Zeit ist die zentrale Ressource. Aber sie ist ungerecht verteilt in unserer Gesellschaft. Die Journalistin, Autorin und Aktivistin Teresa Bücker skizziert in ihrem soeben erschienenen Buch „Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit“ eine neue Zeitkultur für mehr Gerechtigkeit, Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Arbeit ist Leben. Zeit ist Geld. Aber oft ist es doch so: Wenn man unentwegt arbeitet, wenn man unentwegt versucht, über die Runden zu kommen oder den aktuellen Lebensstandard zu halten, zwischendurch vielleicht noch Kinder von A nach B bringt, fürs super wichtige Meeting wieder zurück an den Arbeitsplatz hetzt, um dann gerade noch rechtzeitig zum Supermarkt zu kommen, dann entsteht im Kopf eine Lücke, eine Sehnsucht: Etwas fehlt.
Selten haben wir etwas gelesen, das uns derart klug und außergewöhnlich klar wachrüttelt. Teresa Bücker hat mit „Alle_Zeit“ ein Buch geschrieben, das an unsere Menschlichkeit erinnert. Wer sind wir eigentlich? Wo und wann entsteht Empathie? Was macht uns aus? Was bedeutet der Faktor Zeit eigentlich – für uns alle? Und wie schaffen wir es, Zeit gerecht aufzuteilen, ist das überhaupt möglich? Zwischen allen Zeilen schwebt ein Satz: „Soziale Gerechtigkeit bedeutet gerechte Verteilung von Zeit.“
Dieses Buch ist wichtig. Teresa Bücker spricht hier nicht nur über die Arbeitswelt, die im Fokus der Leseprobe steht. Sie lenkt den Blick auch auf die Zeitstrukturen von Kindern und Jugendlichen, sie thematisiert die Care-Zeit im Leben queerer Menschen. Und sie zeigt Lösungen auf, macht auf unsere Möglichkeiten aufmerksam, die wir haben, um Dinge zu verändern – für uns alle.
Alle_Zeit: Ein Auszug aus dem Kapitel „_ARBEIT UND GESUNDHEIT“.
„Wann Arbeit krank macht und wann sie sich positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden auswirkt, ist gut erforscht. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um bezahlte berufliche Arbeit oder um unbezahlte Care-Arbeit handelt. Um zu unterstreichen, dass Arbeit generell gut für uns sei und uns nicht nur finanziell nütze, wird oft darauf verwiesen, dass berufstätige Frauen erwiesenermaßen zufriedener und gesünder seien als Hausfrauen und dass Erwerbslose häufiger Depressionen entwickelten als Berufstätige. Damit wird suggeriert, jede Erwerbsarbeit sei besser als keine. Hausfrau zu sein oder nicht erwerbstätig zu sein, macht aber nicht automatisch krank. Unbezahlte Care-Arbeit wirkt sich nur dann negativ auf die Gesundheit aus, wenn sie die gleichen Merkmale aufweist wie ein mieser Job: wenn es an Wertschätzung und Unterstützung von anderen fehlt oder man sich ungerecht behandelt fühlt; wenn man das Gefühl hat, die Aufgaben in der vorhandenen Zeit nicht schaffen zu können; wenn man aufgrund von Zeitdruck keine Pausen macht und nach der Arbeit nicht abschalten kann, weil man fortwährend darüber nachdenkt, was alles noch zu tun ist; wenn die Aufgaben monoton sind, man zu atypischen Zeiten arbeiten muss oder viele Überstunden leistet. Aspekte von Arbeit, die positiv auf die Gesundheit wirken, sind ein eigenes Einkommen, eine Tagesstruktur, soziale Kontakte sowie die Möglichkeit, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Nicht alle Jobs bieten diese Dinge, besonders aber fehlen sie bei Erwerbslosigkeit, Hausarbeit und Kindererziehung.
„Wir brauchen keine Erwerbsarbeit, um gesund zu bleiben, sondern eine Alltagsorganisation, die uns in allen Lebenssituationen das ermöglicht, was ein guter Job kann.“
In unserer Gesellschaft ist es derzeit am einfachsten, über eine Berufstätigkeit längerfristig gesund und zufrieden zu bleiben, da sich vor allem innerhalb der Arbeitswelt Strukturen herausgebildet haben, die wichtige psychische Bedürfnisse erfüllen. Es ist nicht Erwerbsarbeit per se, die uns stabilisiert, und es ist keine unveränderliche Eigenschaft von Erwerbslosigkeit, das Selbstvertrauen zu senken und zu Depressionen zu führen. Es sind die fehlenden Möglichkeiten, innerhalb anderer Zusammenhänge als Erwerbsarbeit die Zeit sinnvoll zu strukturieren, Wertschätzung zu erleben, die eigenen Fähigkeiten einzubringen und mit anderen Menschen in Kontakt zu sein. Wir brauchen keine Erwerbsarbeit, um gesund zu bleiben, sondern eine Alltagsorganisation, die uns in allen Lebenssituationen das ermöglicht, was ein guter Job kann. Anerkennung und das Gefühl, gemeinsam etwas zu schaffen, wurden nicht in der Berufswelt erfunden, wir haben diese Dinge nur zu sehr dorthin verschoben. Niemand sollte uns davon abhalten, unsere anderen Lebensbereiche bewusster zu gestalten, und – statt uns nach Traumjobs zu sehnen – traumhafte Care-Strukturen zu schaffen und mit anderen Menschen in unserer Freizeit Dinge zu erleben, die uns glücklich machen, weil wir spüren, dass wir etwas können und für andere wichtig sind.
Arbeitslosigkeit und Armut wirken sich massiv darauf aus, was Menschen mit ihrer Zeit anstellen können. Daniela Brodesser, die über Armutserfahrungen schreibt, widerspricht dem Klischee, dass man als erwerbslose Person mehr freie Zeit habe. Man sei nämlich ständig damit beschäftigt, die Armut zu »managen« und Dinge zu tun wie »Einkaufslisten nach unten korrigieren (und dafür natürlich sämtliche Preise im Kopf haben), um die von der Schule verlangten 12 Euro bis am nächsten Morgen zu haben«. Brodesser erzählt weiter: »Was ich im Alltag gebraucht hätte: mehr Zeit und Ruhe, um meine Stärken wieder zu finden, mir klar zu werden, was ich kann und was nicht. Kraft zu tanken, um die Unsicherheit ablegen und gestärkt gegen die Vorurteile vorgehen zu können.« Eine neue Zeitkultur muss allen Menschen ermöglichen, Zeit für sich selbst zu haben und sie als erholsam und selbstbestimmt zu erleben; das gilt auch für Erwerbslose und Armutsbetroffene, denn sie leben nicht im Zeitwohlstand, nur weil sie gerade nicht oder weniger erwerbsarbeiten als andere.
„Gesundheit, Selbstvertrauen und Zufriedenheit können erst dann wieder in Balance gebracht werden, wenn man der negativ erlebten Zeit ausreichend Zeit entgegensetzen kann, in der man sich wohlfühlt.“
Die Medizinsoziologen Nico Dragano und Johannes Siegrist messen guten Arbeitsbedingungen große Bedeutung zu, da Erwachsene »den vergleichsweise höchsten Anteil bewusst erlebter und gestalteter Lebenszeit« mit Erwerbsarbeit verbrächten und dadurch über einen besonders langen Zeitraum »gesundheitsrelevanten Einflüssen ausgesetzt« seien. Wenn eine Erwerbsarbeit sich negativ auf Gesundheit und Lebenszufriedenheit auswirkt, ist es momentan schwierig, über andere Zeiten einen ausreichenden Ausgleich zu schaffen, weil sie im Vergleich zur im Beruf verbrachten Zeit nicht lang genug sind. Gesundheit, Selbstvertrauen und Zufriedenheit können erst dann wieder in Balance gebracht werden, wenn man der negativ erlebten Zeit ausreichend Zeit entgegensetzen kann, in der man sich wohlfühlt. Das wiederum wäre eine Möglichkeit, Work-Life-Balance neu zu interpretieren: Die Zeit im Beruf muss tatsächlich ausgeglichen werden können. Eine Stunde Freizeit am Abend nach neun Stunden im Job balanciert etwaige Belastungen nicht aus.“
Alle_Zeit
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