Hochsensible Menschen reagieren stärker als andere auf Reize, was nicht immer einfach ist, denn ihnen fällt Abgrenzung schwer – gerade im Bezug auf andere Menschen. Marion erzählt, wie diese Besonderheit ihren Alltag prägt.
Fühlen, was der*die andere fühlt
Schätzungsweise 15 bis 20 Prozent der Menschen gelten als hochsensibel. Das heißt, sie nehmen Reize viel stärker, ungefilterter und differenzierter wahr – in allen Lebensbereichen. Ich weiß heute, dass ich zu ihnen gehöre.
Als ich ein Kind war, acht oder neun, verbrachte ich oft die Ferien bei meinen Großeltern auf dem Dorf. Einmal bekam meine Oma Besuch von einem Bekannten, der kurz davor Witwer geworden war. Wir saßen zusammen im Garten, der Mann erzählte von seiner verstorbenen Frau und seiner Trauer. Ich saß still dabei, keiner nahm Notiz von mir – bis ich zu weinen begann. Ich fühlte, was der Mann fühlte, und es tat mir so leid für ihn. Danach hatte ich einen festen Platz in seinem Herzen und er hat sich bis zu seinem Tod immer nach mir erkundigt. Für ein Kind ist diese Art des Mitfühlens ungewöhnlich, gerade dann, wenn es die Person nicht kennt.
Diese Abgrenzung, also das eigene Ich vom Ich des anderen trennen zu können, ist eine stetige Herausforderung für hochsensible Menschen. Ich bin zwar überzeugt davon, dass auf einer tieferen Ebene alles mit allem verbunden ist und jeder mit jedem, aber dennoch sind wir als Einzelwesen geboren, jeder mit seinem eigenen Lebensweg.
Wie geht es Hochsensiblen im Job
Sein Privatleben kann jeder gestalten wie er will, im Berufsleben ist das nicht so einfach. Chef*innen, Kolleg*innen, Kund*innen – man wird immer wieder auch mit Menschen konfrontiert, mit denen man sich möglicherweise unwohl fühlt. Das ist für die meisten nicht angenehm, für Hochsensible ist der Leidensdruck aber schnell groß, da sie sich schlecht abgrenzen können. Ich betrachte das mittlerweile aber auch als Geschenk, weil es verhindert, dass man sich allzu weit von sich selbst entfernt. Klar wäre es kurzfristig angenehmer, sich stärker anpassen zu können, aber langfristig wäre der Preis dafür hoch.
Statt ihre Energie dafür zu verwenden, ihre Schwächen auszugleichen, sollten Hochsensible daher lieber auf ihre Stärken setzen: Einfühlungsvermögen, ganzheitliches Erfassen einer Situation oder eines Auftrages, Kreativität, ausgeprägte Intuition, neue Blickwinkel, Gewissenhaftigkeit …
Was Hochsensibilität nicht ist
Hochsensibilität ist nicht Introvertiertheit. Viele Hochsensible sind extrovertiert und sehr kommunikativ, sie brauchen nur mehr Rückzüge, um die Fülle ihrer Wahrnehmungen zu verarbeiten.
Ich bin sehr neugierig und habe einen starken Hunger auf neue Reize. Unter fünf offenen Tabs geht nichts und wenn ein Thema mich fasziniert, beiße ich mich so darin fest, dass ich sogar nachts davon träume. Durch die Hochsensibilität habe ich gleichzeitig das Bedürfnis, alles in Ruhe zu reflektieren. Ich gehe viel in der Natur spazieren oder setze mich gerne alleine in ein Café und lasse alles nachklingen.
Ich fühle mich trotz dieser zwei Gegenpole ständig in meiner Mitte, weil der Wechsel zwischen Reizen und Rückzug wie eine Pendelbewegung ist, die mich in meine Mitte bringt.
Sich anders fühlen
Viele Hochsensible fühlen sich „anders“. Sie spüren, dass sie sich in ihrer Wahrnehmung der Dinge und letztlich auch in ihrem Verhalten von anderen unterscheiden.
Als Jugendliche und junge Erwachsene hätte ich viel dafür gegeben, mehr wie die anderen zu sein, „normal“ zu sein – was immer das auch heißen sollte. Manchmal habe ich meine Persönlichkeit überspielt, aber das hielt ich nie lange durch, denn ich zog dadurch nur Menschen in mein Leben, bei denen ich nicht echt sein konnte. Und wer sich nicht geben kann, wie er ist, kann keine authentischen Beziehungen zu anderen aufbauen.
Mittlerweile genieße ich es sehr, ich zu sein. Ich spüre meine Grenzen schnell und kann sie gut schützen, mein Innenleben fühlt sich lebendig an, mir ist nie langweilig. Ich vertraue mir selbst und meinem Gespür für andere Menschen, auch wenn sich das nicht immer rational erklären lässt.
Ich halte Hochsensibilität für ein Geschenk. Ein Geschenk, mit dem man erst lernen muss zu leben, aber wenn das gelingt, dann hat man mit Sicherheit ein sehr lebendiges Leben.
Dieser Text ist zuerst auf dem Blog von Lili Wagner (http://liliwagner.de/) erschienen. Wir freuen uns, dass sie ihn auch bei uns veröffentlicht.
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