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Patriarchale Strömungen im Netz: Zwischen „Divine Femininity“ und „Alpha“-Männern

Frauen sind emotional, intuitiv und soft. Männer denken logisch, sind rational und weniger emotional. Eigentlich sollten solche Geschlechterrollen längst der Vergangenheit angehören. Tatsächlich bekommen sie durch neue Social Media-Trends und Bewegungen aber Aufwind. Insbesondere eine spezifische Bewegung, bei der es auf den ersten Blick nicht einmal offensichtlich ist, trägt patriarchale Geschlechterrollen weiter.


In der digitalen Welt zirkulieren derzeit zwei aufstrebende Bewegungen, die scheinbar unterschiedliche Ansätze zur Definition von Weiblichkeit und Männlichkeit verfolgen, dabei aber beide veraltete Geschlechterrollen in den Köpfen der Menschen verankern. In einigen spirituellen Kreisen wird an die Existenz einer “maskulinen” und “femininen” Energie geglaubt. Entsprechende Bubbles in den sozialen Medien, in denen hauptsächlich cis Frauen anzutreffen sind, vermitteln, wie man als Frau die “weibliche Göttlichkeit” verkörpern kann und die “männliche Energie” in sich loslassen sollte. Diese binäre Denkweise hinsichtlich des Geschlechtes zeigt, wie begrenzt und unfrei solche Denkblasen sein können, wenn es um das Ausleben der eigenen Geschlechtsidentität geht.

Wer auf Instagram oder TikTok nach “divine femininity” sucht, stößt auf Influencer*innen und Videos, in denen Frauen erklärt wird, wie sie ihre Weiblichkeit leben sollen. Das Konzept wird oft als Gegenstück zur maskulinen Energie präsentiert. Während die maskuline Energie mit Macht, Erfolg und Geld in Verbindung gebracht wird, soll es bei der “Goddess Energy” vor allem um Emotionalität, Intuition und Kreativität gehen. Eine wahre weibliche Göttin soll also eher auf ihr Herz hören, anstatt logisch oder strategisch zu denken.

Parallel dazu gedeiht die männerdominierte “Alpha Male”-Bewegung, die von einflussreichen Personen wie Andrew Tate bekannt gemacht wurde und sich hauptsächlich darauf konzentriert, wie ein “echter Mann” sich verhalten sollte. Beide Bewegungen tragen zur Aufrechterhaltung von patriarchaler Rollenvorstellungen bei und fördern damit weiter die Unterdrückung von Frauen.

Nicht zu viel Raum einnehmen

Auf TikTok erzählt eine Userin ihrer jungen weiblichen Zuhörerinnenschaft, wie ihr Verlobter es ihr “erlaube” (hier liegt die Betonung auf dem Wort “erlaubt”), ihre weibliche Energie auszuleben – indem er hauptsächlich die naturgemäß bestimmte Führungsposition in ihrer Beziehung einnehme. Er öffnet ihr die Autotür, kümmert sich um die Finanzen und behandelt sie wie eine Prinzessin. Eine andere TikTokerin gibt in einem Video Tipps dazu, wie eine Frau in der Datingszene ihre feminine Energie entfalten könne. Dafür müsse sie sich stets der maskulinen Energie beugen – also dem Mann – und ihm die Planung überlassen, während die feminine Energie sich von ihm führen lässt.

Eine spirituell-erfüllte Frau hat also stets passiv zu sein, niemals aktiv. Die TikTok-Creatorin @selfawarebarbie erzählt, dass die Stärke einer Frau in ihrer Ruhe und ihrem Schweigen liege. Sie behauptet, dass eine Frau nur dann eine weibliche Göttin sein könne, wenn sie “richtig” geht, spricht, sitzt und gekleidet ist. „Viele Frauen sind Frauen, aber haben vergessen, wie sich eine Frau zu verhalten hat“, sagt sie in ihrem Video. 

Die Gemeinsamkeiten dieser spirituellen Influencer*innen sind eindeutig: Frauen, die ihre feminine Göttlichkeit akzeptieren und ausleben möchten, werden dazu ermutigt, ein “weiches” Leben zu führen, nicht laut zu sein, wenig Raum einzunehmen, Stress zu vermeiden und Selfcare zu praktizieren. Gleichzeitig wird betont, dass Frauen aus der ihnen auferlegten maskulinen Energie ausbrechen müssen. Als Beispiele werden oft typische “9-to-5” Jobs, das Bezahlen bei Dates oder das Treffen von Entscheidungen genannt.

Fehlendes Bewusstsein für kapitalistische Strukturen

Abgesehen von der begrenzten binären Sichtweise auf Geschlechtsidentitäten scheint es diesen Bewegungen und Influencer*innen an Bewusstsein für unterdrückende Systeme zu fehlen. Ähnlich wie beim “Manifestiere einfach in dein Traumleben”-Denken wird in den Diskussionen rund um die Verkörperung der weiblichen Göttlichkeit vollständig übersehen, dass es ein absolutes Privileg ist, Stress zu vermeiden oder keiner Lohnarbeit nachzugehen.

Diesen Bewegungen und Influencer*innen scheint es an Bewusstsein für unterdrückende Systeme zu fehlen.

Die bittere Wahrheit ist, dass die Mehrheit der Frauen auf dieser Welt – insbesondere im globalen Süden – systematischer Ausbeutung und Gewalt ausgesetzt ist. Man muss nicht einmal so weit in den globalen Süden schauen, denn auch im Westen gibt es ausreichend Beispiele dafür, wie sexistische und kapitalistische Strukturen Frauen unterdrücken.

Wie soll eine alleinerziehende Mutter, die auf staatliche Unterstützung angewiesen ist und möglicherweise mehreren Jobs nachgehen muss, den Weg zur “weiblichen Göttlichkeit” finden, wenn Stress und Arbeit sowohl in der privaten als auch in der öffentlichen Sphäre an der Tagesordnung sind?

Darüber hinaus haben mehrere Studien mittlerweile bewiesen, dass Frauen in Führungspositionen genauso erfolgreich sind, wenn nicht sogar erfolgreicher, als Männer. Das Narrativ, Männer seien die besseren Chefs und könnten logischer denken, ist nicht nur sexistisch und zutiefst patriarchal, sondern auch wissenschaftlich widerlegt.

Weibliche Göttlichkeiten sind Stützen des Patriarchats 

Die “divine femininity”-Bewegung ist das Patriarchat in recyclter Form. Die Vertreterinnen dieser Bewegungen sprechen von weiblichen Göttlichkeiten, die einen natürlichen “hohen Marktwert” („high-value women“) besitzen. Diese Sprache ähnelt oft derjenigen, die von Incels oder rechtsextremen Aktivist*innen verwendet wird. Rechte Bewegungen versuchen oft, den niedrigen Wert von sexuell aktiven Frauen zu argumentieren, indem sie den sogenannten “sexuellen Marktwert” von Frauen hervorheben und die Kultur des “slut-shaming” weiter etablieren und unterstützen.

Die spirituelle Bubble der “divine femininity” ist das Patriarchat in recyclter Form.

Die “Divine femininity”-Bewegung nimmt Frauen ihre Autonomie, indem es ihnen einredet, dass eine “echte und vollkommene” Frau sich zurücklehnen und führen lassen sollte, anstatt aktiv etwas zu tun. Es verlangt von Frauen, dass sie still, weich und unsichtbar sind, keinen Raum einnehmen und ihre Stimme nicht erheben. Dieses Konzept klingt wie Musik in den Ohren des Patriarchats. Hätten unsere weiblichen Vorfahr*innen diesen Werten nachgegeben, hätten Frauen heute weder politisch noch wirtschaftlich teilhaben können.

„Divine Femininity“ versucht, Frauen davon zu überzeugen, dass wahres Glück und Vollkommenheit darin bestehen, sich unterdrücken zu lassen. Die Influencer*innen dieser Bewegungen verkennen dabei, dass solche Werte hoch ideologisch und politisch sind und Frauen in Rollen drängen, die dem Patriarchat dienen und Vorteile für dieses System schaffen. Die Vorstellung von weiblicher Göttlichkeit verlangt eine Frau, die ruhig im Haus sitzt, statt aktiv in der Welt zu agieren.

Toxische Vorstellungen von Männlichkeit

Eine Frau, die still und brav zu Hause sitzt – das ist eine Fantasie, die auch in den Köpfen der “Alpha Male” Bewegung existiert. Obwohl diese “spirituelle” Welt für viele weit von der “Alpha”-Welt entfernt zu sein scheint, haben diese beiden Bewegungen einiges gemeinsam. Andrew Tate, der im letzten Jahr als meistgegoogelte Person galt, hat eine Bewegung ins Leben gerufen und populär gemacht, die jungen Männern einpflanzt, dass sie die Besitzer und Anführer “ihrer Frauen” sein müssten.

Unzählige Videos und Interviews von Andrew Tate beleuchten den misogynen Inhalt dieser Bewegung: Ein echter Mann ist stark, gefühllos und hat aufgrund seiner biologischen Gegebenheiten mehrere sexuelle Partnerinnen, während eine Frau immer auf den Mann hören, ihn lieben und dienen muss. Männer müssten Frauen wie Objekte besitzen und der dominante „Leader“ in Beziehungen sein. Tate geht noch weiter, indem er gegen Bezahlung Kurse anbietet, in denen Zuschauer lernen können, wie sie Frauen in der “Web Cam Industrie” ausbeuten können. Er bringt jungen Männern bei, wie sie Menschenhandel betreiben können.

Andrew Tate ist jedoch nicht der Einzige, der solche Ideen verbreitet. Beliebte Podcasts wie „Fresh&Fit“ oder Streamer und Influencer wie Adin Ross, Ben Shapiro, Steven Crowder oder Jordan Peterson vermitteln auf ihre eigene Art und Weise sexistische und toxische Vorstellungen von Männlichkeit an ihre Follower. Sie alle eint ein frauenfeindliches Weltbild und sie alle sehnen sich nach der Unterdrückung von Frauen und dem Ende des Feminismus. 

Das Patriarchat schadet nicht nur Frauen, sondern tötet auch Männer

Im vergangenen Dezember wurde Andrew Tate in Rumänien wegen Vergewaltigung und Menschenhandels festgenommen. Nach monatelanger Haft und anschließendem Hausarrest, wurde im Juni 2023 offiziell: Tate wird wegen Vergewaltigung und Menschenhandel offiziell verklagt und muss vor Gericht. Beweise, wie beispielsweise eine Sprachnachricht, in der Tate darüber fantasiert, eine Frau zu vergewaltigen, haben bei seinen Fans wenig Wirkung gezeigt. In Griechenland protestierten sogar Hunderte junger Männer gegen seine Inhaftierung und fordern bis heute seine Freilassung.

Währenddessen berichten Lehrer*innen in Mittelschulen immer häufiger von Gewalttaten gegen Mädchen und sexistischen Äußerungen, die von Jungs im Klassenzimmer gemacht werden. Diese Vorfälle sind oft direkt auf den Konsum von Videos und Inhalten der sogenannten Alpha-Bewegungen zurückzuführen. Dies ist nur ein Beispiel von vielen realen Konsequenzen, die durch diese Bewegungen entstehen.

Junge Männer, die sich nicht mit dem toxischen Männlichkeitsideal identifizieren können oder wollen, werden häufig gemobbt und erfahren soziale Ausgrenzung. Diese Erfahrungen können zu Depressionen und einer starken sozialen Isolation führen. Es ist kein Zufall, dass die Suizidrate bei Männern höher ist als bei Frauen. Das Patriarchat schadet nicht nur Frauen, sondern tötet auch Männer.

Romantisierte Darstellung traditioneller Geschlechterrollen

Eine der größten Gefahren des Patriarchats besteht darin, dass es sich geschickt verstecken kann. Misogynie ist nicht immer so offensichtlich, wie wir annehmen. Das Patriarchat manifestiert sich in vielfältigen Formen und lauert in vielen Ecken unserer Gesellschaft. Während die Kritik an der Alpha Male-Bewegung im Mainstream deutlich sichtbar ist, übersehen wir allzu oft die romantisierte Darstellung traditioneller Geschlechterrollen in der spirituellen Community.

Dieser gefährliche Trend glorifiziert die Unterordnung der Frau unter den Mann. Noch besorgniserregender ist jedoch die Ignoranz gegenüber unterdrückenden Systemen und der systematischen Ausbeutung, denen Frauen weltweit ausgesetzt sind. Beide Bewegungen tragen zur Aufrechterhaltung des Patriarchats bei, auch wenn es bei der einen Bewegung offensichtlicher ist als bei der anderen.

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