Foto: eOne Germany / Hanna Boussouar

Whistleblowerin Katharine Gun: „Dass Journalist*innen sich nicht mehr sicher fühlen, ist extrem gefährlich“

Mit dem Leak eines Geheimdokuments wollte Katharine Gun den Irakkrieg verhindern und Menschenleben retten. Der Film „Official Secrets“ erzählt ihre Geschichte. Im Interview spricht die Whistleblowerin über ihre folgenreiche Entscheidung und die Überzeugung dahinter.  

„Wir müssen aufhören zu fürchten und zu hassen“

Im Februar 2003 übermittelte Katharine Gun eine Mail des amerikanischen Geheimdienstes NSA (National Security Agency) an die britische Presse. Ihr Ziel: in der Öffentlichkeit eine Diskussion über die Legalität des Irakkrieges anstoßen und diesen vielleicht sogar verhindern. Im geleakten Dokument bittet die NSA die britischen Kolleg*innen um Amtshilfe bei einer illegalen Aktion: Man wollte die Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrats ausspionieren, dadurch belastendes Material sammeln und so eine Zustimmung zum Irakkrieg erpressen.

Den Kriegsbeginn konnte die Whistleblowerin nicht verhindern – aber sie löste damit einen Skandal und weltweite Empörung aus. Mit dem Leak verstieß Katharine Gun gegen den „Official Secrets Act“, dem sie als Mitarbeiterin des britischen Nachrichten- und Sicherheitsdienstes (GCHQ) unterlag. Darauf folgte ein zermürbender Prozess, der nicht nur ihre Freiheit und Sicherheit, sondern auch die ihres Mannes gefährdete. Sie wurde verhaftet, überwacht und angeklagt – nach Monaten der Ungewissheit wurde die Anklage schliesslich fallen gelassen, weil Guns Strafverteidiger*innen von der Staatsanwaltschaft Dokumente verlangten, die die britische Regierung belastet hätten. Mit „Official Secrets“ wurde die Geschichte von Katharine Gun, gespielt von Keira Knightley, nun verfilmt.

Im Interview erzählt Katharine Gun, weshalb sie mit dem Leak alles riskierte und was sie heute anders machen würde. Zudem sprechen wir über die gefährdete Rolle des Journalismus, Gewissensentscheidungen und die gesellschaftliche Verantwortung jedes*r Einzelnen.

Sie haben viel riskiert und geopfert, als Sie entschieden, ein Geheimdokument zu leaken. Ihre und die Zukunft Ihres Mannes, Ihre Freiheit, Sicherheit und Karriere. Warum haben Sie es dennoch getan?

„Um mein Handeln nachvollziehen zu können, muss man sich in die Zeit zu Beginn der 2000er-Jahre zurückversetzen. 2001 war Großbritannien bereits am Einmarsch und Krieg in Afghanistan beteiligt, 2003 verlagerten die Politiker*innen ihren Fokus plötzlich auf den Irak, was bei mir viele Fragen auslöste. Ich recherchierte und realisierte, dass viele Medien diesen neuen Fokus auf den Irak, den Tony Blair und George W. Bush verfolgten, nicht hinterfragten. Also suchte ich noch intensiver nach weiteren Quellen und Informationen, wodurch sich für mich immer deutlicher abzeichnete, dass es keine Rechtfertigung für diesen Einmarsch in den Irak gab. Als wir dann beim GCHQ die Mail von der NSA erhalten haben, fühlte es sich an, als hätte jemand den Vorhang zurückgezogen und offengelegt, was wirklich vor sich geht.

Hinzu kam der Tonfall und die Selbstverständlichkeit der Mail, die deutlich machten, dass man bei der NSA davon ausging, dass das GCHQ den geforderten illegalen Auftrag ausführen wird. Als ob es außer Frage stünde, dass der britische Nachrichtendienst Informationen über Delegierte des UNO-Sicherheitsrats sammeln würde, um die Verabschiedung einer Resolution zu erpressen, die einen Einmarsch in den Irak erlaubt. Ich fand das wirklich schockierend. Und ich dachte: Wenn die Öffentlichkeit und unsere Politiker*innen davon erfahren, gibt es eine Chance, diesen Zug, der in voller Fahrt Richtung Krieg fährt, zu verlangsamen oder gar aufzuhalten.“

Sie haben festgestellt, dass der Auftrag der NSA illegale Methoden verlangte. Das GCHQ beauftragte Sie und Ihre Arbeitskolleg*innen dennoch mit dessen Umsetzung. Woher nahmen Sie die Überzeugung und Gewissheit, dass es die richtige Entscheidung ist, diese Mail zu leaken?

„Um die Resolution für den Einmarsch in den Irak zu erhalten, sollten illegale Methoden wie Drohungen, Erpressungen und Zwang genutzt werden. Mir war klar, dass das nicht einem demokratischen Prozess entspricht. Wenn die Delegierten der UNO aus freien Stücken und ohne Einmischung von Außen über die Resolution abgestimmt und die Invasion in den Irak autorisiert hätten, wäre ich zwar enttäuscht über eine solche Entscheidung gewesen, aber hätte das akzeptierten müssen. Wenn aber in diesen Prozess eingegriffen und Diplomat*innen gezwungen werden, eine bestimmte Entscheidung zu treffen – und es dabei um so etwas Ernstes wie einen Krieg geht, ist das eine vollkommen andere Sache.“

Wie denken Sie heute über deine Entscheidung? Insbesondere wenn Sie darauf zurückblicken, welchen Einfluss diese Handlung auf Ihr Leben hatte?

„Ich würde es wieder tun. Doch rückblickend würde ich es ein bisschen anders machen: Ich würde direkt zur Presse gehen, statt das Dokument über eine anonyme Kontaktperson an die Journalist*innen weiterzugeben. Damals war es mir jedoch wichtig, anonym zu bleiben, um meinen Mann und mich aus der Öffentlichkeit rauszuhalten und zu schützen. Und ich muss zugeben, dass man bei einem*r Arbeitgeber*in wie dem GCHQ von Anfang an gesagt bekommt: Journalist*innen dürft ihr nicht trauen. Dadurch hegte ich sehr viel Misstrauen gegenüber den Medien, was allein schon den Gedanken, eine*n Journalist*in zu kontaktieren, schwierig machte.“

Die Whistleblowerin Katharine Gun wird im Film „Official Secrets“ von Keira Knightley gespielt.
Foto: eOne Germany

Weshalb würden Sie sich rückblickend direkt an die Medien wenden?

„Mir war nicht bewusst, dass die Journalist*innen derart lange brauchen würden und so viel Aufwand betreiben müssen, um die Authentizität des geleakten Dokuments zu verifizieren. Dadurch ging damals wertvolle Zeit verloren. Der Journalist Martin Bright, der die Mail zum Schluss erhalten hat, sagte mal zu mir: ,Du bist die schlechteste Whistblowerin aller Zeiten.‘, weil ich mich nicht auf direktem Weg an die Presse gewandt habe. In der Regel kann die Presse direkt mit den Whistleblower*innen zusammenarbeiten. In meinem Fall war die Ausgangslage für die Journalist*innen beim „Observer“ eine ganz andere. Für Martin Bright war es damals sicher frustrierend, nicht zu wissen, wer hinter dem Leak steckt und mich nicht darum bitten zu können, die Echtheit des Dokuments zu belegen. Später habe ich festgestellt, dass es sehr wohl Journalist*innen gibt, denen man vertrauen kann, die ehrenwert und integer sind. Wenn man als Whistleblower*in direkt mit der Presse zusammenarbeitet, erreicht man sicher mehr.“

Dass Journalist*innen ihre Furchtlosigkeit verlieren und sich nicht mehr sicher fühlen, ist eine extrem gefährliche Entwicklung.

Immer mehr Menschen zweifeln an der Integrität der Medien. Ihr Blick auf den Journalismus hingegen scheint sich eher zum Positiven verändert zu haben.

„Journalismus ist ehrenwert, unter der Prämisse, dass Journalist*innen einen ehrenwerten Job machen. Der Fokus sollte nicht auf dem Beruf selbst liegen – es ist absolut klar, dass es sich dabei um einen wichtigen und notwendigen Beruf handelt – sondern darauf, dem Journalismus die Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen zu ermöglichen. Journalist*innen müssen davor geschützt werden, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten und es muss gewährleistet sein, dass sie sich sicher genug fühlen, heikle Informationen öffentlich zu machen. Martin Bright meinte, im Laufe der letzten Jahre beobachte er zunehmend, dass Journalist*innen ihre Furchtlosigkeit verlieren und sich nicht mehr sicher fühlen – das ist eine extrem gefährliche Entwicklung. Wir sind darauf angewiesen, dass Journalist*innen ihren Job machen können, um Missstände aufzudecken und darüber zu berichten. Die Rolle der Medien sollte es sein, die Öffentlichkeit zu informieren, für sie zu schreiben und nicht für die Menschen an der Macht.“

Wie die eigene Wahrheit finden, wenn rund um einen herum ein Orchester an Meinungen spielt?

Was raten Sie Menschen, die das Gefühl haben, dass weltweit so viel Unrecht geschieht und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen?

„Das lässt sich gar nicht so einfach beantworten. Ich bin beispielsweise bewusst nicht auf Social Media, weil ich glaube, dass wir erdrückt werden von all den Informationen und Meinungen, die uns dort erreichen. Das verwirrt und erschwert, herauszufinden, wie man selbst zu einem Thema steht und was man denkt. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich die Zeit zu nehmen, allein mit den eigenen Gedanken zu sein. Um zu sich selbst zu finden, zu einer eigenen Meinung, die man sich unabhängig von den Ansichten anderer Personen bildet. Von da aus kann jede*r von uns versuchen, die Wahrheit zu erkennen. Wie will man die eigene Wahrheit finden, wenn rund um einen herum ein Orchester an Meinungen spielt? Das macht es schwierig, sich eine eigene Meinung zu bilden.“

Was würden Sie also zu Menschen sagen, die sich die Zeit genommen haben, in sich zu gehen und einen Missstand aktiv angehen möchten?

„Egal in welchem Bereich man arbeitet, ob als Journalist*in, als Anwält*in, in einer Organisation, jede*r von uns sollte versuchen, seinen*ihren Job so gut wie möglich und nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Am Ende des Tages ist das alles, was wir von anderen verlangen können. Und das ist an sich schon keine einfache Aufgabe. Außerdem möchte ich die Menschen auffordern, sich nicht von all den Botschaften der Angst und Spaltung beeinflussen zu lassen, die uns weltweit erreichen. Wer aus Angst, Stress oder Wut handelt, trifft eher die falsche Entscheidung. Es ist unbedingt notwendig ist, dass die Menschen aufhören zu fürchten, zu hassen und stattdessen versuchen, Brücken zu bauen, andere zu verstehen und miteinander zu kommunizieren. Wenn wir das nicht hinbekommen, bricht alles zusammen.“

Ich denke, dass wir die Kontrollmechanismen für jene an der Macht neu bewerten müssen. Aktuell stimmt das Gleichgewicht nicht mehr.

Haben Sie durch Ihre Erfahrungen Vertrauen in die Politik verloren?

„Ich denke, dass wir die Kontrollmechanismen für jene an der Macht neu bewerten müssen. Aktuell stimmt das Gleichgewicht nicht mehr. Ich bin keine Politikstudentin, ich kenne die bestehenden Systeme wahrscheinlich nicht gut genug, aber aktuell scheint es, dass Politiker*innen nicht zur Rechenschaft gezogen werden für ihre Entscheidungen. Und falls das irgendwie möglich ist, sollten wir Wege finden, gewisse Kontrollmechanismen zu installieren, um sicherzustellen, dass kein Verfassungsorgan zu viel Macht erlangt.“

Eine einzelne Handlung mag winzig erscheinen, aber wenn mehr und mehr Menschen handeln, hat das einen kumulativen Effekt und die kleinen Handlungen gewinnen an Bedeutung.

Wie blicken Sie heute darauf zurück, dass Ihr Handeln nicht die gewünschte Wirkung hatte: Ihr Leak hat den Krieg nicht verhindert.

„Ich glaube, dass sich der Versuch, etwas zu bewirken, dennoch lohnt. Eine einzelne Handlung mag winzig erscheinen, aber wenn mehr und mehr Menschen handeln, hat das einen kumulativen Effekt, es entsteht eine neue Dynamik und die kleinen Handlungen gewinnen an Bedeutung. Bei einer Handlung sollte es nicht um das Resultat gehen, sondern um den Impuls, den diese Handlung auslöst.

Ich finde es wichtig, darüber nachzudenken, weshalb man aktiv werden will. Um eine bestimmte Wirkung zu erzielen? Oder weil man damit das Richtige tut? Ich würde mich dafür aussprechen, aktiv zu werden, wenn man das Gefühl hat, dass man das Richtige tut. Denn: Wir können nie mit Sicherheit sagen, was das Resultat unserer Handlungen sein wird.“

Was sollen die Zuschauer*innen aus dem Film mitnehmen?

„In erster Linie hoffe ich, dass die Zuschauer*innen das Filmerlebnis genießen und danach die Botschaften des Films verbreiten. Ich wünsche mir, dass ,Official Secrets‘ zu Gesprächen und Diskussionen über die Themen des Films anregt und dazu, darüber nachzudenken, was damals passiert ist und welchen Einfluss das auf das Zeitgeschehen hat. Zudem hoffe ich, dass Menschen, die in einflussreichen Positionen arbeiten – vielleicht sogar für die Regierung oder Nachrichtendienste – darüber nachdenken, ob ihre Arbeit und Handlungen mit ihrem Gewissen vereinbar sind.“

Die Geschichten männlicher Whistleblower sind verbreiteter als die weiblicher. Kennen Sie Geschichten mutiger Frauen, die Ihrer ähnlich sind?

„Es gibt sie, die Whistleblowerinnen, beim FBI beispielsweise Coleen Rowley und Sibel Edmonds. Ich bin mir sicher, dass es auch in anderen Bereichen wie der Pharmaindustrie, der Gesundheitsbranche oder der Unterhaltungsindustrie Whisteblowerinnen gab und gibt. Nur erhalten diese Bereiche wahrscheinlich nicht das gleiche Maß an Aufmerksamkeit wie Whistleblower*innen aus dem Politikbereich. Frauen, die die Möglichkeit haben, Missstände aufzudecken, sollten damit an die Öffentlichkeit gehen.“

Katharine Gun mit dem Journalisten Martin Bright, der damals das geleakte Dokument erhielt und publizierte. Foto: eOne Germany / Hanna Boussouar

Sie haben sich mit Keira Knightley ausgetauscht und waren in einer Expertinnen-Rolle bei der Produktion des Films beteiligt. Weshalb haben Sie entschieden, dieses schwierige Kapitel Ihres Lebens nicht einfach zu schließen?

„Diese Entscheidung traf ich bereits vor mehr als zehn Jahren. Es gab mehrere gescheiterte Versuche, diese Geschichte in Form eines Films zu erzählen. Immer wieder bekamen Martin Bright und ich zu hören, wie großartig diese Story sei, dass man daraus einen Film machen würde – nie wurde es realisiert. Vor drei Jahren entstand dann der Kontakt zu einer neuen Produktionsgesellschaft, einem neuen Regisseur und plötzlich ging es vorwärts. Dazu muss man wissen, dass es fast unmöglich ist, diese Art von Independent-Film zu produzieren, das erfordert viele Verhandlungen. Der Produzent des Films war großartig, als es darum ging, allen involvierten Personen gerecht zu werden.

Es ist bemerkenswert, dass dieser Film tatsächlich produziert wurde. Ich bin dankbar, dass die Geschichte rund um diesen Leak Aufmerksamkeit erhält und nicht nur eine Fußnote in der Geschichte des Irakkriegs bleibt. Tatsächlich ist mein Leak nämlich nicht Teil des offiziellen Narrativs rund um den Irakkrieg und war leider auch nie Teil einer öffentlichen Untersuchung der politischen Ereignisse.

Selbstverständlich gibt es viele wichtige Geschehnisse, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, doch ,Official Secrets‘ behandelt gleich mehrere Themen, die an die Öffentlichkeit gehören. Mir wurde durch den langen Entstehungsprozess bewusst, wie viele Geschichten wahrscheinlich nie erzählt werden. Das bringt einen zum Nachdenken, über all die Fälle, die vergraben und vergessen wurden.“

Heute lebt Katharine Gun mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Türkei. „Official Secrets“ läuft aktuell in den deutschen Kinos.

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