Den meisten Menschen, die eine psychische Erkrankung haben, merkt man nichts davon an. Auch weil sie es gut verstecken. Unsere Community-Autorin erzählt von ihrem Umgang mit dem Leiden und was sie sich von der Gesellschaft wünscht.
Wie viel weißt du von anderen?
Wach, witzig, inspirierend, ein bisschen überdreht, warmherzig, intelligent, etwas verpeilt vielleicht. So würdest du mich möglicherweise beschreiben, wenn du mich kennen lernst.
Wer mich gut kennt, lange kennt, weiß um die andere Seite.
Die vernichtenden Selbstzweifel, die seelischen Schmerzen, die Ängste, Angstzustände, Kämpfe, meine Anstrengung, Weinkrämpfe oder noch schlimmer, die Phasen, in denen selbst Weinen nicht mehr geht. Absolute Gefühllosigkeit und Lähmung, Atemnot. Aufgeben wollen, einfach um Ruhe zu finden in der aufgeriebenen Seele. Gedanken über Suizid.
Wer mich gut kennt, lange kennt, kennt meine Geschichte, kennt Skizzen aus meiner Vergangenheit, meiner Kindheit. Und er kennt meine Zähigkeit, mich den Dämonen zu stellen und weiterzumachen. Dämonentango nenne ich das.
Ja, ich verstehe dich, ich kann die Leier von der „schlimmen Kindheit“ selbst nicht mehr hören. Und nein, ich bin niemand, der sich darauf ausruht. Und wieder ja – Gewalt, egal ob auf seelischer, körperlicher oder sexueller Ebene oder auf allen Ebenen gleichzeitig, hinterlässt tiefe Spuren im seelischen Fundament eines Menschen:
– Im Selbstwertgefühl (wenn es überhaupt noch existent ist – kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt sich NICHT zu fühlen, weil deine Seele sich als Kind schon aus Angst verkrochen hat?).
– Im Vertrauen in und auf das Leben.
– In den Beziehungen zu anderen Menschen.
– Im Vertrauen zu sich selbst.
Ich bin seelisch nicht gesund. Bin ich also psychisch krank?
Nein, ich sitze nicht wild zuckend in der grün gekachelten Abteilung einer Psychiatrie. Und ich sabbere auch nicht vor mich hin, während ich mit leerem Blick eine Wand anstarre. So ist doch das Klischee von psychisch Kranken? Ein Stereotyp, der nichts damit zu tun hat, wie normal wir wirken.
Du würdest es wohl nicht mal merken – denn ich funktioniere ganz normal. Oder sagen wir – meistens.
Im Job stehe ich meine Frau. Arbeite als Führungskraft und Projektleitung. Fühle mich vielleicht vor einem Meeting nervöser als andere, wenn ich vor der Geschäftsleitung sprechen muss. Werde immer noch völlig konfus, wenn ein Mensch dabei ist, der mich an eine Person erinnert, die mich in meiner Kindheit gequält hat. Das ist keine bewusste Entscheidung. Mein Hirn schaltet auf Notfall-Autopilot.
Ich habe mit Ängsten, Schwindelattacken, Überforderungsgefühlen und tiefen Frustrationen und Verwirrungszuständen zu kämpfen. Aus diesen Ängsten heraus prokrastiniere ich oft übermäßig.
Meine Kollegen halten mich hin und wieder für völlig verpeilt und rollen die Augen. Was sie nicht wissen – ich bin dann so, weil ich mit meinem Trauma in Verbindung gekommen bin. Eine rein physiologische Reaktion meines Gehirns auf bestimmte Situationen, die das auslösen: Flucht! Kampf! Totstellen, sofort!
Sie finden mich spontan und witzig, manchmal vielleicht für etwas vorlaut. Was sie nicht wissen ist, dass meine Impulse für mich teilweise nicht kontrollierbar sind. Meine Sprache manchmal zu entgleisen droht. Ich Kraft aufwenden muss, um „normal“ zu sein und nicht ständig anderen ins Wort zu platzen.
Nach meinem Outing wartest du jetzt sicher noch auf die Diagnose, die mich fein säuberlich chirurgisch von den „Gesunden“ trennt. Und ich verstehe dich.
Doch ich muss dich enttäuschen.
In der Psychologie gibt es keine Skalpelle.
Von Heilung und Schwefelgeruch
Hat man eine Wahl?
Was ich mir wünsche?
Ich lebe
Ich habe Abitur gemacht. Zwei qualifizierte Ausbildungen. Habe verschiedene Jobs gehabt. Doch lag ich immer unter meinen intellektuellen Möglichkeiten, weil mir das Gefühl des inneren Vertrauens und der Sicherheit fremd war. Bestimmt hätte ich auch ein Studium hinbekommen.
Doch statt Theater AG und Journalismuskurs habe ich mit 16 Kalorien gezählt und wild vor mich hin gehungert – ich dachte irgendwie das wäre das Wichtigste, um eine Art „Halt“ zu empfinden, Kontrolle über mein Leben und meinen Selbstwert zu bekommen. Zu anderem und zu anderen habe ich keinen Zugang finden können vor lauter Scham und Angst und Verzweiflung in mir. Ich habe studiert. Meine Seele statt Germanistik.
Ich habe meine Ausbildung durchgezogen. Obwohl ich stark suizidal war. Auf den Hilfeschrei an meine Mutter „Ich möchte sterben, ich kann nicht mehr!“ kam nur ein „Kind, sowas darfst Du nicht mal denken!“. Damit war das Thema abschließend behandelt. Und es gab damals keinen anderen Zugang, keine Vertrauten, niemand der verstand. Nicht mal Google (und das meine ich durchaus ernst, denn das Internet bietet heute eine große Hilfe in der Suche nach Unterstützung und Selbstverständnis, und das weitestgehend anonym).
Ich könnte Dir jetzt schockierende Anekdoten aus meiner Familie erzählen und Du würdest den Kopf schütteln und meine Eltern verurteilen. Doch darum geht es nicht. Das will ich gar nicht, denn ich habe ihnen (größtenteils) vergeben können, weil ich weiß, unter welchem Horror sie im Krieg aufgewachsen sind. Ich habe zu hart gekämpft um Mitleid zu wollen.
Die Sache mit den Mokassins
Ich will Anerkennung.
Ich will Würde.
Nicht nur für mich, sondern für alle Menschen, die weiter kämpfen und nicht aufgeben. Und die trotzdem immer ein bisschen am Rande der Gesellschaft stehen. Als die Sensiblen, Labilen, die „mit dem Dachschaden“, wie sie bei uns im Unternehmen gern mal süffisant genannt werden. Die etwas leiser sind oder etwas lauter. Die vielleicht irgendwie schräg wirken oder hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, weil sie ständig mit verknoteten Schnürsenkeln im Kopf herumlaufen.
Ich will breite Kompetenz und einen Tabubruch.
Ich will Aufklärung.
Ich will nie mehr pseudo-spirituelle Menschen hören, die etwas von „spirituellem Versagen“ oder „Gesetz der Anziehung“ faseln, wenn ich eine depressive Phase habe und um mein Leben kämpfe.
Ich will, dass Menschen wissen, dass ich nicht seelisch gebeutelt bin, weil ich schwach bin oder faul oder nicht belastbar. Ich habe mich an den eigenen Haaren aus der tiefsten seelischen Gosse gezogen. Das soll mir so erstmal einer nachmachen.
Ich denke gerade an den abgedroschenen Mokassin-Spruch: „Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.” Aber ja, der macht verdammt nochmal Sinn, bevor man jemanden in eine wertende Schublade steckt.
Danke.
Mein großer Dank geht an die moderne Psychotherapie, an verantwortungsvolle und wirklich an Menschen interessierte Therapeuten und Ärzte.
An Mentoren und meine engen Freunde, die an mich glauben und mich aus der tiefsten Verzweiflung wieder ans Licht zerren. Die mir, wenn ich mich entscheiden würde aufzugeben, noch post mortem mit aller Kraft in den Hintern träten.
Ich habe Sucht überwunden.
Ich habe Essstörungen überwunden.
Ich habe tiefste Depression und Panikattacken soweit verstanden, dass ich weiß, dass ich jede Welle wieder nehmen werde.
Doch ich habe mich niemals den dunklen Fratzen in meiner Seele ergeben.
Ich lebe.
Das ist mein Erfolg.
Mehr bei EDITION F
Schizophrenie – wie geht unsere Gesellschaft mit außergewöhnlichen Menschen um? Weiterlesen
So jung und schon in Behandlung: Warum eine Therapie kein Zeichen von Schwäche ist. Weiterlesen
Diana Doko: „Kaum jemand ist in der Lage, die Anzeichen für eine Depression zu erkennen“. Weiterlesen