Foto: Kirsten Becken

Psychische Krisen: „Heilung beginnt mit einer radikalen Akzeptanz der eigentlichen Wunde“

Die Fotografin Kirsten Becken beschäftigte sich künstlerisch mit den Inhalten der Psychose ihrer Mutter und stieß in diesem Prozess darauf, dass hinter der Erkrankung ein unverarbeitetes Trauma liegt. Wie nähert man sich dem (scheinbar) Unsagbaren und wie können diese Wunden heilen? Darüber haben wir mit ihr gesprochen.

„Gespürt habe ich nur die Angst vor Gefühlen, die in diesem Haus herrschte“

Wie geht man damit um, wenn man auf unausgesprochene Wahrheiten innerhalb der Familie stößt – zumal auf solche, die mit Verdrängung und einem Netz aus Unwahrheiten verbunden sind? Genau diese Frage musste sich die Fotografin Kirsten Becken stellen, als sie durch die Beschäftigung mit der Seele ihrer Mutter auf ein unverarbeitetes Trauma aus der Vergangenheit stieß – Missbrauch in der Familie.

Im Gespräch erzählt sie, wie es ist das Schweigen über psychische Krisen zu brechen und wie man aus negativen Erlebnissen etwas Kraftvolles, nach vorn Gerichtetes entwickeln kann, das auch anderen hilft den Dialog zu starten. Sie macht Mut, die (Heil-)Kraft, die die offenen Auseinandersetzung mit diesen Wunden mit sich bringt, zu nutzen und sich den Problemen innerhalb der Familie zu öffnen.

Kirsten, du hast in diesem Jahr das Buch „Seeing her Ghosts“ veröffentlicht, das sich in Form von Kunst mit dem Thema Schizophrenie beschäftigt. Den Anstoß dazu gab dir die Erkrankung deiner Mutter. Magst du kurz grundsätzlich beschreiben, wie sich die Schizophrenie bei ihr gezeigt hat und was für dich der Ansatz war, dich mit dem Thema dann auch künstlerisch auseinanderzusetzen?

„,Seeing Her Ghosts’ war ein therapeutischer Prozess für meine Mutter, meinen Vater und mich. Wir hatten eine intensive Zeit und haben gemeinsam vergrabene Traumata aufgearbeitet. Ich habe währenddessen beinahe ein ganzes Jahr mit meiner eigenen Familie im ehemaligen, leerstehenden Elternhaus meiner Mutter gelebt und Ursachenforschung betrieben. Ich konnte dieses Wissen dann in unser Buch einfließen lassen und man liest im englischen Vorwort von Paul Hammersley schon heraus, worum es eigentlich geht.

Der Anspruch des Buches ist es aber auch, den Dialog in Familien mit Betroffenen anzuregen und das eindimensionale Konzept der Psychiatrie aufzuzeigen. Hierzu gibt es Beiträge von bekannten Autoren wie Robert Whitaker (u.a. 
„Mad in America“), Peter Lehmann (
„Antipsychiatrie Verlag“) und Fachleuten wie Prof. Paul Fletcher (Neurowissenschaftler, Cambridge) oder Andrew Solomon („Weit vom Stamm“). Denn die eigentlichen kranken Strukturen liegen meist in dysfunktionalen Familiensystemen und schrecklichen Erlebnissen.

Meine Mutter ist die gesündeste Person im gesamten Gefüge ihrer Familie. Macht, krankhafter Druck und die Unfähigkeit Gefühlen zuzulassen haben die Beziehung ihrer Eltern und schließlich auch ihre Erziehung und die ihrer Geschwister geprägt. Traurige Wahrheiten werden selten ausgesprochen und lieber totgeschwiegen. Hinzu kommt eine große Hilflosigkeit und Scham. Seeing Her Ghosts‘ soll helfen, die Hemmungen abzubauen und durch die Mittel der Kunst einen leichteren Zugang zu diesen Themen zu finden.“

„Dinner“ – aus: „Seeing her Ghosts“

„Ohne Hinschauen und Psychotherapie können diese Konflikte nicht verarbeitet und ohne Verbündete oder Hilfe aus dem näheren Umfeld
kann dieser Kraftakt nicht gestemmt werden.“

Was hat die Schizophrenie für den Umgang mit ihr und auch für euch als Familie bedeutet? Welche Rolle hat die Erkrankung in eurem täglichen Leben gespielt?

„Meine Mutter hat diese Diagnose erst kurz vor ihrem Klinikaufenthalt bekommen. Zuvor hieß es immer endogene Psychose. Schizophrenie ist ein schwammiger, antiquierter Sammelbegriff für festgefahrene, ungelöste Traumata und seelische Probleme, die in einer Dauerschleife hängen geblieben sind und durch dauerhafte Verabreichung von Psychopharmaka chronisch werden können. Ohne Hinschauen und Psychotherapie können diese Konflikte nicht verarbeitet und ohne Verbündete oder Hilfe aus dem näheren Umfeld kann dieser Kraftakt nicht gestemmt werden. Diese Diagnose richtet zusätzlich zum eigentlichen, dahinterliegenden Problem, noch mehr Verunsicherung, Angst und Unheil an – und man kann sich vorstellen, dass das eigentliche Leid durch diesen Stempel noch schwerer zu ertragen ist und man umso mehr dazu tendiert, sich aufzugeben. In der Tat ist aber Heilung möglich und es höchste Zeit diese Begrifflichkeiten zu erneuern und das System der angebotenen Hilfen zu verbessern.“

Der Prozess, dich so ausgiebig mit ihren „Geistern“ auseinanderzusetzen, führte dich also nicht nur näher zum Krankheitsbild deiner Mutter, sondern zu einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit – um was geht es da konkret?

„Wir wissen heute, dass psychischen Krankheiten seelische Verletzungen zugrunde liegen, die nicht heilen können. Denn Heilung beginnt mit einer radikalen Akzeptanz der eigentlichen Wunde und das ist auch bei Schizophrenie absolut möglich. Selbst dann, wenn eine jahrzehntelange Medikamentierung stattgefunden hat. Das Problem sind ,die Normalen‘, wie Dr. Manfred Lütz so passend formuliert. 

Mit Medikamenten kann man abdriften und die traurige Wirklichkeit erträglicher machen. Pillen lindern Ängste, indem sie betäuben – es ist aber leider ein kontraproduktives Konzept, das für Langzeitschäden sorgt und noch dazu etliche riskante Nebenwirkungen mit sich bringt.

Liest man sich die Beipackzettel einmal genauer durch, wird einem kotzübel. Man fragt sich, ob das Ganze ernst gemeint ist, denn wer will schon diese horrenden Nebenwirkungen freiwillig riskieren. Es gibt nur immer noch einen großen Mangel an würdevollen Alternativen, die tatsächlich auf Heilung zielen.

 Meiner Mutter ist in ihrer frühen Kindheit etwas Traumatisches passiert. Ihr Kindsein wurde stark von diesem Ereignis geprägt und sie arbeitet heute daran. Wir wissen jetzt, dass es Missbrauch innerhalb der Familie gab und sind nachhaltig erschüttert. Ihr ist eine unfassbare Ungerechtigkeit widerfahren und eine traurige Geschichte, die jetzt endlich ans Licht kommt, hilft uns das Puzzle zusammenzusetzen.“

Ruth van Beek – aus: „Seeing her Ghosts“

„Viel bezeichnender ist die gesellschaftliche Entwicklung, die immer mehr Hoffnungslosigkeit und Angst produziert.“

Glaubst du, das ist der „eigentliche“ Geist deiner Mutter, also der Ursprung für die Schizophrenie?

„Natürlich. Es ist ja erwiesen, dass Missbrauch, unverarbeitete, transgenerationale Kriegstraumata, missbräuchliche Beziehungen und Strukturen, sowie unerledigte, tiefe Konflikte psychische Krisen auslösen. Diese Krisen sind aber keinesfalls negativ, sie bieten Lösungsansätze zur Heilung und zeigen Wege auf, die die dissoziierten Erlebnisse wieder hervorholen können. Aber wenn diese Wegweiser nicht gelesen werden, sondern unbeantwortet bleiben tritt man eben auf der Stelle.

Bei meiner Mutter war es sogar so, dass ihre Aquarelle, die sie teilweise schon mit 18 angefertigt hat, ihre Problematik visualisiert haben. Das jetzt wortwörtlich abzulesen ist unglaublich befreiend aber auch tieftraurig, weil sie schon so früh reflektiert hat und sich aus den ungesunden Strukturen ihrer Familie lösen wollte, es aber nicht durfte.

 Viel bezeichnender ist die gesellschaftliche Entwicklung, die immer mehr Hoffnungslosigkeit und Angst produziert. Und wir haben einige Krisen. Die Mängel unserer Gesellschaft spiegeln sich unmittelbar in der Häufigkeit und im Umgang mit seelischen Leiden wieder. Es ist ja auch absolut logisch, keine menschliche Krise kommt ohne zwischenmenschlichen Kontakt zustande.

Mir macht die Gefühlskälte in unserer Gesellschaft Sorgen. Vielleicht habe ich auch deshalb die Motivation, dieses Kunstbuch zu verbreiten. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen die Verklemmtheit und Berührungsängste zu nehmen. Denn ironischerweise sind seelische Krisen ein weit verbreitetes Phänomen, in welchem Umfang auch immer.“

„Ich habe gar nichts geahnt. Ich war Teil des Systems.“

Bild: Angela Becken – Silence.

Hast du vor deiner künstlerischen Beschäftigung mit deiner Mutter schon davon geahnt? Oder: Kann man das überhaupt ahnen?

„Ich habe gar nichts geahnt. Ich war Teil des Systems und habe als Kind auch zeitweise bei den Eltern meiner Mutter gelebt. Diese Zeit muss schrecklich für meine Mutter gewesen sein. Die Hölle! Gespürt habe ich nur die Angst vor Gefühlen, die in diesem Haus herrschte. Es gab aber auch eine übertriebene Zuwendung, fast schon Besitzansprüche mir gegenüber, so als wäre ich ein Notnagel für fehlgeleitete Gefühle. Ich wurde also ein bißchen an der Nase herum geführt. Meine Mutter konnte nicht offen sprechen, weil ihr ganzes Leben von dieser Angst bestimmt war. Das erzeugt in mir eine große Wut und Enttäuschung über das Schweigen innerhalb ihrer Familie, obwohl ich natürlich auch sehe, wie komplex und tief dieses traurige Familienmuster wurzelt.“

Kirsten Becken und ihre Mutter im Garten. Quelle: Kirsten Becken.

In der Forschung geht man heute davon aus, dass unentdeckte, unverarbeitete Traumata innerhalb der Familie weitergegeben werden können. Wie war das bei dir – hat dich das Unausgesprochene auch geprägt oder dein eigenes Leben unbewusst beeinflusst?

„Ich habe gerade daran gearbeitet, dass mein Leben nicht mehr unbewusst beeinflusst. Darüber bin ich sehr froh – auch, weil ich einen kleinen Sohn habe, dem ich zeigen möchte, wie schön das Leben ist. Denn diese Energie habe ich von meiner Mutter. Sie ist sehr stark und eine Kämpferin. Diese Kraft habe ich auch in mir. 

Es gibt dazu eine spannende Arte-Dokumentation zu dem Thema, die man sogar momentan auf Youtube findet. Vererbte Narben – Generationsübergreifende Traumafolgen.“

Bei der Frage, warum Opfer von sexualisierter Gewalt nicht oder erst viele Jahre später darüber sprechen, geht es oft um einen Selbstschutz in Bezug auf die seelischen Wunden, aber auch um Machtverhältnisse, in denen man sich bewegt. Ein weiterer Punkt, ganz besonders bei Übergriffen innerhalb der Familie, ist aber auch der Schutz von anderen – der Druck der dadurch auf die Opfer entsteht, ist unwahrscheinlich hoch. Wie hast du das erlebt?

„Im Nachhinein ergibt alles Sinn und bildet ein riesiges Puzzle. Die einzelnen Positionen der Familienmitglieder, das Verhalten und die dissoziierten Erlebnisse bahnen sich ihren Weg. Es ist ein schmerzhaftes Puzzle und es ist natürlich nicht schön, diese Gefühle zuzulassen, aber die Überwindung lohnt sich, denn es war eine absolute Energieblockade. Nicht nur für meine Mutter, auch für mich. Für mich hat es sich so angefühlt, als würde ein Schleier von meinen Augen gezogen. Es gibt nichts Schlimmeres als das Ungewisse und die permanente Suche nach Antworten.“



Stefan Sagmeister – aus: „Seeing her Ghosts“

Auch für das Umfeld, in dem Fall der engste Familienkreis, ist das Reden darüber meist recht schwer – mit der Frage verbunden: Ist es mir erlaubt, das aufzuwirbeln oder zerstöre ich dadurch nicht viel mehr als dass es helfen könnte? Welchen Umgang hast du damit gefunden?

„Leider ist die Kommunikation innerhalb der Familie meiner Mutter gestört. Das merkt man besonders jetzt sehr deutlich. Ich habe zuerst nicht gewusst, welchen Schneeball ich ins Rollen bringe und welchen Effekt das Ganze haben wird. Aber sehe mittlerweile natürlich, dass dieser Schneeball Ordnung macht. Es ist wie ein Neustart, ein Bruch – auch mit einigen Familienmitgliedern, die natürlich leugnen, abstreiten, abweisen. Aber das gehört nun mal dazu und das ist es mir auch absolut Wert. Ich bin bereit Brücken zu bauen, aber nur wenn Ehrlichkeit und Offenheit Teil der neuen Kommunikationsregel werden. Das sehe ich momentan aber noch nicht.“

„Es ist eine unglaubliche Befreiung für uns und meine Mutter heilt endlich.“


Aus deiner Wahrnehmung heute: Warum ist es so wichtig, die Sprachlosigkeit bei diesem Thema zu überwinden und vor allem: Wie kann man das schaffen?

„Meine Mutter sagt heute, dass sie ihre Familie schützen wollte, aber auch, dass es ihr damals noch nicht bewusst war. Das Buch hat ihr sehr geholfen, sich (wieder) zu finden. Ihr jahrelanges Schweigen ist für mich sehr schwer fassbar, auch wenn ich die Medikamente sehe, die sie nimmt (Haldol zusammen mit Leponex). 

Mein Ratschlag an andere ist es, möglichst offen zu sein, dem innersten Gefühl zu folgen und sich auf die Suche zu begeben. Das sollte man aber nie allein machen. Mir hat es sehr geholfen über all diese Dinge mit meinem Vater, meinem Mann und mit meinen Freundinnen zu sprechen. 

Wenn ich mir vorstelle, was wäre, wenn ich das Buch nicht entwickelt hätte wird mir ganz anders. Es ist eine unglaubliche Befreiung für uns und meine Mutter heilt endlich.“

Kirsten Becken und ihre Mutter am Kornfeld. Quelle: Kirsten Becken.

Seeing Her Ghosts: Kirsten Becken, Verlag für moderne Kunst, 2017, 84 Seiten.

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