Persönlichkeit eines Menschen unter Berücksichtigung krankheitsbedingter Einflüsse. Anhand der Analyse von Hitlers Krankengeschichte und der Krankengeschichte seiner Familie sowie von Reden und anderen Dokumenten gelangte er zu dem Schluss, dass Hitler viele psychiatrische Symptome gezeigt habe, einschließlich Paranoia, Narzissmus, Angst, Depression und Hypochondrie. Doch obwohl Redlich so viele psychiatrische Symptome fand, dass er damit ein ‚psychiatrisches Lehrbuch füllen könnte‘, behauptete er, dass der größte Teil von Hitlers Persönlichkeit mehr als ‚angemessen‘ funktionierte und dass Hitler ‚wusste, was er tat, und es voller Stolz und Enthusiasmus tat‘.
Wer abscheuliche Verbrechen begeht, ist nicht zwangsläufig krank
Hätte er Hitler als Baby töten wollen? Oder hätte er mehr Wert auf Hitlers Erziehung gelegt? Laut Redlich hat in Hitlers Kindheit wenig darauf hingedeutet, dass er später einmal genozidale Ziele verfolgen würde. Medizinisch betrachtet sei Hitler ein ziemlich normales Kind gewesen, scheu und ohne Gefallen
daran, Tiere oder Menschen zu quälen. Redlich argumentiert gegen die Vorstellung mancher Psychohistoriker wie zum Beispiel der des Psychoanalysten Michael Stone von der Columbia University, der kleine Hitler habe eine besonders schwierige Kindheit gehabt. Es scheint, dass wir dies
nicht als Grund für sein späteres Verhalten heranziehen können, und auch, dass die unbefriedigende Antwort darauf, ob Hitler verrückt war oder nicht, wohl eher ‚Nein‘ lautet. Wie sich herausstellt, ist dies nichts Ungewöhnliches. Nur weil jemand abscheuliche Verbrechen begangen hat, ist er nicht zwangsläufig
psychisch krank. Anzunehmen, dass jeder, der Verbrechen dieser Art begeht, psychisch krank ist, hieße, die Täter aus der persönlichen Verantwortung zu entlassen – und psychische Erkrankungen zu stigmatisieren. Was also befähigt Menschen wie Hitler, solche Gräueltaten zu verüben?
aus: „Böse – die Psychologie unserer Abgründe“, Hanser Literaturverlag, 1. Auflage 2018, 319 Seiten, 16,99 Euro
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