Vor 20 Jahren hatten Comic-Zeichnerinnen noch Schwierigkeiten, Verlage zu finden. Heute ist die Szene weiblicher denn je. Doch noch immer mangelt es der Branche an Gleichberechtigung und Diversität. Eine Bestandsaufnahme.
Comic-Zeichnerinnen holen heute nach, was Jahrhunderte lang versäumt wurde
Schwarze und weiße nackte Körper räkeln sich übereinander, untereinander, nebeneinander. Der eine Körper beginnt, wo der andere endet – sie verschmelzen ineinander. Hände greifen nach Brüsten, Hintern, Haaren. Die Augen sind geschlossen, die Münder geöffnet. Alle Beteiligten genießen es. Es scheint keine Scheu zu geben, keine Scham. Musiknoten umringen die ineinander verhakten Körper, fast scheint es, als würden sie selbst die Musik erzeugen – komponiert durch ihre Ekstase.
Diese Szene wurde von einer der etabliertesten feministischen Comic-Zeichnerinnen im deutschsprachigen Raum zu Papier gebracht, der 52-jährigen Ulli Lust. In ihren Werken spricht sie offen über ihre sexuellen Erfahrungen, ihr Begehren, toxische Beziehungen und körperliche Gewalt. Comics, gestaltet aus weiblicher, oftmals feministischer, Perspektive sind heute so beliebt wie nie zuvor. Sie setzen sich mit sexueller Freiheit, gesellschaftlichen Rollenbildern, der Stigmatisierung von Frauen, People of Color und anderen Minderheiten auseinander, indem sie diese Themen mit einer spielerischen Leichtigkeit zeichnerisch darstellen. Durch das Mittel der Kunst enttabuisieren sie Themen wie weibliche Lust und sprechen Machtmissbräuche gegenüber Minderheiten offen an. Und das mit Erfolg.
„Comics haben sich prächtig entwickelt, insbesondere solche von weiblichen Zeichnerinnen sind Kassenschlager”, sagt Lust, die derzeit an der Hochschule Hannover „Zeichnung, Illustration und Comic“ lehrt. „Noch vor 20 Jahren konnte ich kaum einen Verlag finden, der meine Arbeit drucken wollte. Heute suchen diese gezielt nach weiblichen Zeichnerinnen“, sagt sie. „Barbara Yelin, Ulli Lust, Anke Feuchtenberger, Line Hoven, Isabel Kreitz – ginge man daran, eine Liste der wichtigsten deutschen Comic-Künstler zu erstellen, so fielen einem mindestens ebenso viele Frauen wie Männer ein,“ schreibt Comic-Kolumnist Christoph Haas in der Süddeutschen Zeitung.
Doch warum ist das Interesse an Comics mit weiblicher Perspektive in den letzten Jahrzehnten so stark gewachsen? „Durch die kontinuierlichen Kämpfe von Frauen und anderen Minderheiten und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandel besteht heute auch im Mainstream ein Interesse an ihren Perspektiven“, erklärt Lara Keilbart vom „Feminist Comic Network“, ein Gemeinschaftsprojekt feministischer Comicschaffender. Mit künstlerischer Raffinesse, unverfrorener Ehrlichkeit und mitunter einem Hauch Ironie legen viele weibliche Comic-Zeichnerinnen gesellschaftliche Missstände offen. „Der Comic ist intelligenter geworden. Früher wurde eher ein einfacher Geschmack getroffen. Die Kinderseele wurde berührt, die Comics waren abenteuerlich. Heute sind sie viel komplexer und setzen sich mit gesellschaftlichen Phänomenen auseinander”, erklärt Zeichnerin Lust.
„Dieses Buch hat mich zur Feministin gemacht“
Obwohl die Comicszene weiblicher geworden ist, ist sie noch immer männlich dominiert – das zeigt auch eine Debatte rund um den ICOM-Preis für Independent-Comics im Sommer 2018. Das zu diesem Zeitpunkt einzige weibliche Jury-Mitglied Eve Jay kritisierte die Zusammensetzung der Jury und schlug vor, eine weitere Frau in die Runde einzuladen, worauf sie heftigen Gegenwind seitens der Jury bekam und nach einer langen Auseinandersetzung von ihrem Amt zurücktrat. In einem Beitrag, den sie auf der Plattform Medium veröffentlichte, erklärte sie ihre Beweggründe. Ihre Aktion erhielt viel Aufmerksamkeit und zeigt, dass die Branche längst nicht mehr als reine Männerdomäne akzeptiert wird. Trotz der Nachfrage nach mehr Diversität ist der Weg zur Gleichberechtigung noch lang. Auch inhaltlich sind die Werke noch nicht da, wo sie feministische Zeichnerinnen gerne sehen würden. „Es gibt noch immer rassistische und sexistische Werke“, sagt Lara Keilbart. „Cis Frauen werden mitunter als Sexobjekt mit unmöglichen Körperformen und Posen dargestellt. Frauen sind außerdem oft Figuren ohne eigene Handlungsmacht. Rassistische Darstellungen und Begriffe, vor allem gegen Schwarze und indigene Menschen, sowie frauenfeindliche Witze in Cartoons und in den Medien veröffentliche ,Strips’ sind verbreitet.“ Es würden zudem noch immer viel mehr Comics von Männern als von Frauen veröffentlicht, betont sie.
Feministische Comics können als wichtiges Sprachrohr dienen, um der Ungleichheit und Unterrepräsentation von Minderheiten entgegenzutreten – nicht nur innerhalb der Comic-Branche, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Die weibliche Perspektive definiert den Comic nicht nur in seiner Kunstform neu, sondern beflügelt auch den gesellschaftlichen Diskurs rund um soziale Gerechtigkeit und kann Minderheiten sogar ermächtigen. „Frauen kommen mitunter auf mich zu und sagen: Dieses Buch hat mich zur Feministin gemacht”, so Lust. Vor 20 Jahren hätte sich die Zeichnerin nicht erträumen lassen, einmal so erfolgreich zu sein. Heute werden ihre Bücher sogar als Schullektüre in Mädchen-Schulen in Spanien verwendet, erzählt sie.
Unsere Comic-Empfehlungen
Habt ihr Lust, euch diesen Winter auf dem Sofa einzumummeln und euer Comic-Wissen zu erweitern? Dann haben wir eine kleine Liste mit lesenswerten Werken weiblicher Zeichner zusammengestellt.
„Die Hure-H“ von Anke Feuchtenberger
Anke Feuchtenberger ist eine der ersten deutschen Zeichnerinnen, die sich den Themen ihrer Comics aus einer feministischen Perspektive näherte. In ihren Büchern befasst sie sich mit Körperlichkeit, weiblicher Identität und gesellschaftlicher Stigmatisierung. Zu ihren wohl bekanntesten Büchern gehört die „Hure H“-Trilogie, die sie in Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Katrin de Vries produzierte. In den Büchern wird das Leben einer „Hure“ ehrlich und ohne von der Gesellschaft geformte Klischees beschrieben. (Die Hure H, Reprodukt, 2003-2007)
„Persepolis“ von Marjane Satrapi
In diesem vierteiligen inzwischen auch verfilmten Werk von Marjane Satrapi beschreibt die Zeichnerin ihre Kindheit im Iran, ihre spätere Zeit im Ausland und die Rückkehr in ihr Heimatland. Satrapi überzeugt ihre Leser*innen mit der expressiven Schwarz-Weiß-Sprache ihrer Zeichnungen. Ehrlich und schonungslos erzählt sie von den politischen Bedingungen im Iran unter denen ihre Familie und sie gelitten haben sowie von Menschen, die ihr Leben verloren haben. Die Geschichte hat sich zu einem Weltbestseller entwickelt, der bis heute in 25 Sprachen übersetzt wurde. Einer starken weiblichen Persönlichkeit widmete sie sich auch als Regisseurin. Im Jahr 2019 feierte ihr Film „Radioactive“ auf dem Toronto Film Festival Premiere – eine Biografie der Physikerin Marie Curie, gespielt von Rosamunde Pike.
(Persepolis Gesamtausgabe, 2013, Marjane Satrapi, Edition Moderne, 356 Seiten, 25 Euro)
Spring Magazin #16, Sex
Das Magazin „Spring“ besteht als reines Frauenprojekt seit 2003 und hat sich zu einem der etabliertesten Comic-Magazine Deutschlands entwickelt. In den Ausgaben werden verschiedene Debatten rund um Identität, Sexualität, Intimität und Arbeit zeichnerisch aufgearbeitet. In der aktuellen Ausgabe (#16) von SPRING mit dem Thema „Sex“ schildern 14 Zeichnerinnen die Evolutionsgeschichte der Sexualität, diskutieren Pubertät sowie alltäglichen Sexismus, hinterfragen die Abwesenheit von Körperlichkeit und setzen sich generationenübergreifend mit weiblicher Identität auseinander. Die Zeichnerinnen spielen mit „typisch“ weiblichen Pink- und Rosatönen, die den wichtigen Diskussionen einen kunstvollen Hauch von Leichtigkeit verleihen. (SPRING 16: Sex, 2019, mairisch Verlag, 152 Seiten, 24 Euro)
„Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“ von Ulli Lust
Vor zehn Jahren erzielte die Comic-Zeichnerin Ulli Lust bereits mit ihrem autobiographischer Comic „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ internationale Erfolge. In ihrem neuesten Buch berichtet sie von persönlichen Erfahrungen als junge Frau in Wien und davon wie sie versuchte als Künstlerin in der Branche Fuß zu fassen. Im Mittelpunkt der Geschichte ist eine utopischen Liebe zwischen ihr und zwei Männern, die in Besitzanspruch und Gewalt umschlägt. Der Comic ist in Schwarz-Weiß und Rosa gehalten, die Dialoge sind mit einer Leichtigkeit verfasst und so realitätsnah, dass man sich schnell in ihnen verlieren kann.
(Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein), Ulli Lust, 2017, surhkamp Verlag, 367 Seiten, 25 Euro)
„I am every woman“ von Liv Strömquist
In „I am every woman“ zeigt die schwedische Radiomoderatorin und Comic-Zeichnerin Liv Strömquist, was hinter dem Mythos vom männlichen Genie steckt – nämlich oftmals eine starke und faszinierende Frau. In ihren Geschichten begegnet man diversen Frauen, die über Jahre hinweg oder ihr Leben lang im Schatten ihrer gefeierten Männer standen. Dabei lernt man Charaktere wie Jenny Marx, Priscilla Presley und Yoko Ono von einer Seite kennen, die vielen in der Öffentlichkeit verborgen blieb und entwickelt eine neue Wertschätzung für ihre Stärke.
(I’m every woman, Liv Strömquist, 2019, avant-verlag, 112 Seiten, 20 Euro)
„Hand aufs Herz“ von Leïla Slimani und Laetitia Coryn
Wie ist es, eine Frau zu sein, wenn die eigene Sexualität als etwas Unaussprechliches gesehen wird? In diesem Buch widmen sich die Künstlerinnen Leïla Slimani und Laetitia Coryn diversen Frauen, die sich mit ihrem Verhältnis zu Sexualität auseinandersetzen – ein Tabuthema in ihrem streng religiös geprägtem Heimatland Marokko. Aus unterschiedlichen Perspektiven schildern die mutigen Frauen ihre Erfahrungen, Wünsche und ihren Kampf für Gleichberechtigung. Diese Graphic Novel bringt der Leser*innenschaft näher, wie komplex die Realität eines muslimischen Landes sein kann und dokumentiert den Kampf der Frauen für ihre Rechte.
(Hand aufs Herz, Leïla Slimani und Laetitia Coryn, 2018, avant-verlag, 108 Seiten, 25 Euro)
„German Calendar No December“ von Birgit Weyhe und Sylvia Ofili
Der Comic-Band „German Calendar No December“ erzählt die Geschichte des nigerianisch-deutschen Mädchens Olivia, die in zwei Welten – Hamburg und Lagos – lebt. Das Thema Hautfarbe und wie eine solche Äußerlichkeit das Leben und die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft bestimmen kann, ist der rote Faden dieses gemeinsamen Projekts der nigerianischen Autorin Sylvia Ofili und der Hamburgerin Birgit Weyhe. Im Gegensatz zu ihren anderen Schwarz-Weiß-Comics arbeitet Weyhe hier mit Braun- und Orangetönen. „Wichtig war, die verschiedenen Hautfarben und Nuancen zu zeigen“, sagte sie dem Deutschlandfunk Kultur. „Das Grün steht für die ganzen kalten Hamburger Zeiten und das Terracotta für Nigeria. Und aus diesen Tönen ergeben sich alle Hautfarben.“ (German Calendar No December, avant-verlag, 2018, 168 Seiten, 22 Euro)