Mascara, Lippenstift und Concealer sind seit Jahrzehnten nicht mehr aus den Gesichtern der Frauen wegzudenken. Doch seit einiger Zeit nimmt die Schmink-Lust ungeahnte Dimensionen an.
Ohne Make-up wäre meine Pubertät die Hölle gewesen
Ich liebe Schminke. Als aknegeplagter Teenager mit Komplexen so ungefähr alles an mir betreffend, hätte ich das Erwachsenenstadium sonst mit Sicherheit nur mit noch mehr Komplexen erreicht. Auch jetzt noch gehe ich ohne Schminke ungern aus dem Haus. Doch wie sehr Kosmetik ein Teil meines Selbstbildes geworden ist, wurde mir erst vor einigen Monaten bewusst.
Mein Freund und ich sind nämlich in den Urlaub in die Schweiz gefahren. Zum Wandern, Chillen, Netflixen. Dazu brauche ich keine Schminke – dachte ich. Und da mein Freund schon seit Jahren felsenfest behauptet, ich sei auch ohne Schminke optisch einigermaßen erträglich, habe ich einfach mal keine Schminke eingepackt. Ein riesiger Fehler. Schon auf der Zugfahrt in unser entlegenes Schweizer Urlaubsdorf habe ich mich unwohl gefühlt. Mein, der fremden Außenwelt entblößtes Gesicht hat sich so falsch angefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass mich die Leute anstarren und wollte mich am liebsten verstecken. Im Schweizer Bergdorf angekommen, war ich mir sicher, dass sich unsere Gastgeber doch reichlich davor ekeln, mir die Hand zu geben, weil ich so furchtbar aussehe. Das sind keine Übertreibungen, all diese Gedanken gingen tatsächlich in mir vor. Dass der Verzicht auf Schminke einen fast krankhaften Selbstekel in mir auslöste, hat mir doch schwer zu denken gegeben.
Woher kommt dieser Schminkzwang?
Wenn ich mich umschaue, sehe ich viele Frauen und Mädchen, denen es ihrer dicken Foundation-Schicht und sorgsam aufgetragenem Rouge nach, ähnlich zu gehen scheint.
Um Kosmetikmarken gibt es momentan einen regelrechten Wahn. Digitale Influencer, die sich auf YouTube oder Instagram schminken, erreichen mit ihren Tutorials tausende Zuschauer pro Video. Zoella aus England hat z.B. mit ihrem „My Top Drugstore & Highstreet Makeup Picks!“-Video mehrere Millionen Aufrufe innerhalb eines Jahres erzielt. Deutsche Äquivalente dazu sind z.B. der Lifestyle-Kanal von Nilam oder der Kanal der Make-Up-Artistin Mrs. Bella, die mittlerweile als Rollenvorbilder fungieren. Sie geben somit ein Stück weit vor, wie Mädels heutzutage auszusehen haben.
Vor zehn Jahren hatten die wenigsten einen Plan davon, wie „strobing“ oder „baking“ funktioniert. Möglicherweise waren diese heute elementaren Techniken damals noch gar nicht erfunden. Mascara und etwas Abdeckstift reichten aus, um gut auszusehen. Nun gibt es umfassendes Infomaterial im Netz und es wirkt beinahe wie eine Bildungslücke, wenn man nicht über’s Contouring Bescheid weiß (für alle, die nicht wissen was Contouring ist: es ist die Schminktechnik, die einen wie Kim Kardashian aussehen lässt. Für alle, die nicht wissen, wer Kim Kardashian ist: ist nicht so wichtig).
Ein neues Schönheitsideal?
So wird heute also fleißig gespachtelt. Um mögliche Makel zu verstecken, um sich schöner zu fühlen, um akzeptiert zu werden. Die Zeit schreibt in ihrem Artikel „Rote Lippen, schwarze Zahlen“: „Keine Generation zuvor hat sich so stark mit der Bearbeitung der Oberfläche beschäftigt wie die heutige Jugend“. Das Resultat ist eine Armee von perfekt gehighlighteten, verblendet- kontourierten Mädels mit Einheitsmasken. Die Augenbrauen dick ausgemalt, die Wangenknochen silbrig glänzend gehighlighted, der Silberstreifen mal besser, mal schlechter in die braune Farbe des contourierten Gesichtsrands übergehend. Das sieht auf Fotos mit dem richtigen, alles weichzeichnenden Filter bestimmt ganz toll aus. In der Realität wirkt es allerdings stark befremdlich.
Manchmal sorgen Bilder von ungeschminkten Stars für großes Aufsehen – ein Indiz dafür, dass das Sternchen vorher wohl viel zu tief in den Farbtopf gegriffen hat. Sonst würden sich das geschminkte und das natürliche Gesicht nicht so stark voneinander unterscheiden.
Versteh mich da bitte nicht falsch: Ich liebe Schminke und Kosmetik und die beeindruckende Wirkung, die beides haben kann. Ohne Abdeckstift wäre mein Leben trauriger. Das Gefühl, dass das Tragen von rotem Lippenstift erzeugt, möchte ich nicht missen. Die knallrote Farbe auf meinen Lippen sagt „Hey, hier bin ich!“, wenn mein Selbstbewusstsein sich schon längst in eine dunkle Ecke verzogen hat. Aber ich bin mir darüber im Klaren, dass diese Vorgänge in meinem Kopf geschehen, weil ich mich geschminkt einfach besser fühle und somit eine selbstbewussteres Auftreten habe. Doch mit Schminke einem unrealistischen Schönheitsbild nachzueifern, empfinde ich als falsch.
Schmink-Lust wird zu Konsumwahn
Die wunderschön geschminkten Gesichter, die in den Tutorials erzeugt werden, beruhen teilweise auf jahrelanger Übung und einem zeitlichen Aufwand, den wohl die meisten von uns im Alltag nicht erübrigen können. Davon abgesehen vermitteln solche Tutorials eine Konsumeuphorie, der haarsträubend ist. Die YouTuberInnen zeigen nicht nur, wie die Kosmetik richtig aufgetragen wird, sondern halten auch die unzähligen Produkte in die Kamera, die sie für den Look benötigen. Um neuen Content zu liefern, werden die neuesten Produkte aus den Drogerien sofort ausprobiert. So entstehen Berge von halb aufgebrauchten Produkten, die natürlich auch in Videos präsentiert werden. Gott seit Dank ebbt der Trend der Hauls (also Videos, in denen die YouTuber zeigen, was sie alles eingekauft haben) langsam ab.
Niemand benötigt zehn Foundations und 20 Mascaras. Was soll der Bullshit? Diese Darstellung übertrieben großer Schmink-Besitztümer führt dazu, dass viel mehr gekauft als verbraucht wird. Selbst ich weiß nicht, ob ich jemals einen Lippenstift komplett verbraucht habe. Lippenstift an Lippenstift reiht sich auf dem Schminktisch aneinander. Die Anzahl wird nur von Zeit zu Zeit dadurch etwas dezimiert, dass ich in einem Aufräumwahn alle doppelten Farbtöne oder die verstaubtesten Produkte entsorge. Das ist so falsch.
Für Schmink-Fehlkäufe, die man wirklich gar nicht mehr verwenden möchte, gibt es Plattformen, auf denen man die Schminke ganz einfach tauschen kann. Ansonsten habe ich mir nun vorgenommen, mich erst einmal noch mehr zu schminken. Einfach nur, um meine Schminkvorräte langsam aber sicher aufzubrauchen. Das ist für mich die bessere Lösung, als radikal alle Schminkprodukte wegzuschmeißen. So probiere ich noch mal alles aus und bekomme ein besseres Gespür dafür, was ich wirklich will, um danach weniger und bewusster einkaufen zu können, z.B. Naturkosmetik.
Für mehr Natürlichkeit?
Es gibt meiner Meinung nach noch einen zweiten Grund, warum wir uns mehr schminken sollten, aber dafür muss ich etwas ausholen. Sich so heftig zu schminken ist eindeutig ein aktueller Trend. Auch Kosmetik unterliegt, wie Mode, wechselnden Trends. Früher war es blaue Maskara, die dünn weg gezupften Augenbrauen oder der angemalte Leberfleck. Doch diese Trends sind zum Glück längst passé. Trends haben eine begrenzte Lebensdauer. Was gestern noch cool war, wird plötzlich uncool, wenn Uschi von der Tankstelle und Susi von nebenan (sorry Uschi und Susi) den gleichen Look wie ich haben. Dann wird es schon wieder Zeit für einen neuen Look. Trends sind cool, solange man sich von der Uschi-und-Susi-Masse abhebt.
Grund zwei, warum wir uns mehr schminken sollten ist also, dass damit der Schminktrend und damit einhergehende Trends wie Baking, Contouring, Highlighting und weitere Wortungetümer, die uns nur noch mehr Zeug in’s Gesicht treiben wollen, so schneller uncool werden. Denn wenn alle mit der gleichen Einheitsmaske herumlaufen, ist das Schminken nichts besonderes mehr. Wer weiß, möglicherweise ist der neue Trend dann Natürlichkeit? Hashtags wie #nofilter, #wokeuplikethis und Stars wie Alicia Keys, die sich gar nicht mehr schminken, machen Hoffnung.
Schminken kann schön und selbstbewusst machen. Die aktuelle Entwicklung von Tutorials und Kosmetik-Hauls führt allerdings dazu, dass viele Mädels unrealistischen Schönheitsbildern nacheifern und ein ausartender Konsumwahn akzeptiert wird. Möglicherweise hat dieser ausartende Schminktrend die Folge, dass Natürlichkeit bald wieder in ist. Da sollte sich jede selbst an die möglicherweise contourierte Nase fassen und möglichst schnell auf den neuen Trend aufspringen.
Den schminkfreien Urlaub in der Schweiz habe ich übrigens ganz gut überwunden und war erst Mal immens froh, wieder bei meiner Schminke zu sein. Mittlerweile komme ich aber mit viel weniger Schminkprodukten super klar.
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