Foto: Bruno Nascimento – Unsplash

Psychisch krank: Wie es ist, wenn man immer wieder um das eigene Überleben kämpft

Den meisten Menschen, die eine psychische Erkrankung haben, merkt man nichts davon an. Auch weil sie es gut verstecken. Unsere Community-Autorin erzählt von ihrem Umgang mit dem Leiden und was sie sich von der Gesellschaft wünscht.

Wie viel weißt du von anderen?

Wach, witzig, inspirierend, ein bisschen überdreht, warmherzig, intelligent, etwas verpeilt vielleicht. So würdest du mich möglicherweise beschreiben, wenn du mich kennen lernst.

Wer mich gut kennt, lange kennt, weiß um die andere Seite.

Die vernichtenden Selbstzweifel, die seelischen Schmerzen, die Ängste, Angstzustände, Kämpfe, meine Anstrengung, Weinkrämpfe oder noch schlimmer, die Phasen, in denen selbst Weinen nicht mehr geht. Absolute Gefühllosigkeit und Lähmung, Atemnot. Aufgeben wollen, einfach um Ruhe zu finden in der aufgeriebenen Seele. Gedanken über Suizid.

Wer mich gut kennt, lange kennt, kennt meine Geschichte, kennt Skizzen aus meiner Vergangenheit, meiner Kindheit. Und er kennt meine Zähigkeit, mich den Dämonen zu stellen und weiterzumachen. Dämonentango nenne ich das.

Ja, ich verstehe dich, ich kann die Leier von der „schlimmen Kindheit“ selbst nicht mehr hören. Und nein, ich bin niemand, der sich darauf ausruht. Und wieder ja – Gewalt, egal ob auf seelischer, körperlicher oder sexueller Ebene oder auf allen Ebenen gleichzeitig,  hinterlässt tiefe Spuren im seelischen Fundament eines Menschen:

– Im Selbstwertgefühl (wenn es überhaupt noch existent ist – kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt sich NICHT zu fühlen, weil deine Seele sich als Kind schon aus Angst verkrochen hat?).

– Im Vertrauen in und auf das Leben.

– In den Beziehungen zu anderen Menschen.

– Im Vertrauen zu sich selbst.

Ich bin seelisch nicht gesund. Bin ich also psychisch krank?

Nein, ich sitze nicht wild zuckend in der grün gekachelten Abteilung einer Psychiatrie. Und ich sabbere auch nicht vor mich hin, während ich mit leerem Blick eine Wand anstarre. So ist doch das Klischee von psychisch Kranken? Ein Stereotyp, der nichts damit zu tun hat, wie normal wir wirken.

Du würdest es wohl nicht mal merken – denn ich funktioniere ganz normal. Oder sagen wir – meistens.

Im Job stehe ich meine Frau. Arbeite als Führungskraft und Projektleitung. Fühle mich vielleicht vor einem Meeting nervöser als andere, wenn ich vor der Geschäftsleitung sprechen muss. Werde immer noch völlig konfus, wenn ein Mensch dabei ist, der mich an eine Person erinnert, die mich in meiner Kindheit gequält hat. Das ist keine bewusste Entscheidung. Mein Hirn schaltet auf Notfall-Autopilot.

Ich habe mit Ängsten, Schwindelattacken, Überforderungsgefühlen und tiefen Frustrationen und Verwirrungszuständen zu kämpfen. Aus diesen Ängsten heraus prokrastiniere ich oft übermäßig.

Meine Kollegen halten mich hin und wieder für völlig verpeilt und rollen die Augen. Was sie nicht wissen – ich bin dann so, weil ich mit meinem Trauma in Verbindung gekommen bin. Eine rein physiologische Reaktion meines Gehirns auf bestimmte Situationen, die das auslösen: Flucht! Kampf! Totstellen, sofort!

Sie finden mich spontan und witzig, manchmal vielleicht für etwas vorlaut. Was sie nicht wissen ist, dass meine Impulse für mich teilweise nicht kontrollierbar sind. Meine Sprache manchmal zu entgleisen droht. Ich Kraft aufwenden muss, um „normal“ zu sein und nicht ständig anderen ins Wort zu platzen.

Nach meinem Outing wartest du jetzt sicher noch auf die Diagnose, die mich fein säuberlich chirurgisch von den „Gesunden“ trennt.  Und ich verstehe dich.

Doch ich muss dich enttäuschen.

In der Psychologie gibt es keine Skalpelle.

Von Heilung und Schwefelgeruch

Auch wenn man wie ich alles tut, um zu heilen, jahrelang Therapie macht, hin schaut, nicht (mehr) in Sucht flüchtet vor diesen dunklen verzweifelten abgrundtief vernichtenden Gefühlen – man schleppt diese Hypothek sein Leben lang herum wie eine fette Eisenkugel an der Seele. Ein ewiger diabolischer Hinkefuß. Nur der Schwefelgeruch fehlt.
Reden kann man darüber höchstens mit einer Mentorin, Therapeuten oder wirklichen Freunden und Freundinnen. Wenn die Menschen, mit denen ich täglich zusammenarbeite, wüssten, wie es zeitweise um mich steht – ich müsste wohl um meine Stelle fürchten. Zu groß wäre ihre Angst vor Ausfall, zu groß die Unsicherheit, mit Dingen konfrontiert zu sein, die nicht gut greifbar sind.
Seelische Probleme werden immer noch mit Schwäche in Verbindung gebracht, mit „nicht-belastbar-sein“ und mit „einer Wahl haben“. Sie machen mir Angst, weil ich sie verstecken muss.

Hat man eine Wahl?

Nein, man hat keine Wahl. Weißt du, dass ganz abgesehen von Konditionierung bzw. Traumatisierung in der Kindheit, unsere Hirnchemie jederzeit entgleisen kann und wir zum Beispiel schizophren werden können? BÄM. Und alles ist anders.
Man hat allerdings die Wahl an sich zu arbeiten und um jedes bisschen Heilung zu ringen. Klar, ist das ein Kraftakt. Klar, gibt es Menschen, die das nicht schaffen, und den Suizid wählen. Ich habe eine Wahl. Immer wieder. Jeden Tag.

Was ich mir wünsche?

Ich wünsche mir – nein ich WILL, dass unsere Gesellschaft aufwacht und seelisch gebeutelten Menschen Liebe und Würde zurückgibt. Als Menschen, die vielleicht sehr starken Verletzungen ausgesetzt waren. Welcher Art auch immer.
Wird ein Kind in der Öffentlichkeit gedemütigt und geschlagen, greifen glücklicherweise immer mehr Menschen ein – das nennen wir Zivilcourage.
Wird ein Kind missbraucht, empören sich die Menschen und fordern Gerechtigkeit und Strafe für den Täter. Das Kind ist ja schließlich fürs Leben gezeichnet! Zu Recht. Warum haben Menschen dann kein Mitgefühl mit denen, die solche Dinge als Kind ertragen mussten und heute mit den Folgen leben müssen?
Ohne, dass jemand sie gerettet, beschützt hat? Kein Fremder, der einschritt. Vielleicht die eigene Familie, die zugeschaut hat? Kannst du dir vorstellen, wie verraten ein Kind sich fühlt, wenn die eigene Mutter nicht schützend einschreitet, weil sie zu selbst zu viel Angst hat? Weil sie vielleicht nicht genügend Mut hat, die Kinder zu packen und in ein Frauenhaus zu flüchten?
Wie soll ein Kind leben, wenn als erste Botschaft in seinem Leben Gewalt und Gefahr statt Liebe und Vertrauen abgespeichert wird? Wie soll ein Kind auf diese Weise ein gesundes Fundament aufbauen? Wie anfangen, wo weitermachen? Alles fühlt sich bröckelig an – tausche Abgrund gegen Sprungbrett. Wie lernt man Vertrauen und Geborgenheit, wenn es sich nicht fühlen lässt? Erkläre einem Blinden die Farbe Grün!

Ich lebe

Ich habe Abitur gemacht. Zwei qualifizierte Ausbildungen. Habe verschiedene Jobs gehabt. Doch lag ich immer unter meinen intellektuellen Möglichkeiten, weil mir das Gefühl des inneren Vertrauens und der Sicherheit fremd war. Bestimmt hätte ich auch ein Studium hinbekommen.

Doch statt Theater AG und Journalismuskurs habe ich mit 16 Kalorien gezählt und wild vor mich hin gehungert – ich dachte irgendwie das wäre das Wichtigste, um eine Art „Halt“ zu empfinden, Kontrolle über mein Leben und meinen Selbstwert zu bekommen. Zu anderem und zu anderen habe ich keinen Zugang finden können vor lauter Scham und Angst und Verzweiflung in mir. Ich habe studiert. Meine Seele statt Germanistik.

Ich habe meine Ausbildung durchgezogen. Obwohl ich stark suizidal war. Auf den Hilfeschrei an meine Mutter „Ich möchte sterben, ich kann nicht mehr!“ kam nur ein „Kind, sowas darfst Du nicht mal denken!“. Damit war das Thema abschließend behandelt. Und es gab damals keinen anderen Zugang, keine Vertrauten, niemand der verstand. Nicht mal Google (und das meine ich durchaus ernst, denn das Internet bietet heute eine große Hilfe in der Suche nach Unterstützung und Selbstverständnis, und das weitestgehend anonym).

Ich könnte Dir jetzt schockierende Anekdoten aus meiner Familie erzählen und Du würdest den Kopf schütteln und meine Eltern verurteilen. Doch darum geht es nicht. Das will ich gar nicht, denn ich habe ihnen (größtenteils) vergeben können, weil ich weiß, unter welchem Horror sie im Krieg aufgewachsen sind. Ich habe zu hart gekämpft um Mitleid zu wollen.

Die Sache mit den Mokassins

Ich will Anerkennung.

Ich will Würde.

Nicht nur für mich, sondern für alle Menschen, die weiter kämpfen und nicht aufgeben. Und die trotzdem immer ein bisschen am Rande der Gesellschaft stehen. Als die Sensiblen, Labilen, die „mit dem Dachschaden“, wie sie bei uns im Unternehmen gern mal süffisant genannt werden. Die etwas leiser sind oder etwas lauter. Die vielleicht irgendwie schräg wirken oder hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, weil sie ständig mit verknoteten Schnürsenkeln im Kopf herumlaufen.

Ich will breite Kompetenz und einen Tabubruch.

Ich will Aufklärung.

Ich will nie mehr pseudo-spirituelle Menschen hören, die etwas von „spirituellem Versagen“ oder „Gesetz der Anziehung“ faseln, wenn ich eine depressive Phase habe und um mein Leben kämpfe.

Ich will, dass Menschen wissen, dass ich nicht seelisch gebeutelt bin, weil ich schwach bin oder faul oder nicht belastbar. Ich habe mich an den eigenen Haaren aus der tiefsten seelischen Gosse gezogen. Das soll mir so erstmal einer nachmachen.

Ich denke gerade an den abgedroschenen Mokassin-Spruch: „Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.” Aber ja, der macht verdammt nochmal Sinn, bevor man jemanden in eine wertende Schublade steckt.

Danke.

Mein großer Dank geht an die moderne Psychotherapie, an verantwortungsvolle und wirklich an Menschen interessierte Therapeuten und Ärzte.

An Mentoren und meine engen Freunde, die an mich glauben und mich aus der tiefsten Verzweiflung wieder ans Licht zerren. Die mir, wenn ich mich entscheiden würde aufzugeben, noch post mortem mit aller Kraft in den Hintern träten.

Ich habe Sucht überwunden.

Ich habe Essstörungen überwunden.

Ich habe tiefste Depression und Panikattacken soweit verstanden, dass ich weiß, dass ich jede Welle wieder nehmen werde.

Doch ich habe mich niemals den dunklen Fratzen in meiner Seele ergeben.

Ich lebe.

Das ist mein Erfolg.

Mehr bei EDITION F

Schizophrenie – wie geht unsere Gesellschaft mit außergewöhnlichen Menschen um? Weiterlesen

So jung und schon in Behandlung: Warum eine Therapie kein Zeichen von Schwäche ist. Weiterlesen

Diana Doko: „Kaum jemand ist in der Lage, die Anzeichen für eine Depression zu erkennen“. Weiterlesen

  1. Das hast Du Super geschrieben.es hätte von mir sein können.Bei mir War es jahrelanger Missbrauch..Auch ich War immer stark danach nie geautet immer gearbeitet ein behindertes Kind großgezogen. .Jetzt mit 52in Erwerbskosenminderungsrente gekommen. Und gehe 3 Mal die Woche putzen .Und wie sehe ich vor der Welt aus .Strahlend freundlich lachend vom Feedback her ..hübsch und jetzt Wie Du schreibst innerlich Kämpfe Ängste am liebsten zu Hause im sicheren Ort ..Der Mensch kam davon weil die Verjährungsfristen abgelaufen War. ..Hat die ganze Familie kaputt gemacht ..Meine Mutter War auch zu schwach ….eigentlich. beide Verbrecher..Sie sind verheiratet und dürfen friedlich als wenn nichts War weiterleben und ich kämpfe mein ganzes Leben damit hatte auch schwerste Depressionen. .Aber auch ich habe mich immer wieder rausgezogen…Ja es muß entaburisiert werden..Ich kämpfe mit Dir …und wünsche Dir weiterhin viel Kraft

  2. Wahnsinn. Ich habe das Gefühl das fast alles, was nieder geschrieben wurde, gerade genauso mein Leben wiederspiegeln. Ich habe heul Attacken meine Arbeit ist in mom ein Alptraum. Dazu keine Wertschätzung Existenzängste vor allem seelisch leide ich und es haut auf meinem Körper! Ängste Panik was kann und sollte ich tun Überforderung, von meiner Kindheit reden wir erst garnicht. DIEDE Lähmung Kollegen sagen, ich wäre manchmal verpeilt, druck im Job…Fahrerei Stau 13 std außer Haus, kein Privatleben mehr.letztes Kind soeben ausgezogen man fällt in so ein Loch, und ich bin müde.
    Suche nebenher neue Arbeit, Bank Beraterin im Dialogmarketinc zur Zeit.
    Die Arbeitsweise druck ihne Ende call Volumen wie im Callcenter 6,5 monate und och gebe immer noch nicht auf!

    Beste Grüße
    Bella

  3. Ich danke sooooo sehr für diesen Artikel!
    90% der Sätze beschreiben mein eigenes Leben! Meine Gedanken! Meinen Mut! Meine Kraft! Meine immer wieder kehrende Verzweiflung, wenn niemand im Umfeld auch nur ansatzweise versteht (oder verstehen will), dass ich manchmal Dinge nicht kann wie andere & manchmal ziemlich genial bin. *Grins* Wenn noch nicht mal die Eingeweihten Respekt zeigen vor meiner Lebensleistung. Sondern mich bei jedem vermeintlich schwachen Moment verurteilen & im Alltag systematisch ausschließen.
    Wenn ich dem Rat folge offen zu sein, aber dann grundsätzlich verlassen werde.
    Danke, dass ich mich beim Lesen dieses Artikels zum ersten Mal außerhalb der Therapie verstanden und wertgeschätzt fühle. Und mich dadurch ein Stück weit selbst mehr annehmen und lieben kann. Danke!

    1. Dankeschön, als ich anfing zu lesen und dann immer weiter laß dachte ich schreibt hier jemand deine Geschichte.

      Heute kann ich vieles lesen ohne gleich aggressiv zu werden wenn ich auch manchmal merke das ich wieder anfange darüber zufliegen.

  4. Das ist ein wundervoller Text, vielen lieben Dank dafür. Das Beispiel mit dem gebeutelten Kind und dem entgegengebrachten Verständnis/Mitgefühl, welches allerdings einer Person, die an den seelischen Folgen von diversen Gewaltarten zu leiden hat, nicht zuteil wird, ist fantastisch und wirft so viele Fragen bzgl. unserer Gesellschaft auf. Warum reagieren Mitmenschen so eigenartig? Worin ist das paradoxe Verhalten begründet?

    Die Antwort ist mir egal. Die Fragen aber, die der Text hervorbringt, finde ich super, weil hierdurch das Nachdenken angeregt wird.

    Grandioser Beitrag!

  5. Streiche Frau, setze Mann. Bis auf die Essstörung habe ich in einen Spiegel gesehen. Danke für deine Offenheit, es tut gut zu wissen dass man nicht allein als Gladiator in der Arena steht.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Anzeige