„Wir brauchen Pornokompetenz!“ – Ein Interview mit Pornowissenschaftlerin Madita Oeming

Porno! – Ups, darüber spricht man doch nicht! Oder doch? Die Pornowissenschaftlerin und Autorin Madita Oeming tut das sogar auf über 200 unsere Augen öffnenden Seiten.

Kund*in
Rowohlt
Autor*in
EDITION F
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Was machen wir mit Pornos, was machen Pornos mit uns? Madita Oeming gibt Antworten und nimmt uns die Scham in ihrem neuen Buch „Porno – eine unverschämte Analyse“ – und in unserem Interview.

96 Prozent der Männer und 79 Prozent der Frauen zwischen 18 und 75 Jahre gibt an, schon mal Pornos gesehen zu haben. Ganz schön viel. Aber wirklich sprechen tun wir ja nicht darüber.

Im Vorfeld des Interviews mit Madita Oeming wage ich es und frage eine Freundin, ob sie schon mal Pornos gesehen hat und wie sie dazu steht. Sie antwortet nicht wirklich, wird rot und schüttelt irritiert den Kopf. Ich frage sie, ob sie mit ihren Kindern schon mal darüber gesprochen hat, was sie verneint. Und auch ich muss gestehen, dass ich bisher noch nie bewusst ein Gespräch über das Thema Porno geführt habe.

Das im Rowohlt Verlag erschienene Buch von Madita Oeming „Porno. Eine unverschämte Analyse“ finde ich in der Soziologie-Abteilung einer großen Berliner Buchhandlung. Mein erster Gedanke: Warum liegt das Buch nicht dort, wo man es besser findet? Später, im Interview, erzählt mir Madita, dass sie sehr glücklich über diese Positionierung ist. Denn: Sie ist Expertin auf einem Gebiet, das vielleicht nicht auf Anhieb mit wissenschaftlicher Analyse in Verbindung gebracht wird. Umso schöner also, dass es sich im Buchhandel durch Madita Oeming den Weg in die Wissenschaften geebnet hat. Und noch schöner: Diese „unverschämte Analyse“ vermittelt uns ganz vielfältiges Wissen auf eine erzählerische Art und Weise. An keiner Stelle gibt es Längen, das Buch ist spannend wie ein Roman, vermittelt dabei Informationen, die vollkommen neu sind – und: Es ist ein Türöffner. Es zeigt die Notwendigkeit des Diskurses. Denn Madita Oeming spiegelt uns sehr eindrücklich, wie wenig sexuell befreit wir als Gesellschaft noch immer sind, und wie wichtig es für unsere Sexualität ist, offen über die Funktion und die Vielfalt des Porno zu sprechen – und damit ein Tabu zu brechen und zugleich unsere kollektive Scham abzubauen. Let’s talk Porn.

Liebe Madita, wenn du auf Partys oder an Abenden mit Freund*innen gefragt wirst, was du beruflich machst, welche Antwort gibst du darauf?

„Das kommt immer ein bisschen darauf an, in welchen Kontexten ich mich bewege und ob ich Lust habe, darüber zu sprechen oder nicht. Denn wenn ich sage: Hi, ich bin Pornowissenschaftlerin, dann ist immer klar: Mindestens über die nächste Stunde werden wir über dieses Thema sprechen. Und gerade, wenn ich bereits den ganzen Tag darüber geredet habe und denke, jetzt ist Feierabend, dann gibt es auch den Moment, in dem ich sage: Ich bin Kulturwissenschaftlerin, weil das nicht so viele weitere Fragen aufwirft.“

Und wenn du dich für ersteres entscheidest – sind die Reaktionen immer positiv?

„Ich würde sagen, in privaten Kontexten ist es meistens eine Mischung zwischen leichter Skepsis, amüsiert sein, aber vor allem Neugierde. Da stoß ich häufig auf Interesse, Nachfragen, durchaus auch auf Begeisterung. Ablehnung bis hin zu wirklichen Anfeindungen erfahre ich vor allem digital. Aber auch in akademischen Kontexten gibt es negative Reaktionen. Wenn ich auf einer Konferenz bin und sage: Ich arbeite zu Pornos, schlägt mir oft Wertung entgegen. Mal nonverbal, ein Augenrollen, mal ganz explizit. Mir wurde schon vorgeworfen, dass das ja keine echte Wissenschaft sei.“

Du hast das Buch PORNO geschrieben. Machst du für uns den Elevator Pitch: Worum geht es und welches Ziel hat die „unverschämte Analyse“?

„Wie schon im Untertitel steckt, ist eine wichtige Motivation meiner Arbeit, Scham abzubauen. Auf einer individuellen Ebene ist es mir wichtig, Menschen von Schuldgefühlen zu befreien, weil sehr viele mit einem schlechten Gewissen masturbieren, also nicht so im Einklang mit ihrem Porno-Nutzungsverhalten sind, und das sehr häufig aber ohne Grund. Und auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene möchte ich damit ein Umdenken anstoßen, Wissen vermitteln, Stigma abbauen. Die Politik will ich überzeugen, nicht in Verbote, sondern in Bildung zu investieren. Wir brauchen Pornokompetenz! Und Rechte für Sexarbeiter*innen. Gedanklich, juristisch, sprachlich sollten wir endlich Porno als einvernehmliche Erwachsenenunterhaltung von dem trennen, was eigentlich Gewalt, Missbrauch, Strafbestände sind. Diese ewige Vermischung hilft niemandem. Um all das zu verändern, braucht es Wissen und das probiere ich in diesem Buch zu vermitteln. Ich will vor allem aufräumen mit Fehlannahmen und Ambivalenz in ein sehr schwarz-weiß gedachtes Thema bringen.“

Kann der wissenschaftliche Ansatz eine Möglichkeit sein, dass sich mehr Menschen offen mit dem Thema auseinandersetzen – ohne das Gefühl zu haben, mit dem Schmuddelstempel versehen zu werden?

„In meiner Erfahrung ist es ein hervorragender Türöffner für dieses Thema, weil es ermöglicht, auf einer sachlichen und analytischen Ebene darüber zu sprechen, ohne dass es um Privates gehen muss. Im Seminar mit den Studierenden sprechen wir natürlich nicht die ganze Zeit über persönliche Vorlieben, aber trotzdem kann auch die eigene Nutzung dabei reflektiert werden. Sie erzählen mir häufig, dass sie das Thema in ihre Familien getragen haben oder in ihre Freundeskreise oder ich höre oft schon, während sie den Seminarraum verlassen, wie das private Gespräch unter den Kommiliton*innen anfängt. Also ja, ich empfinde das absolut als einen Wegebner für eine Unterhaltung über Porno, die eben nicht schambesetzt ist, weil sie nicht intim sein muss.“

Wie hat dich dieses Forschungsthema eigentlich gefunden?

„Das war total zufällig. Ich habe zu ,Moby Dick’ eine Hausarbeit geschrieben und bin immer wieder über Pornos gestolpert. Erst mal habe ich das ignoriert, aber irgendwann kam dann der Moment, wo ich auf ein Video geklickt habe und eben mittags um 11.30 Uhr am Schreibtisch saß, der Kopf im Analysemodus, und diesen Porno geguckt habe. Und das war so ein krasses Aha-Erlebnis für mich. Weil ich verstanden habe: Ja, das ist natürlich auch ein Medientext! Obwohl ich sie schon lange Pornos geguckt hatte, habe ich sie nie reflektiert, nicht mal ernst genommen. Das änderte sich in dem Moment schlagartig. Er hat so viele spannende Fragen aufgeworfen und mich zu Menschen geführt, die sich schon länger kulturwissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt hatten. Das ist jetzt fast 10 Jahre her und ich bin seitdem intellektuell nicht mehr vom Porno weggekommen.“

Als du damit begonnen hast, zu dem Thema Porno wissenschaftlich zu arbeiten und zu forschen, kam ja viele Warnungen aus dem Uni-Betrieb, Professor*innen rieten dir davon ab. Du hast dich aber nicht davon abbringen lassen?

„Ich glaube, ein Teil war wirklich nur Trotz. Ich dachte: Jetzt erst recht. Weil mich das so wütend gemacht hat, gerade an einer Institution die eigentlich für freies Denken und Fortschritt stehen will. Ich dachte: Wie sollen wir weiterkommen, wenn wir alle festhalten an den einfachen, eingespielten Themen. Man muss im Studium ja so viel reproduzieren. Hausarbeiten schreiben hieß ja oft: Ich lese 20 schlaue Bücher und dann versuche ich sie so zusammenzufassen, dass es so klingt, als hätte ich irgendwas neues gedacht, aber eigentlich käue ich nur Gedanken wieder. Aber hier hatte ich richtig das Gefühl: Ich habe echte Fragen! Es gibt echte Lücken!

Wenn jemand gesagt hat: Damit verbaust du dir deinen Weg, dann dachte ich: An den Orten, an denen ich mit dem Thema nicht angenommen werde, möchte ich auch gar nicht sein. Deshalb habe ich die Uni auch verlassen und mich selbstständig gemacht. Ich wollte unabhängig sein, so laut und so politisch sein dürfen wie ich möchte.“

Die Zahlen sind hoch: 96 Prozent der Männer und 79 Prozent der Frauen zwischen 18 und 75 Jahre gibt an, schon mal Pornos gesehen zu haben. Die Zugriffszahlen auf Pornhub & Co spiegeln das wieder. Dennoch gibt es so eine extreme Scheu, Scham, Angst. Warum ist das so?

„Erst mal ist Sexualität an sich immer noch schambehaftet. Wir tun immer so, als wären wir sexuell komplett befreit, sind wir aber nicht. Überhaupt über Sexualität zu sprechen, ist immer noch schwierig, da fehlen uns die Sprache, der Raum, etc. Und beim Porno kommen noch ein paar Ebenen dazu, die es erschweren. Erstmal gucken die meisten Menschen alleine Pornos, das heißt, der Austausch kommt nicht automatisch zustande, wie wenn wir ins Kino gehen oder Netflix-Serien zusammen gucken. Einen Anlass, über Pornos zu reden, müssen wir proaktiv kreieren. Zudem sind unsere Pornofantasien in aller Regel extremer als unsere gelebte Sexualität. Was uns erregt, passt oft nicht mit unseren Werten zusammen. Ganz viele Menschen haben darum nach dem Masturbieren diesen Moment von ,O Gott, was stimmt nicht mit mir?’ Und es wäre eigentlich gut, das Gefühl mal zu teilen, um zu sehen, dass es anderen ähnlich geht. Aber genau das Gegenteil passiert, das Schamgefühl wird noch größer, man behält es lieber für sich. Und das ist natürlich ein Teufelskreis. Zu alledem kommt noch hinzu, dass zu Pornos eine Industrie gehört, die viele als übermäßig problematisch einschätzen und einen viel kritischeren Blick darauf haben als auf Hollywood zum Beispiel, wobei es sich eigentlich um eine vergleichbar patriarchale, ausbeuterische Industrie handelt.“

Sind wir eine pornofeindliche Gesellschaft?

„Auf jeden Fall eine pornopanische.

Wie bei anderen Thema auch gibt es eine merkwürdige Gleichzeitigkeit von Offenheit und Verschlossenheit gegenüber dem Thema, von progressiven Räumen wie Pornfilmfestivals auf der einen und rückschrittigen Entwicklungen wie Anti-Masturbations-Bewegungen oder mehr digitaler Zensur auf der anderen. Das ist ja kein Zufall, das bedingt sich gegenseitig. Wir waren noch nie weiter in Sachen queere Rechte und Sichtbarkeit von trans Personen, und zugleich haben wir ein unfassbar hohes Maß an Gewalt und Anfeindungen gegenüber diesen Gruppen. Die vermeintlich befreiten Orten werden oft überbetont in der öffentlichen Unterhaltung und zu so einem Angstmoment gemalt. Und das, würde ich sowieso sagen, ist die treibende Kraft in der aktuellen Situation: die Angst oder die Pornopanik, wie ich sie nenne. Es sind sehr viele kulturelle Ängste mit diesem Medium verbunden. Die Idee von Porno als Gefahr, die Beziehungen zerstören, zu Gewalt führen, Erektionen killen, die Jugend verderben – dieses ganze Paket von Pornopaniken steht so vielem im Weg. Und das ist auch eine zentrale Motivation für mich: Ängste abbauen, indem wir eben gucken: Was wissen wir eigentlich wirklich? Und was sind nur Projektionen?“

Warum würde uns allen ein offener Zugang zu Pornos zugute kommen, gerade auch das offene Gespräch mit Jugendlichen?

„Gerade bei Jugendlichen halte ich es für absolut zentral, dass sie Gesprächsangebote bekommen,. Jugendliche kommen mit durchschnittlich 14 Jahren das erste Mal mit Pornos in Kontakt. Haben aber erst mit durchschnittlich 17 Jahren ihren ersten Sex. In der Zeit dazwischen sollte ihnen jemand helfen, das Gesehene einzuordnen, ihnen erklären, wo die Unterschiede liegen, um falschen Erwartungen vorzubeugen. Jemand sollte ihnen sagen: das ist Fiktion, eine Inszenierung von Sex. Vor allem braucht es aber auch sexuelle Bildung, damit Jugendliche die Antworten nicht in Pornos suchen müssen.

Pornos sind einfach nicht dafür gemacht, um zu erklären, wie Sex geht, das sind Actionfilme, keine Aufklärungsfilme! Dass sie im Moment in diese Rolle gedrängt werden, ist nicht ihre Schuld. Jugendliche sollten früh lernen, dass es Pornos gibt, dass sie nicht für sie gemacht sind und überfordernd sein können. Dass es aber auch völlig normal ist, sie faszinierend zu finden. Oder eben eklig. Sie sollten auch wissen, dass niemand sie zwingen darf, das anzugucken und umgekehrt. Das kann genutzt werden, um ihnen das Prinzip der Einvernehmlichkeit zu vermitteln. Ich halte es für falsch, gefährlich und kontraproduktiv, das alles totzuschweigen und die Augen vor der Realität von Jugendlichen zu verschließen. So lassen wir sie nämlich allein.“

Wie stehst zu zu dem Genre Feministischer Porno?

„Wie eigentlich jedes Label hat es seine Vor- und Nachteile. Wir brauchen diese Labels, um die Welt zu sortieren. Aber es führt auch immer dazu, dass alles unter diesem Label vereinheitlicht wird, als gäbe es DEN feministischen Porno. Außerdem findet eine Hierarchisierung statt: Der feministische Porno ist der ethische Porno, der gute Porno. Alles andere, der sogenannte Mainstream, ist der böse Porno. Das halte ich für problematisch. Damit werden auch Frauen in der Mainstream-Porno-Industrie abgewertet und ihnen abgesprochen, dass sie das freiwillig machen – das ist für mich eine Red Flag im feministischem Denken. Gerade in der öffentlichen Unterhaltung wird der feministische Porno auch ganz häufig vermischt mit ,Frauenporno’.

Natürlich ist der feministische Porno nicht nur für Frauen, und natürlich ist die Idee, dass Frauen andere Pornos wollen als Männer sexistisch. Ein Porno muss auch nicht besonders schön oder besonders anspruchsvoll sein, um feministisch zu sein.

Nichtsdestotrotz öffnet das Label auch Türen, weil es Menschen ermöglicht, sich diesem Produkt anzunähern. Sie sehen: Oh, da steht Feminismus drauf, ich verstehe mich als Feministin, also ist es jetzt ok für mich, das zu machen. Für mich war das ähnlich. Mein eigener Pornokonsum war auch schambehaftet. Und dann habe ich über die Auseinandersetzung mit der feministischen Pornobewegung und mit ganz vielen Menschen, die Pornos machen, meinen Blick darauf verändert und dann eben auch Produktionen fernab der alternativen Bubble mit ganz anderen Augen gesehen.“

Das letzte Kapitel in deinem Buch heißt: Pornos neu denken – Liebeserklärung an die Lust und die Ambivalenz? Ambivalenz – inwiefern?

„Ich habe mich ja stark auf die Konsumseite konzentriert, und auf die Frage: Was machen wir mit Pornos, was machen Pornos mit uns? Dabei ist mir wichtig, dass wir verstehen, dass es nur eine individuelle Antwort geben kann. Es kommt darauf an, welche Pornos wir gucken, welches Verhältnis wir dazu haben, was wir mitbringen. Für manche Menschen ist das ein emanzipatorischer Befreiungsschlag, eine super Inspirationsquelle, ein Freude bringender Teil unseres Lebens. Für andere Menschen ist das etwas, was sie unter Druck setzt, was ihnen nicht gut tut. Und diese Ambivalenz darf es geben, das ist kein Widerspruch.
Der Großteil des öffentlichen Diskurses ist: Pornos sind gefährlich auf die eine oder andere Art und Weise. Und dann gibt es diese Inseln von: Frauen, die Pornos gucken, kommen besser zum Orgasmus. Es scheint nur Gegenpole zu geben. Alles toll und empowernd oder alles scheiße und ausbeuterisch. Aber Porno kann all das gleichzeitig und vieles dazwischen sein. Und das meine ich mit der Ambivalenz, dass wir lernen sollten, es auszuhalten, dass viele Wahrheiten auf Pornos zutreffen.“

Danke für das wichtige Gespräch, liebe Madita.

FFF DAY 2023

Madita Oeming wird beim FFF DAY 2023 gleich zwei Panels als Speaker*in bereichern: „Of Love and Politics. Warum Liebe, Dating und Beziehungen politisch sind“ mit Emilia Roig, Josephine Apraku und Stefanie Knaab – und „Let’s talk about Sex, Baby. Warum Lust viele Facetten hat und wie wir die leben“ mit Paulita Pappel, Jan Ehret, Laura Gehlhaar und Alexandra Stanic. Tickets findet ihr hier.

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