Wenn jemand stirbt, so denkt man, muss irgendwas in dem Moment passieren. Eine plötzliche Stille. Ein Knall. Schwarz. Grell. Irgendwas. Stattdessen stehe ich um 6 Uhr morgens mit der Kliniktasche meiner Mutter im morgendlichen Berufsverkehr. Um mich herum beginnt ein normaler Tag.
„Du kannst doch jetzt nicht Bahn fahren. Bist du verrückt. Nimm dir ein Taxi!”, sagt die Freundin am Telefon, als ich in der S-Bahn sitze. „Du kannst doch nicht…” – so fangen sehr viele Sätze an, die ich in der Folgezeit höre. Und alle sind sie gut gemeint. Man hat ja schließlich jemanden verloren. Es gibt so eine Vorstellung davon, was man tut, wenn jemand gestorben ist. Das Bild, das man hat: Man weint, wenn man trauert. Dafür tut man viele Dinge nicht mehr: Normal funktionieren, zum Beispiel. Arbeiten. Denken. Lachen. S-Bahn fahren.
Eine Vorstellung, die ich so auch geteilt habe. Bis man da selbst steht, mit einer Tasche um 6 Uhr morgens. Sturm, Knall und die große Pausetaste bleiben aus. Man funktioniert. Autopilot. Das geht lange so – bis dann der Punkt kommt, wo sich die Trauer ihren Platz nimmt. Irgendwann. Und dann fällt man raus. Das Problem: Oftmals ist dieser Moment so zeitversetzt, dass es viele Menschen irritiert. Das Umfeld, aber auch die*den Trauernde*n selbst.
„Wer sagt denn, wie Trauer auszusehen hat? Wie man reagiert, wenn man mit dem Thema Tod konfrontiert wird?“
„Warum kann ich nicht weinen?”, hat mich kürzlich eine Freundin gefragt, die jemanden verloren hat. „Was ist falsch mit mir?” Und genau das ist der Punkt. Wer sagt denn, wie Trauer auszusehen hat? Wie man reagiert, wenn man mit dem Thema Tod konfrontiert wird?
Als ich 16 war, ist der Freund einer Freundin gestorben. Wir haben uns damals am Wochenende getroffen, um nicht allein zu sein. Unsere Eltern waren entsetzt, weil sie dachten, wir würden einfach wie jedes Wochenende Party machen. Das hat mich damals getroffen. Ob man sich ablenkt oder nicht, ob man sich betrinkt oder lieber vergräbt, ob man sich mit der Trauer direkt auseinandersetzt oder vorerst nicht: Das alles muss man doch selbst für sich entscheiden.
„Ob man sich ablenkt oder nicht, ob man sich betrinkt oder lieber vergräbt, ob man sich mit der Trauer direkt auseinandersetzt oder vorerst nicht: Das alles muss man doch selbst für sich entscheiden.“
Und natürlich ist das Thema Sterben, wenn man 16 Jahre alt ist, etwas, was einen komplett überfordert. Aber viele Jahre später als Erwachsene, als ich wieder mit dem Thema Sterben in Berührung gekommen bin, musste ich feststellen: Ich bin eigentlich keinen einzigen Schritt weiter. Klar: Telefonverträge auflösen, bei Ämtern Abmeldeformulare ausfüllen, Gespräche mit Bestatter*innen und Trauerredner*innen führen und dergleichen – das alles geht. Man funktioniert ja. Aber abseits davon? Hallo, sweet 16. Nichts, was in der Zwischenzeit einfacher geworden wäre.
Die Begegnung mit dem Tod macht was mit einem. Man fällt raus. Immer wieder erwische ich mich dabei, dass ich abdrifte in Gedanken. Und wenig Kluges kommt dabei raus. David Bowie hat einmal gesagt: „Die absolute Abwesenheit von Leben ist die verstörendste und herausforderndste Erfahrung, die du jemals machen wirst.”
„Wir leben in einer Gesellschaft, die das Thema Sterben und Tod sehr an den Rand drängt.“
Ich denke, das hat damit zu tun, weil wir in einer Gesellschaft leben, die das Thema Sterben und Tod sehr an den Rand drängt. Wer mag schon mit seiner eigenen Endlichkeit konfrontiert werden? Wer mag sich ausmalen, dass auch die Eltern, liebe Verwandte oder Freund*innen sterben eines Tages?
Kaum jemand von uns hat schon mal einen Toten gesehen. Tagtäglich begegnet uns Leid und Sterben in den Nachrichtensendungen. Aber die meisten von uns haben noch nie jemanden tot gesehen, der ihnen nah stand. Und wie oft hört man: „Nein, ich möchte mich nicht verabschieden”, wenn jemand im Sterben liegt. „Ich möchte diesen Menschen so in Erinnerung behalten, wie er zu Lebzeiten war”. Tun wir das aus Selbstschutz? Ich weiß es nicht.
Wird über den Tod gesprochen, fangen die meisten Menschen an, rumzueiern. Manche werden zynisch und ironisch, wieder andere gehen das Ganze extrem sachlich bis wissenschaftlich an. Egal wie, Hauptsache Abstand zwischen mich und die Thematik bringen, so wirkt es. Man denkt vielleicht auch ein bisschen an TikTok und das „Lucky Girl Syndrome”, wo sich Frauen so lange einreden, dass sie total happy sind, bis sie es wirklich sind. Self-fulfilling prophecy und so. Also doch besser nicht vom Sterben reden oder sich Gedanken über den Tod machen. Sonst beschwört man womöglich etwas herauf.
„We’re all going to die, all of us, what a circus! That alone should make us love each other but it doesn’t. We are terrorized and flattened by trivialities; we are eaten up by nothing.”
Charles Bukowski
Der Tod passt auch so gar nicht zu allem anderen, womit wir so unsere Zeit verbringen. Dinge im Internet bestellen, WhatsApp-Nachrichten tippen, Bananenbrot backen, Staub wischen. Endlichkeit matched nicht mit Selbstoptimierung und dem besten Leben, das wir haben sollen.
Aber auch wenn der Gedanke an den Tod uns Unwohlsein beschert, so sollten wir ihn doch zulassen, statt ihn zu verdrängen. Letztlich ist es doch so: Wir können uns Impfungen spritzen lassen oder Botox, können zur Vorsorge gehen, Super Food futtern und Sport bis zum Anschlag treiben – wir alle werden eines Tages sterben. Dazu hat Charles Bukowski mal gesagt: „We’re all going to die, all of us, what a circus! That alone should make us love each other but it doesn’t. We are terrorized and flattened by trivialities; we are eaten up by nothing.”
Sterben, Tod und Trauer sind also auch Dinge, so seltsam sich das anhören mag, die dazu führen, unsere Leben anders zu sehen. Und vielleicht ein wenig mehr aus der Zeit hier unten rauszuholen. „That alone should make us love each other”. Vielleicht ein tröstender Gedanke für alle, die auch eine Kliniktasche in der Hand halten.
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