In ihrer Kolumne schreibt Camille Haldner über alles, was ihr auf den Keks geht. Dieses Mal: Die noch immer weit verbreitete Vorstellung, Betroffene sexualisierter Gewalt trügen eine Mitschuld, wenn ihnen etwas angetan wird.
Hinweis: Dieser Artikel thematisiert sexualisierte Gewalt und Victim Blaming. Falls du Unterstützung suchst, empfehlen wir dir, dich an eine der folgenden Hilfestellen zu wenden: Hilfetelefon, Hilfeportal Sexueller Missbrauch, Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen und Wildwasser – gegen sexuelle Gewalt.
In meiner Heimatstadt Basel wurde im vergangenen Jahr eine Frau vergewaltigt. In ihrem Hauseingang, von zwei männlichen Bekannten, die sie auf dem Heimweg von einem Club begleiteten. Am Rande bemerkt mutet das absurd an, wenn man überlegt, dass eine Nachhause-Begleitung vom Club für weiblich gelesene Personen eigentlich Schutz vor einem möglichen Übergriff bedeuten sollte. Diese furchtbare Geschichte, die 2020 bereits für Entsetzen gesorgt hat, nahm vor wenigen Tagen eine neue Dimension an, als bekannt wurde, dass die Strafe, die der Haupttäter erhalten hat, vom Berufungsgericht gekürzt wird.
Als Begründung für die Strafmilderung führte die Gerichtspräsidentin in einem moralisch aufgeladenen Urteil folgende Argumente an: die „kurze“ Dauer (elf Minuten) des Übergriffs, die „physisch nicht gravierenden Verletzungen“ der Betroffenen und die „Signale“, die die Frau vor der Tat ausgesandt habe. Mit Letzterem bezieht sich die Richterin offenbar darauf, dass die Betroffene in der Tatnacht mit einem anderen Mann auf dem Clubklo rumgemacht habe, wovon die beiden Täter mitbekommen haben. Die Richterin ist deshalb der Meinung, die Betroffene habe „mit dem Feuer gespielt“ und signalisiert, dass „Safer Sex für sie kein Thema sei“, was sie zum Schluss führt, dass man nur von einem „mittleren Verschulden des Täters“ sprechen könne.
Ähm …
Was zur Hölle?
Victim Blaming von der übelsten Sorte
Mit diesem Urteil betreibt die Richterin Victim Blaming übelster Sorte. Statt die Schuld beim Täter zu platzieren, wo sie hingehört, wird das Verhalten der Betroffenen als Erklärung für die Tat angeführt. Die zuständige Richterin scheint die Überbleibsel patriarchal-misogynen Denkens so sehr verinnerlicht zu haben, dass sie, statt die Schwere einer Tat zu beurteilen, diese gegen die mutmaßlich frei gelebte Sexualität einer Person aufwiegt und ihre veralteten Moralgedanken in den Gerichtsaal trägt.
„Die zuständige Richterin scheint die Überbleibsel patriarchal-misogynen Denkens so sehr verinnerlicht zu haben, dass sie, statt die Schwere einer Tat zu beurteilen, diese gegen die mutmaßlich frei gelebte Sexualität einer Person aufwiegt.“
Ganz zu schweigen davon, dass die Richterin offenbar nicht in der Lage ist, zwischen Consent und Safer Sex zu unterscheiden: Consent ist das bewusste Einwilligen in etwas. Im Falle von sexuellen Handlungen soll das Einholen von Consent die sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit von Personen wahren. Bei Safer Sex hingegen geht es um Verhaltensweisen und Vorsichtsmaßnahmen, die u.a. dazu gedacht sind, das Risiko einer Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu reduzieren.
Was ist das für eine Logik?
Zahlreiche Medien nahmen sich in den Tagen nach dem Urteil der Sache an – und befragten Fachpersonen zu ihrer Meinung. Dabei zeigte sich, dass die verantwortliche Richterin mit ihrer moralisierenden Einschätzung nicht alleine ist. Eine ehemalige Richterin und Oberstaatsanwältin sagte in einem Interview allen Ernstes, dass Signale des Opfers bei der Bemessung der Strafe durchaus eine Rolle spielen können: „Für mich als Frau darf sich das Opfer auch nicht daran stören, dass sich ein provozierendes Verhalten zugunsten des Täters auswirkt.“
Ein provozierendes Verhalten?! Was soll das sein? Was ist das für eine Logik?
„Es gibt keine Rechtfertigung dafür, einer anderen Person sexualisierte Gewalt anzutun. Egal, was diese Person trägt und wie offen sie ihre Sexualität lebt.“
Frauen dürfen sich also nur dann sicher sein, keine sexualisierte Gewalt zu erfahren, wenn sie keusch leben? Nein, nein, nein, nein, nein! Es gibt keine Rechtfertigung dafür, einer anderen Person sexualisierte Gewalt anzutun. Egal, was diese Person trägt und wie offen sie ihre Sexualität lebt.
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit
Kein Verhalten dieser Welt relativiert sexualisierte Gewalt. Nur Ja heißt Ja. Betroffene tragen nie die Schuld an sexuellen Übergriffen. Und doch werden noch immer Menschen dafür mitverantwortlich gemacht, dass ihnen Gewalt angetan wird. Dieses krude Denken ist offenbar so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, dass es nicht nur in Online-Kommentarspalten und Stammtischparolen, sondern auch in Gerichtsurteile von Richterinnen Eingang findet.
„Kein Verhalten dieser Welt relativiert sexualisierte Gewalt.“
Das zeigt einmal mehr, dass wir eben doch nicht in einer „so aufgeklärten, feministischen Gesellschaft“ leben – und noch viel Arbeit vor uns liegt, damit irgendwann auch in der letzten Ecke eines jeden Gehirns ankommt, dass jeder Mensch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit hat. Und dass wir nur dann sexuellen Kontakt mit einer Person eingehen dürfen, wenn diese unmissverständlich eingewilligt hat – ganz ohne Druck oder Zwang.
Nährboden für misogyne Taten
Den gesellschaftlichen Reflex, sofort Gründe für eine Tat zu suchen, statt sich den Anschuldigungen zu widmen und der betroffenen Person Glauben zu schenken, müssen wir dringend loswerden. Menschen erfahren sexualisierte Gewalt, unabhängig davon wie sie sich verhalten. Die einzigen, die ihr Verhalten anpassen müssen, sind die Täter*innen – und Leute, die solche Taten relativieren.
„Menschen erfahren sexualisierte Gewalt, unabhängig davon wie sie sich verhalten. Die einzigen, die ihr Verhalten anpassen müssen, sind die Täter*innen – und Leute, die solche Taten relativieren.“
Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben und so mit Betroffenen sexualisierter Gewalt umzugehen, bereitet den Nährboden für misogyne Taten – und bestätigt die Befürchtung vieler Betroffener, dass eine Anzeige und der darauffolgende Prozess zu weiteren traumatischen Erfahrungen führt.
In einem Artikel von „Zeit Online“ werden die Zahlen dazu sehr anschaulich aufgeschlüsselt: „Jede dritte Frau weltweit hat in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahren. Nur 15 Prozent zeigen den Täter, der in den meisten Fällen aus dem engeren Bekanntenkreis stammt, an. Viele verzichten aus Scham, Angst vor Retraumatisierung, ökonomischer Abhängigkeit von ihrem Peiniger darauf – oder weil sie nur geringe Erfolgsaussichten sehen. Nur ein Prozent aller Vergewaltigungen wird tatsächlich verurteilt.“
Was können wir also tun, um Täter-Opfer-Umkehr und Victim Blaming aus unserer Gesellschaft auszuradieren? Wir müssen Vergewaltigungsmythen, also Überzeugungen, die sexualisierte Gewalt verharmlosen, entkräften, wo wir nur können. Diese tragen nämlich dazu bei, dass Opfern die Schuld für sexualisierte Gewalt gegeben wird, wie Untersuchungen zeigen. Und wir sollten solidarisch mit Betroffenen sein, laut werden und dagegen halten, wenn Gerichtsurteile wie das in Basel durchdrungen sind von patriarchal-misogynem Denken.