Der Vergewaltigungsprozess in Avignon zeigt auf erschütternde Weise, wie normalisiert sexualisierte Gewalt gegen Frauen in unserer Gesellschaft ist. Insgesamt 51 Männer haben Gisèle Pélicot vergewaltigt, während sie bewusstlos war. Die Urteile werden bis zum 20. Dezember erwartet. Wir sprachen mit Blandine Deverlanges von der feministischen Gruppe Les Amazones d’Avignon, die Gisèle Pélicot von Beginn an durch den Prozess begleitete.
Die heute 72jährige Gisèle Pélicot wurde über einen Zeitraum von fast zehn Jahren von ihrem Ehemann Dominique Pélicot mit Medikamenten betäubt, vergewaltigt und in bewusstlosem Zustand anderen Männern zur Vergewaltigung „angeboten“. Die Taten fanden zwischen 2011 und 2020 statt. Insgesamt sind 51 Männer angeklagt, darunter Dominique Pélicot selbst. Der Hauptangeklagte hat gestanden. Die Anklage umfasst mehr als 350 Seiten mit detaillierten Berichten über die sexualisierte Gewalt, die Gisèle Pélicot von den Männern angetan wurde.
Die den Vergewaltigungsprozess in Avignon beschreibenden Berichte und Protokolle sind schwer zu ertragen. Zugleich zwingen sie die Welt, hinzusehen. Hinzusehen nach Avignon, aber auch in alle anderen Richtungen, denn die Gewalt und der Hass gegen Frauen und Mädchen nimmt überall zu. Gisèle Pélicot hatte sich bewusst dafür entschieden, den Prozess öffentlich zu machen. Sie sagte: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ – Ein Satz, der von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen auf der ganzen Welt Mut macht und deutlich zeigt, wer die alleinige Schuld trägt und dafür zur Verantwortung gezogen werden muss, nämlich die männlichen Täter. Im Vergewaltigungsprozess von Avignon werden die Urteile gegen die 51 Täter bis zum 20. Dezember erwartet.
Der Vergewaltigungsprozess hat eine große Welle der Solidarität und des Mutes ausgelöst. Viele Frauen in Frankreich gehen bis heute nahezu täglich auf die Straße, um gegen die Gewalt zu protestieren und Gisèle Pélicot zu unterstützen. Die Feministin und Aktivistin Blandine Deverlanges begleitete als Teil der feministischen Gruppe Les Amazones d’Avignon Gisèle Pélicot in der Zeit vor Prozessbeginn bis heute. Vor dem Gerichtsgebäude hängt die Gruppe Plakate und Transparente auf: „Un viol est un viol!“ – „Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung.“ Warum? Das erklärt Blandine Deverlanges im Interview. Außerdem spricht sie darüber, wieso dieser Prozess das Potenzial hat, wirklich etwas zu verändern.
Blandine, wann und warum wurde die Gruppe Les Amazones d’Avignon gegründet? Wie sieht eure Arbeit im Einzelnen aus?
„Die Gruppe Les Amazones d’Avignon wurde Ende 2019 gegründet. Wie viele andere Gruppen in Frankreich begannen wir, gegen Femizide zu protestieren, indem wir Plakate an Wände klebten – jeder einzelne Buchstabe auf einem DIN-A4-Blatt, daraus setzten wir Botschaften zusammen.
Mit der Zeit erweiterten wir unsere Themen auf alle Formen männlicher Gewalt gegen Frauen: Gewalt im Bereich Pornografie, pädokriminelle Handlungen, Inzest, Leihmutterschaft, Vergewaltigung, sexualisierte Gewalt, weibliche Armut und so weiter.
Wir sind feministische Aktivist*innen und haben schnell gemerkt, dass klassischer Aktivismus Grenzen hat. Medien filtern unsere Botschaften, Politiker*innen hören uns nicht zu. Deshalb haben wir entschieden, uns direkt an die Bevölkerung zu wenden und uns von rechtlichen Zwängen zu lösen. Unser Hauptausdrucksmittel ist das Plakatieren, aber wir führen auch andere Aktionen durch, etwa das Anbringen von Bannern an schwer zugänglichen Orten, Bodenmalereien, Demonstrationen mit Rauchfackeln oder Proteste wie vor Gérard Depardieus Konzerten.“
„Wir sind besorgt über den Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich und weltweit, die zunehmende Intoleranz und die Normalisierung sexualisierter Gewalt.“
Blandine Deverlanges
Was sind die Hauptziele und Anliegen von Les Amazones d’Avignon?
„Unser Hauptziel ist es, das allgemeine Toleranzniveau gegenüber männlicher Gewalt zu senken. Wir verwenden direkte, manchmal schonungslose Worte, um Frauen zu zeigen, dass sie nicht allein sind und sich zusammenschließen müssen.
Wir sind besorgt über den Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich und weltweit, die zunehmende Intoleranz und die Normalisierung sexualisierter Gewalt, die in der Pornografie und der Erotisierung von Gewalt als wünschenswert dargestellt wird.“
Ihr begleitet den Pélicot-Prozess von Anfang an. Wie habt ihr den Prozess erlebt?
„Wir waren schon lange vor Prozessbeginn dabei und bereiteten uns auf den Start am 2. September vor. Uns war sofort klar, dass dieser historische Prozess eine einzigartige Chance für Feminist*innen ist, die Kultur der Vergewaltigung und männliche Gewalt zu thematisieren.
Wir waren bei jeder Verhandlung dabei, um Gisèle zu unterstützen und auch anderen Frauen beizustehen, die allein oder durch die Aussagen der Verteidigung schwer belastet wurden. Einige Ex-Partnerinnen der Angeklagten, die aussagen mussten, hatten große Angst vor der Situation, und auch sie haben wir unterstützt.
Gisèle Pélicots Entscheidung, einen öffentlichen Prozess zu führen, war ein Geschenk. Sie hat uns ihre Geschichte anvertraut und damit ermöglicht, unsere eigenen Geschichten zurückzugewinnen und offen über Vergewaltigung und die dahinterstehende Kultur zu sprechen.“
„Die Scham muss die Seite wechseln.“
Gisèle Pélicot
Welche Bedeutung hat Gisèle Pélicot für euch, für Frankreich, für die Welt?
„Gisèle Pélicot hat ihre Geschichte allen Frauen geschenkt. Indem sie sich weigerte, ihre Geschichte privat zu halten, widersetzte sie sich der gesellschaftlichen Norm, die Frauen dazu bringt, sich für männliche Gewalt zu schämen. Wie sie selbst sagte: ,Die Scham muss die Seite wechseln.’
Die Öffentlichkeit wurde durch die Prozessdebatten und die gezeigten Videos mit der Realität konfrontiert und gezwungen, Vergewaltigung als das zu sehen, was sie ist: ein Verbrechen. Wir hoffen, dass diese Offenheit die Gesellschaft endlich zum Umdenken bringt.“
Sind Vergewaltigung, sexualisierte Gewalt und Frauenhass ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft? Wie können wir diesen Kreislauf durchbrechen?
„Frauenhass ist weit verbreitet. Im Fall Gisèle Pélicot haben sich hunderte Männer im Umkreis von zehn Kilometern an den Vergewaltigungen beteiligt oder davon gewusst – und keiner hat die Polizei verständigt. Das zeigt, wie tief die männliche Komplizenschaft in der Gesellschaft verwurzelt ist. Das muss sich ändern.“
„Männliche Gewalt ist ein Problem der Männer, und sie müssen Verantwortung übernehmen, statt von Frauen zu erwarten, auch dieses Problem für sie zu lösen.“
Blandine Deverlanges
Sehr viele Frauen sehen Gisèle Pélicot als Vorbild. Was sollten Männer jetzt tun?
„Das Mindeste, was Männer tun können, ist zuzuhören und zu schweigen. Sie sollen uns nicht erklären, was wir erleben oder wie wir handeln sollen. Männliche Gewalt ist ein Problem der Männer, und sie müssen Verantwortung übernehmen, statt von Frauen zu erwarten, auch dieses Problem für sie zu lösen.
Männer sind Erwachsene – sie sollen ihre Probleme untereinander klären, statt von Frauen Erziehung oder Unterstützung einzufordern.“
Gisèle sagte: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Warum ist dieser Satz so wichtig?
„Das Patriarchat hat es geschafft, Frauen glauben zu machen, sie seien schuld an der Gewalt, die ihnen widerfährt. Frauen werden nicht nur Opfer von sexueller Gewalt, sondern sollen sich auch noch dafür rechtfertigen, sei es vor der Polizei oder in Gerichten.
Der Pélicot-Prozess zeigt das deutlich: Einige Verteidiger haben Gisèle attackiert, als wäre sie für das, was ihr passiert ist, verantwortlich. Das ist unerträglich.“
In deutschen Medien wird von einer „französischen Revolution“ gesprochen, die der Pélicot-Prozess ausgelöst hat. Siehst du das auch so?
„Das ist unsere Hoffnung. Die Revolution wird FEMINISTISCH sein, oder sie wird nicht sein.“
Ihr habt vor dem Gericht Plakate mit „Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung“ aufgehängt. Was möchtet ihr damit zum Ausdruck bringen?
„Es war uns wichtig, klarzustellen: Es gibt keine ,gute’, ,kleine’ oder ,entschuldbare’ Vergewaltigung. Ein Verteidiger sagte einmal: ,Es gibt Vergewaltigung und Vergewaltigung.’ Nein! Es gibt nur Vergewaltigung. Und Vergewaltigung ist ein Verbrechen.“
„Das ist unsere Hoffnung. Die Revolution wird FEMINISTISCH sein, oder sie wird nicht sein.“
Blandine Deverlanges
Bis zum 20. Dezember sollen die Urteile gefällt werden. Was fordert ihr?
„Laut französischem Gesetz wird Vergewaltigung mit 15 Jahren Gefängnis bestraft, bei erschwerenden Umständen mit 20 Jahren. Für die 51 Vergewaltiger von Gisèle Pélicot fordern wir 20 Jahre Haft für jeden Einzelnen.“
Übersetzung aus dem Französischen: Anne-Kathrin Heier
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