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Wie Armut und Sexismus zusammenhängen

Nach aktuellen Berechnungen werden Frauen und andere marginalisierte Personen auf der Welt im Jahr 2157 mit Männern gleichgestellt sein – so lange dürfen wir nicht warten, schreibt unsere Autorin.

Überall auf der Welt werden Frauen schlechter für ihre Arbeit entlohnt. Sie verdienen nur drei Viertel von dem, was Männern gezahlt wird. Handelt es sich um nicht-weiße Frauen oder LGBTQIA+ Personen, um Frauen mit sogenanntem Migrationshintergrund oder mit Behinderung, nimmt die Ungerechtigkeit zu. Auch unbezahlte Care-Arbeit leisten Frauen im Vergleich zu Männern doppelt bis zehnmal so viel, oft neben ihrer Erwerbsarbeit. Werden beide Arten der Beschäftigung zusammengefasst, arbeitet eine Frau in ihrem Leben im Schnitt vier Jahre mehr als ein Mann. Oder anders: Der Wert der unbezahlten Arbeit wird jedes Jahr auf mindestens 10,8 Billionen US-Dollar geschätzt – mehr als dreimal so viel wie der Umsatz der globalen Technologiebranche.

Armut und Sexismus hängen zusammen. Mit der Corona-Pandemie wurden innerhalb weniger Monate 25 Jahre des globalen Fortschritts im Kampf gegen Geschlechterungleichheit zunichtegemacht. Wenn Frauen überproportional häufig in systemrelevanten und gleichzeitig stark unterbezahlten Berufen, etwa als Lehr- und Pflegekräfte, arbeiten, hilft ihnen während des weltweiten Lockdowns auch kein Klatschen vom Balkon. Wertschätzung muss sich nicht in Applaus, sondern in gerechter Bezahlung widerspiegeln. Das sollte besonders für die kommende Generation bedeutend sein: Verdienen Frauen ein angemessenes Gehalt, reinvestieren sie bis zu 90 Prozent in ihre Familien, in Bereiche wie gute Ernährung, Gesundheitsversorgung, Schule und nicht-schulische Ausbildung. Männer geben nur rund 30 bis 40 Prozent ihres Einkommens für diese Bereiche weiter. Das sind aber die Bereiche, die Armut in folgenden Generationen vorbeugen.

Es geht um Rechte, Macht und Ressourcen

Es geht nicht darum, Frauen und anderen marginalisierten Gruppen aus wirtschaftlichen Gründen Rechte, Macht und Ressourcen zuzugestehen. Vielmehr ist es schlicht eine Frage der Gerechtigkeit: Hälfte der Gesellschaft, Hälfte der Macht. Die jetzigen Ungleichheiten sind nichts weniger als der Ausdruck eines Systems, das von wenigen ohne Einbeziehung der Bedürfnisse aller geschaffen wurde. Es funktioniert für eine verhältnismäßig kleine und privilegierte Gruppe weißer Männer, deren Lebensrealität keineswegs repräsentativ für den Rest der Welt ist. Herzlich willkommen im Patriarchat!

Armut und Sexismus hängen zusammen. Allgemein und in Deutschland. Kein Land der Welt hat es bisher geschafft, Frauen und Männer gleichzustellen. Laut Weltwirtschaftsforum wird es ab diesem Jahr noch 136 Jahre dauern, bis Gleichberechtigung weltweit erreicht sein wird. Allein im vergangenen Jahr haben die Auswirkungen der Corona-Pandemie diese Zahl um weitere 35 Jahre in die Höhe getrieben. Dieser Status Quo ist untragbar. Deutschland steht vor einer neuen Bundestagswahl. Wer auch immer Kanzler*in wird, muss Geschlechtergerechtigkeit priorisieren. Wie das aussehen kann? Vor allem feministisch. Also die Forderungen und Bedürfnisse von marginalisierten Gruppen und politischen Minderheiten wie Frauen in den Mittelpunkt stellend, und zwar konsequent von der Erstellung des Bundeshaushalts, über die Außenpolitik bis hin zur Entwicklungszusammenarbeit.

Entwicklungsfinanzierung ist nicht wirkungslos!

Zur Veranschaulichung ein konkretes Beispiel: Deutschland hat sich selbst zum Ziel gesetzt,  0,7 Prozent seiner Wirtschaftskraft in Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Diese Finanzierung hat in den vergangenen zwanzig Jahren einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass extreme Armut halbiert, vermeidbare Krankheiten bekämpft und viele weitere Nachhaltige Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der Agenda 2030 verfolgt werden konnten. Zum ersten Mal haben mehr Menschen Zugang zu Medikamenten gegen Aids, als es Menschen gibt, die sich neu mit HIV infizieren; Millionen Kinder in Subsahara-Afrika besuchen eine Grundschule, was ihnen vorher unmöglich war. Wirkungslosigkeit, mit der Entwicklungsfinanzierung oft abgetan wird, sieht anders aus.

Deutschland ist im Ausschuss für Entwicklungshilfe der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD) bereits seit mehreren Jahren zweitgrößter Geber. Das klingt erstmal gut. Doch es gibt einen Haken: Bei den Ausgaben für die Gleichstellung der Geschlechter im Verhältnis zur Größe seiner Wirtschaft liegt Deutschland weit abgeschlagen auf dem 15. Platz. Nur knapp zwei Prozent der Projekte verfolgen als Hauptziel die Gleichstellung der Geschlechter. Der Durchschnitt unter den Geberländern liegt immerhin bei 5,5 Prozent. Hier hat Deutschland immensen Nachbesserungsbedarf. Mindestens 85 Prozent deutscher Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit sollten Geschlechtergerechtigkeit als Nebenziel und 20 Prozent als Hauptziel verfolgen. Frauen reinvestieren 90 Prozent in ihre Familien. Man stelle sich eine Welt vor, in der Frauen dieselben Gelder wie Männern zustehen. Wie würde unsere Welt dann aussehen? Sicherlich anders, und für viele Teile der Gesellschaft sicherlich besser.

„Eine feministische Politik priorisiert eine geschlechtersensitive Armutsbekämpfung. Überall, egal ob im In- oder Ausland.“

Feministische Politik rettet das Klima und schwächt das Militär

Armut ist sexistisch, und „Budgeting is politics“ („Ausgabenplanung ist Politik“), sagt meine Mentorin Kristina Lunz, Mitbegründerin und Leiterin des Centre for Feminist Foreign Policy, bei dem ich arbeite. Wir können sehr gut nachvollziehen, welche politischen Prioritäten eine Regierung hat, gemessen daran, wo sie investiert und wer primär davon profitiert. Stimmen Wahlkampfversprechen und Prioritäten in der Haushaltsplanung überein? Werden Geschlechtergerechtigkeit und die Bekämpfung der Klimakrise effektiv und langfristig subventioniert oder sind es am Ende doch der Automobilsektor und die Kohleindustrie? Wenn wir es ernst meinen mit der Geschlechtergerechtigkeit, bedarf es langfristiger, substanzieller Investitionen, die an den echten Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtet sind, die größten Herausforderungen unserer Zeit priorisieren und damit eines Gender-Budgetings des gesamten Bundeshaushalts einschließlich des Etats für Entwicklungszusammenarbeit.

Eine feministische Politik im In- und Ausland bedeutet, strukturelle Ursachen von Ungleichheiten systematisch anzugehen und dementsprechend sozio-politische Prioritäten zu setzen. Einige Beispiele: Laut UN sind 80 Prozent der durch den Klimawandel vertriebenen Menschen Frauen. Eine feministische Politik verfolgt eine ernstzunehmende, wissenschaftlich fundierte Strategie zur Bekämpfung der Klimakrise und priorisiert die Einhaltung des Pariser Abkommens. Deutschland ist derzeit viertgrößter Waffenexporteur und exportiert in Krisengebiete, dabei stehen Waffen in direktem Zusammenhang mit zunehmender sexualiserter und geschlechtsspezifischer Gewalt. Eine feministische Politik investiert weniger Geld in Militär.

Der Einsatz für reproduktive Rechte im Ausland ist lobenswert, jedoch glaubwürdiger, wenn im Inland die längst überfällige Änderung beziehungsweise Abschaffung der Paragrafen 218 und 219a des Strafgesetzbuches erfolgen würden – jener Paragrafen, dank derer ein Schwangerschaftsabbruch in Deitutschland weiterhin rechtswidrig ist und Ärzt*innen nicht über den Eingriff informieren dürfen. Eine feministische Politik schafft mehr Übereinstimmungen zwischen Innen- und Außenpolitik. Nur 1,9 Prozent der deutschen Investitionen für Entwicklungszusammenarbeit fördert Projekte mit Geschlechtergerechtigkeit als Hauptziel. Innerhalb Deutschlands gingen vom Konjunkturpaket 2020 gerade einmal 4,2 Prozent an Branchen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten. Eine feministische Politik priorisiert eine geschlechtersensitive Armutsbekämpfung. Überall, egal ob im In- oder Ausland.

Baerbock, Laschet und Scholz, denkt feministisch!

Richtlinie einer genuin feministischen Politik müssen die Ziele für Nachhaltige Entwicklung, das Menschenrechtssystem und die Forderungen der feministischen Zivilgesellschaft sein. Ohne letztere gibt es nämlich keinen Wandel. Françoise Girard, ehemalige Leiterin der International Women’s Health Coalition, beschreibt dieses Phänomen in der Stanford Social Innovation Review wie folgt: Feministische Koalitionen haben fundamental geändert, wie die Welt über die Gleichstellung der Geschlechter denkt und diese priorisiert. Von der Schaffung der UN Commission on the Status of Women (1946) bis hin zu den Verhandlungen, die 2015 zu den Zielen für Nachhaltige Entwicklung führten: Es war stets die Mobilisierung feministischer Zivilgesellschaft, die Regierungen dazu drängte, die Gleichstellung der Geschlechter und die Rechte von Frauen in internationalen Abkommen und Normen einzubeziehen. Ohne intersektional feministische Zivilgesellschaft gibt es keinen Wandel.

Armut ist sexistisch; sie ist Ausdruck patriarchaler Machtstrukturen, die nur für wenige funktionieren. Es bedarf einer intersektional feministischen Politik, um sie zu überwinden und den größten Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Eine feministische Politik geht die Ursachen von Ungleichheiten wie Armut systematisch an. Sie trifft Entscheidungen gemeinsam mit denjenigen, die am meisten von ihren Auswirkungen betroffen sind. Sie schafft ein System, das für alle funktioniert, indem sie alle an der Macht beteiligt. Eine feministische Politik ist eine Politik für alle.

Antonia Baskakov ist Strategic Advisor to the Executive Director beim Centre for Feminist Foreign Policy und leitet Projekte zu feministischem Völkerrecht, transatlantischen Beziehungen, Frieden und Sicherheit. Zuvor arbeitete sie in einer Vielzahl von menschenrechtsbezogenen Bereichen, unter anderem in der Rechtsforschung zu Völkerrecht mit einem Schwerpunkt auf Genozidprävention und zu vergleichendem Verfassungsrecht an der Berkeley Law School und Stanford Law School; im NGO-Bereich (YWCA USA, Human Rights Watch) und in der Politik (Deutscher Bundestag). Antonia studiert Rechtswissenschaften in New York und schloss 2020 ihr Doppelstudium in Geschichte und Literatur in Heidelberg, London und Potsdam mit einem thematischen Schwerpunkt auf Menschenrechten und regionalem Fokus auf den USA ab. Sie ist Jugendbotschafterin für ONE, die weltweite Bewegung zur Bekämpfung extremer Armut und vermeidbarer Krankheiten bis 2030.

 

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