Seitdem unsere Community-Autorin einen Rollator benutzt, wird sie oft bemitleidet. Dabei empfindet sie durch ihn vor allem eins: Freiheit.
Plötzlich wollte mein Körper nicht mehr wie ich
Mit elf Jahren veränderte sich mein Körper. Nein, nicht nur so, wie es in der Pubertät normal ist, sondern auf meine Motorik bezogen. Beim Geräteturnen fielen mir die Übungen auf dem Schwebebalken – bis dahin mein Lieblingsgerät – immer schwerer. Erklärt hat man sich das mit der Zunahme der Gedanken, die man sich macht, wenn man älter wird. Denn Angst hemmt bekanntlich. Dass ich aber gar keine Angst hatte, glaubte mir damals niemand. Daraufhin beschloss ich, mich doch mehr für dynamische Bodenübungen zu begeistern, denn eine Radwende fiel mir deutlich leichter als ein Handstand.
Ich versuchte einige andere Sportarten, besonders mochte ich Indiaca und ich tanzte gerne. Zum Beispiel im Jazztanzkurs hatte ich aber bestimmte Schwierigkeiten. Ich konnte zwar die Drehungen elegant ausführen, fiel aber nach deren Beendigung oft um, weil ich das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte – so macht das natürlich nicht so viel Spaß. Doch anstatt mich zu fragen, was mit mir nicht okay sein könnte oder den Sport an den Nagel zu hängen, gründete ich mit 16 eine Tanzgruppe für Mädchen, deren Trainerin ich wurde. Auf diese Weise konnte ich die Schrittkombinationen auswählen, die für mich unproblematisch waren. Die Drehungen endeten von da an meist in einem Sprung.
Ich fand immer neue Möglichkeiten, um weiter unabhängig zu bleiben
Mit Beginn meines Studiums gab ich die Tanzgruppen an meine ersten Mitglieder ab. In der Uni war ich nicht beeinträchtigt, denn Lesen, Schreiben und Vorträge halten konnte ich. Dass ich immer in flachen Schuhen kam und mit meinem Gang keinen Model-Contest hätte gewinnen können, interessierte dort niemanden, am wenigsten mich selbst. Nur in der Mensa verschüttete ich gerne die Getränke, was schnell mit einem Lachen und der Feststellung: „Ich bin die schlechteste Kellnerin der Welt!“, für alle Anwesenden erledigt war.
Nach dem Studium arbeitete ich als Touristenguide in einem Barockschloss und als Stadtführerin. Auch hier konnte ich mit meiner Begeisterung und Leidenschaft meinen eher wenig grazilen Gang vergessen machen. In den Monaten dazwischen arbeitete ich in Rom an meiner Dissertation oder half bei Ausgrabungen mittelalterlicher Burganlagen. Bei Letzteren stolperte ich einmal rückwärts in eine Grube und riss mir ein Band an. Doch statt abzubrechen und nach Hause zu fahren, kaufte ich mir Schmerztabletten, kühlendes Gel und eine Bandage und humpelte am nächsten Tag fest entschlossen wieder zur Ausgrabungsstelle. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können, denn nach diesem Malheur durfte ich die Profil- und Planungszeichnungen anfertigen, worin ich richtig gut war – was man vom Schieben einer Schubkarre nicht behaupten konnte …
Diagnose: Friedreich-Ataxie
Erst 2011 wurde mir die Diagnose gestellt: Friedreich-Ataxie. Das ist eine genetisch bedingte neurodegenerative Erkrankung. Nachdem ich bei der Abschlussbesprechung sehr erleichtert war, als mir versichert wurde, dass mein Denkvermögen nicht beeinträchtigt würde, waren die Ärzte etwas irritiert. Sie sagten: „Sie müssen verstehen, dass es eine schlimme Krankheit ist. Sie werden
irgendwann einen Rollstuhl brauchen.“ Aber es ist eben so, wie mein Vater sagt: „Irgendeinen Scheiß haben wir doch alle. Wichtig ist, dass man das Beste daraus macht.” Kurz darauf fuhr ich für zweieinhalb Jahre mit einem Promotionsstipendium nach Rom.
Rückblickend habe ich mich nie einschränken lassen, bis mein Gang in den letzten Jahren immer unsicherer und meine Schritte immer langsamer wurden. Ich begann plötzlich, mich zurückzuziehen und längere Strecken nur noch in Begleitung zu gehen. Ich „brauche“ keine Gehhilfe, wenn ich nur das Nötigste mache, meinen Partner einkaufen lasse und nicht planlos herumlaufe. Das wollte ich mir irgendwann aber nicht länger gefallen lassen, denn ich liebe das Reisen, das Besuchen von Museen, Schlössern und Burgen und meine Freiheit. Meine Mutter hatte mir schon für ein besonders schnittiges Modell von Rollator herausgesucht und mir die Werbung einfach mal aufs Bett gelegt. Danke dafür, Mama!
Das Leben mit einer Gehhilfe
Der Gedanke daran, eine Gehhilfe zu brauchen, war anfangs ehrlich gesagt sehr schlimm für mich, vor allem da ein Stock wegen des Tremors für mich nicht ausreicht. Ich will ja auf der Straße keine anderen Passanten umhauen, wenn ich das Gleichgewicht verliere. Deshalb war klar, dass nur ein Rollator wirklich helfen würde. Rollatoren sind aber meist unelegant, schwer und die offizielle Bezeichnung klingt für mich nach Foltergerät. Zudem sieht man eher wenige junge Menschen damit herumlaufen, auch, wenn Gehbehinderungen nicht selten sind. Das machte mir Bauchschmerzen. Dazu kam die Befürchtung, für meinen Partner an Attraktivität zu verlieren, wenn auch unterbewusst. Denn Gehhilfen jeglicher Art werden – zu Unrecht – leider noch oft mit älteren Menschen oder mit Krankenhäusern assoziiert. Ich wollte dieses Ding also nicht haben!
Doch als ich eine Verabredung mit einer Freundin in einem circa fünf Minuten entfernten Imbiss aus Unsicherheit absagte, wusste ich: „Hugo” muss her. Hugo, so nannte ich mein neues Gefährt. Mittlerweile weiß ich, dass es tatsächlich viele so machen, vermutlich um einen persönlicheren Bezug herzustellen oder um das grässlich klingende Wort „Rollator“ einfach nicht mehr benutzen zu müssen. Er ist rot mit schwarzen Punkten, leicht und mein neuer Begleiter. Mittlerweile macht er mir so viel Spaß, dass ich ihm einen eigenen Instagram Account angelegt habe: #hugo_auf_reisen.
Mein Rollator bedeutet vor allem eins: Freiheit
Meine Bedenken – und vor allem die Angst und Verzweiflung – verstehe ich heute nicht mehr so richtig. Denn seit ich den Rollator habe, bin ich wieder glücklicher. Erst als ich Hugo benutzte, wurde mir richtig bewusst, dass ich mich das erste Mal seit Jahren während des Gehens frei umschauen konnte, denn zuvor war mein Blick immer auf den Boden gerichtet. Es ist, als wäre ich die ganze Zeit ohne zu sehen durch die Welt gelaufen. Die Menschen lächeln mich jetzt an, wenn ich durch einen Bahnhof gehe, früher wurde ich eher skeptisch beäugt, mit Blicken, die mir zeigten, dass ihnen eine relativ junge, schwankende Frau suspekt ist. Apropos Bahnhof: Vor einigen Tagen hatte ich wegen einer Verspätung nur drei Minuten, um aufs nächste Gleis zu kommen – und, dank Hugo, habe ich es geschafft!
Und auch mein Partner wandte sich nicht von mir ab, sondern bemerkte nur, wie ich aufblühte, was auch ihm guttat. Denn wenn man einen Menschen wirklich liebt, dann mit allen Einschränkungen – dass ich so empfinde, wusste ich schon, dass es ihm genauso geht, weiß ich nun auch. Mittlerweile sind wir verheiratet.
Es ist meiner Meinung nach falsch darauf zu warten, dass man gar nicht mehr laufen kann, bis man sich Hilfe sucht. Es ist durchaus legitim, einfach die Lebensqualität zu verbessern, wieder selbstständiger zu sein und in meinem Fall auch wieder schneller. Ich bedaure nicht, dass ich Hugo brauche, sondern bin froh, dass ich die Möglichkeit habe, wieder mobiler zu sein. Ich bedauere nur, dass ich so lange gewartet habe und nun doch schon auf das eine oder andere verzichtet habe. Er ist doch nichts anderes, als eine Brille für die Beine – und Brillen tragen nun wirklich viele. Die Gesellschaft schränkt Menschen mit Behinderung leider immer wieder ein, ich selbst werde das aber nicht mehr tun. Unsere Welt ist viel zu schön, um sie nicht in vollen Zügen zu genießen.
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