Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Sara Hassan
Permanent unter Strom
Menschen, die sich inmitten der Corona-Krise erstmals im Homeoffice wiederfinden, können von der Strukturlosigkeit und Isolation leicht überwältigt und gestresst werden. Wenn man nicht gelernt hat, damit umzugehen, kann aus dem Homeoffice auch ganz schnell die Hölle im Wohnzimmer werden. Man könnte ja schließlich ständig arbeiten und produktiv sein – und steht so permanent unter Strom. Freelancer*innen kennen den Drill – auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, allein zu arbeiten und in Ungewissheit zu leben, ist fester Bestandteil ihres Alltags.
Dieses Leben ringt Menschen einige Strategien ab, um sich zu Hause freizuspielen, richtige Pausen zu machen, produktive und unproduktive Phasen auszubalancieren. Halten wir das gleich zu Beginn fest: Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Welt, wie wir sie kennen, in guten Teilen gerade stillsteht – dauerhaftes Homeoffice ist an sich schon wirklich nicht leicht. Gut gemeinte Ratschläge helfen nicht darüber hinweg, dass man in viele Herausforderungen erst hineinwachsen muss. Trotzdem will ich meine Erfahrungen mit euch teilen: Das sind die Dinge, die ich in den letzten Jahren als Freelancerin gelernt habe.
Eine Routine finden
Es ist ja irgendwie immer so: Man merkt oft erst, wie viel Halt uns etwas gegeben hat, wenn es mal weg ist. Fixe Tagesabläufe, definierte Arbeitsplätze, geregelte Pausen und Arbeitskolleg*innen – das alles gibt einem Tag Struktur, über die man nicht weiter nachdenken muss, solange sie da ist. Wenn dann aber eine globale Pandemie ausbricht, und man sich all das zu Hause nachbauen muss, wird erst klar, wie viel Energie darin steckt.
Gerade in krisenhaften Zeiten, empfiehlt zum Beispiel der Berufsverband österreichischer Psycholog*innen – ist es wichtig, sich einen Teil von Routine zu bewahren und neue, sinnvolle Routinen zu basteln, die einem*r den Tag erträglich machen. Es gibt die Klassiker an unguten Angewohnheiten, in die man schnell hineinrutschen kann, wenn man urplötzlich keine solche Struktur mehr hat. Dazu gehört zum Beispiel: als erstes in der Früh katastrophale Meldungen zu lesen, die Angst einflößen, Stress auslösen und dann mit diesen Gefühlen den Tag zu beginnen. Also: Statt reflexartig den ersten Griff zu Handy und Laptop und sich gleich mal von zig ungelesenen E-Mails, angstmachenden Nachrichten und unbeantworteten Messages überfluten zu lassen – erstmal zu sich kommen.
Es ist ziemlich hilfreich, sich eine Morgenroutine zu suchen, in der man sich erst mal Zeit für sich selbst nimmt, sich in seinem Umfeld zurechtfindet und mit seiner Realität eincheckt, bevor man sich ins Getümmel wirft. Ob meditieren, frühstücken, Tagebuch schreiben oder ausgiebig ins Nichts starren – alles was hilft, sich erstmal zu sammeln und zu erden, bevor es richtig losgeht, geht einen langen Weg.
Über den Tag immer wieder mal mit sich einzuchecken, bringt gerade jetzt sehr viel. Die Psychologin Friederike Gerstenberg nennt diese Methode Blitzlicht – immer wieder mal zu überprüfen, was eigentlich gerade los ist und wie man sich eigentlich gerade fühlt. Wer das häufig macht, kennt sich mit der Zeit nicht nur sehr genau, es hilft auch, Ausbrennen vorzubeugen.
Den eigenen Rhythmus finden
Stress und Schuldgefühle, wenn man nicht immer arbeitet, verleiten eine leicht dazu, den kompletten Büroalltag zu Hause nachzustellen – nur ohne Kolleg*innen, ohne Pausen, ohne Wege. Das ist das schlechteste aus beiden Welten. Gerade wenn der Alltag vielleicht gar nicht mit individuellen Bedürfnissen kompatibel ist.
Dabei ist ja gerade das einer der Vorteile des Zuhausearbeitens: Man kann für sich herausfinden, was funktioniert und den Arbeitstag nach der inneren Uhr ausrichten. Finde für dich heraus, wann du am konzentriertesten arbeiten kannst: Ist das frühmorgens oder spätabends? Wann brauche ich meine absolute Aufmerksamkeit, und welche Aufgaben lassen sich vielleicht im „carbs coma“ nach einer üppigen Pasta erledigen.
Extra Tipp: Das „Little Black Book“ von Othega Uwagba ist eine Goldgrube hilfreicher Strategien, insbesondere für freischaffende Frauen. Zum Beispiel rät die Autorin, sich Blöcke von eineinhalb Stunden einzuteilen und dann Pause zu machen – und zwar egal, wie gut es gerade läuft. Der Trick: Statt bis zur Erschöpfung weiterzuarbeiten und dann alles von sich werfen wollen, weil man sich überlastet hat, ist man deutlich motivierter, nach einer Pause wieder dort weiterzumachen, wo es vorher richtig gut gelaufen ist.
Nicht alles auf einmal machen, nur weil man’s eben könnte
Wenn ich gut drauf und motiviert bin und niemanden habe, der mich davon abhält, reiße ich in spontanen Ausbrüchen von Tatendrang gern alle Projekte, die ich bis dahin aufgeschoben hatte, auf einmal an. In einem lichten Moment nach einer ausgedehnten Phase der Prokrastination ist es verlockend, diese ganzen belastenden Pakete auf einen Schlag anzugehen, jedes mögliche und unmögliche Projekt in der Pipeline anzustoßen und anzufangen. Das Problem: Kaum ist dieser Anflug von Tatendrang verflogen, wollen all diese neuerdings offenen Projekte gleichzeitig was von einem*r und kein Mensch kann dabei auch nur irgendeinen Überblick bewahren. Es gibt diverse Prinzipien, die dabei helfen, diesem Drang zu widerstehen und richtig Prioritäten setzen zu lernen. Eine simple Matrix liefert zum Beispiel das Eisenhower-Prinzip, mit dem man seine Aufgaben anschaulich danach clustern kann, was wichtig und was dringend ist. Vor allem sieht man auf einen Blick, was nicht wichtig und nicht dringend ist, also die längste Zeit einfach nur unnötig Raum eingenommen hat und sofort in die Tonne gehört.
Pausen, und zwar echte
Wenn es noch eine Grenze zwischen Arbeit und Freizeit gegeben hat, verwischt die gerade endgültig und wir könnten quasi in jedem wachen Moment arbeiten. Das wird uns aber vor allem kaputt machen, darum: Zeitblöcke fixieren, in denen gearbeitet wird, und danach die Arbeit niederlegen, und zwar richtig. Was für mich funktioniert: Ich schließe mit mir Deals für Zeitfenster, in denen nichts Arbeitsbezogenes passiert und halte dieses Versprechen auch ein. Wenn diese arbeitsfreien Zeiten nicht klar definiert sind, kommt man nie ganz zur Ruhe. Kaum hat man eine kurze Atempause eingelegt, kommt ein guter Gedanke angeflogen und man könnte ja nur ganz kurz – und schon ist man wieder mitten drin. Informelle Pausen reichen nicht, es braucht eine klare Trennung von „Work“ und „Play“, sonst läuft das Arbeitsgehirn immer mit. Versprich deinem Gehirn, dass du nicht nur ganz schnell die Mail checkst, deinen Kolleg*innen im Gruppenchat antwortest oder doch noch einen kurzen Blick auf den Absatz wirfst, an dem du hängengeblieben bist.
Der beste Stand ist Abstand – arbeitsfreie Inseln
Arbeit wird nicht besser, wenn man sie ausdehnt. Und es ist schwierig, mal abzuschalten, wenn man an einem und demselben Ort mit demselben Gerät arbeiten und abschalten soll. Man kann eben nicht unbedingt auf Netflix runterkommen, wenn daneben aus den anderen 87 offenen Tabs unerledigte Rechnungen, Texte, und Workshop-Konzepte linsen. Darum: Nicht-arbeitsbezogene Orte schaffen, weil ansonsten überall die gleiche Anspannung besteht. Das kann ganz konkret räumlich sein, indem man Plätze definiert, an denen jedenfalls nicht gearbeitet wird, um kleine Inseln zu haben, auf denen man sich ausruhen kann, und wo auf jeden Fall nur Freizeit herrscht. Und das kann beziehungstechnisch sein und bedeuten: mit Menschen zu tun haben, die nichts mit der eigenen Arbeit zu tun haben, mit denen man über etwas anderes als Arbeit sprechen kann.
Nur noch schnell selbstoptimieren
Das kapitalistische Mindset ist so tief in uns alle eingeschrieben, dass jetzt alle die Idee haben, ihre Zeit zu nutzen, und so produktiv wie möglich zu sein, ein Buch zu schreiben, am besten gleich mehrere Fremdsprachen zu lernen, Vorlesungen über Quantenmechanik zu streamen. Als wäre der Druck nicht schon hoch genug. Man darf die Zeit auch unstrukturiert lassen, man muss (und kann) Kreativität nicht erzwingen, eine Pause darf auch einfach nur eine Pause sein – gerade in Zeiten von Stress, Krankheit und Unübersichtlichkeit sind echte Ruhepausen, in denen nicht weiter Druck für Selbstverwirklichung herrscht, genau das, was wir alle brauchen und uns erlauben sollten.
Allianzen bilden
Was für mich die größte Erleuchtung der letzten Monate war: Ich bin nicht alleine mit meinem Problem, sondern sehr viele meiner Kolleg*innen kämpfen mit „life admin“, also dem ewigen Aufschieben aller administrativen Aufgaben, die nicht unbedingt gemacht werden müssen und deren Erledigung eigentlich nur einemr* selbst etwas bringen. Zu realisieren, dass man mit anderen in einem Boot sitzt, sich dann einen Termin ausmachen und sich gemeinsam an die besonders ekelhaften Erledigungen machen – die Reiseversicherungsunterlagen, die seit sechs Monaten herumliegen, die längst überfällige Rechnung für die Bücher, die man noch der Unibibliothek schuldet, endlich bei der Zahnärztin anrufen, etc. etc. – ist Gold wert und zusammen geht das alles unendlich viel besser.
Sachen machen, bevor sie gemacht werden müssen
Klingt banal, eingeschworene Prokrastinierer*innen werden die Augen rollen, aber Dinge erledigen, bevor sie dringend werden, ist der Life Hack, der alles so viel besser macht. Wenn man Dinge erledigt, solange sie noch irgendwie angenehm, spielerisch, nebenbei gehen, also noch nicht wirklich Aufgaben sind oder sich zumindest nicht nach absolutem Muss anfühlen, spart man unheimlich viele Nerven und Stress. Wenn man hingegen wartet, bis die Deadline unmittelbar bevorsteht und es wirklich kein Entrinnen mehr gibt, ist man am Ende so gelähmt, dass gar nichts mehr geht. Machen, solange es leicht geht. Also am besten jetzt sofort!
Die Wahrheit ist: Man kann noch so viele elaborierte Zeitmanagementstrategien haben und mag auch noch so stressresistent sein: Wir leben gerade in Zeiten großer Unsicherheit. Entsprechende Unsicherheitsgefühle, Unruhe, Rastlosigkeit gehören dazu, können immer wieder hochkommen und dürfen wir uns erlauben. Der Verlust von Tagesstruktur, dem Arbeitsumfeld und sozialen Netz ist kein Zuckerschlecken. Die Situation ist außerordentlich und wir sollten uns nicht noch zusätzlich unter Druck setzen, wenn mal nicht alles funktioniert.
Ja, wir sind alle auf uns zurückgeworfen – aber, der entscheidende Unterschied zu sonst: Wir sind viele, die das gerade gemeinsam erleben. Das allein kann schon ungemein tröstlich sein.
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus und Arbeit), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik) und Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie).