Nichts ist schlimmer und nichts ist nervenzehrender als das schrille Schreien des eigenen Kindes – wir sollten lernen, dass wir dabei nicht an unsere eigenen Grenzen gehen müssen.
Ein Kind schreit, herzerweichend und verzweifelt
Ich sitze im Bett. Draußen ist ein warmer Sommerabend. Emil und Ida liegen in ihren Betten und schlafen. Es ist still. Paul arbeitet. Ich bin allein. Ich nehme ein Buch. Und öffne das Fenster zum Garten weit. Die meisten sind im Urlaub. In der alten Kirsche sitzen ein paar müde Vögel. Ich setze mich zurück aufs Bett. Und dann höre ich es. Ein Kind schreit. Ich sitze einen Moment ganz still da. Es schreit herzerweichend. Es schreit verzweifelt. Es schreit wie ein Kind schreit, dem man kochendes Wasser über die Haut kippt. Oder das sich den Finger in der Autotür klemmt. Es schreit so, dass es einem beim Zuhören weh tut. Ich warte.
Das Kind schreit weiter. Es schrillt durch den ganzen Hinterhof. Es tut mir in der Seele weh. Emil und Ida schlafen tief.
Ich gehe barfuß über die Holzdielen durch Idas Zimmer und das Arbeitszimmer in den Garten. Auf der alten Eisentreppe setze ich mich hin. Ich weiß nicht, woher das Schreien kommt.
Kinder schreien, als ginge es um ihr Leben
Die anderen Gärten sind leer. Ein Eichhörnchen huscht über den Zaun. Das Kind schreit. Ich schaue zu den Fenstern hoch. Zu viele Fenster. Zu viele Häuser.
Kinder schreien, als ginge es um ihr Leben. Wenn sie sich verletzt haben. Aber auch wenn sie verzweifelt sind. Ich kann noch nicht mal sagen, ob es das Geschrei eines Neugeborenen ist oder das einer Zweijährigen. Es ist schrecklich schrill.
Ich laufe an den Zaun. Niemand zu sehen. Ich würde gerne jemanden treffen und fragen, ob sie wissen, woher das Geschrei kommt. Aber es ist niemand draußen an diesem beschaulichen Sommerabend. Ich setze mich wieder auf die Treppe. Das Kind schreit.
Nach zwanzig Minuten gehe ich wieder rein. Ich fühle mich irgendwie hilflos. Ich setze mich mit meinem Buch aufs Bett. Das Schreien hört nicht auf. Ich höre die Stimme einer Frau – wahrscheinlich die Mutter. Jemand kümmert sich, denke ich.
Nach weiteren dreißig Minuten kein Ende. Ich gehe wieder in den Garten. Und ich höre die Mutter. Ich höre, wie sie schreit. Wie sie „Jetzt hör endlich auf!“ schreit. Wie schrill und verzweifelt. Und ich verurteile sie nicht. Ganz und gar nicht. Ich fühle mit ihr.
Wenn DEIN Kind schreit, bist du verantwortlich
Nichts ist schlimmer und nichts ist nervenzehrender als das schrille Schreien des eigenen Kindes. Der Körper geht in Alarmbereitschaft. Das mütterliche Gehirn zieht dich in die Verantwortung. Wenn DEIN Kind schreit, bist du verantwortlich dafür, dass es wieder aufhört. Du musst es tragen? Füttern? In den Arm nehmen? Nichts hilft. Aber du hast die Verantwortung für dieses Wesen. Du willst alles richtig machen. Und du machst alles richtig. Aber du änderst die Situation nicht. Du bist da. Du wickelst, du streichelst, du flüsterst und singst. Aber es hört nicht auf. Dieses Schreien, das nur dir gilt. Du bist der Kopf und die Hände, für dieses Wesen, das sich nicht alleine helfen kann. Warum hilfst du mir nicht?
In deinen Ohren schreit nicht nur die Stimme deines Kindes. Da schreien viele Stimmen. Sie schreien dir ins Gesicht, dass du gerade etwas falsch machst. Dass du keine gute Mutter bist. Dass du nicht genug Kräfte für ein Kind hast. Und deine Geduld nicht ausreicht. Dass du an deine Grenzen gehst und darüber hinaus und es dir nicht gedankt wird.
Du bist müde und erschöpft. Du kümmerst dich 24 Stunden. Du bist immer da. Und immer verantwortlich. Du fütterst und trägst und schiebst und kuschelst. Du isst nur, wenn du Zeit dafür hast. Und du duschst nur, wenn du Zeit dafür hast. Du bist nicht mehr nur für dich alleine verantwortlich, du bist nahezu gar nicht mehr für dich verantwortlich, sondern nur für dieses kleine Bündel Glück, das dir geschenkt wurde. Und das dich quält und um den Schlaf bringt.
Und dann schreist du es an. Dieses kleine Wesen. Das vor dir liegt und nichts dafür kann, dass deine Nerven am Ende sind.
Ich weiß, dass wir alle unsere Grenzen haben
Und ich sitze auf der Treppe und bin den Tränen nahe. Weil mich nur eine Hauswand von dieser Frau trennt. Und ich nicht weiß, welche es ist. Weil meine Kinder selig in ihren Betten schlummern. Weil ich mit einem Glas Weißwein und einem guten Buch in der lauen Sommerluft im Garten sitze. Und ich würde so gerne aufstehen und an deiner Tür klingeln. Ich würde dir gerne einfach nur sagen, geh einfach eine Stunde spazieren. Ich bin hier. Und ich trage dein Kind. Und ich weiß, dass du alles richtig machst. Und ich weiß, dass wir alle unsere Grenzen haben. Aber ich weiß nicht, wo sie ist, diese verzweifelte Frau. Ich höre nur das schrille Schreien ihres Kindes.
Wir kommen an unsere Grenzen. Immer wieder. Wir kommen schon bei der Geburt an unsere Grenzen. Und wir schaffen das. Und wir wissen, wir können ab jetzt alles schaffen. Weil wir gute Mütter sind. Weil wir unsere Kinder lieben und tragen und beschützen. Aber erst wenn sie da sind, jeden Tag 24 Stunden, dann merken wir, dass wir nicht alle Kraft der Welt haben. Und nicht alle Geduld der Welt. Und dass wir nicht unfehlbar sind.
Vor allem müssen wir lernen, das zu akzeptieren. Wir können an unsere Grenzen gehen. Aber wir können auch vorher stoppen. Genau um zu verhindern, dass wir unsere Kinder anschreien. Dass wir selber heulend vor den Babybetten sitzen. Und genauso können wir jedem anbieten, gib es ab, wenn du nicht mehr kannst. Und sei es nur für zehn Minuten. Wir dürfen um Hilfe bitten. Wir dürfen zugeben, dass wir nicht alles alleine schaffen. Und wir dürfen bei fremden Menschen klingeln und zumindest anbieten, uns für zehn Minuten neben die Wiege zu setzen. Nur einen Moment, um der Mutter die Chance zu geben, Luft zu holen. Einen Moment, um einmal wieder sich selbst zu spüren. Und auch neue Kraft zu schöpfen.
Wir sollten uns gegenseitig stark machen
Wir dürfen Fehler machen. Und wir dürfen erschöpft sein. Wir dürfen nicht-perfekt sein. Und auch mal ungeduldig und laut. Wir dürfen nur nicht denken, dass wir die einzigen sind. Uns muss klar sein, dass alle um uns herum genauso sind. Dass es sie nicht gibt, die perfekte Mutter aus den Filmen und den Blogs. Wir müssen aufhören, uns etwas vorzumachen. Stattdessen müssen wir uns gegenseitig stark machen. Und Mut machen. Und uns immer wieder gegenseitig das Gefühl vermitteln, es richtig zu machen. Das sind wir unseren Kindern schuldig, aber noch viel mehr uns selbst. Erst wenn wir aufhören, uns ständig Vorwürfe zu machen und uns zu vergleichen, können wir uns selbst verstehen und akzeptieren. Und versuchen, alle die Dinge zu sehen, die wir jeden Tag verdammt gut machen. Und über die hinwegzusehen, für die wir uns schämen.
Wir können unsere Babys bis zur Erschöpfung tragen. Und ihr Schreien ertragen, bis wir es nur noch durch das eigene Weinen überdecken. Aber wir sind keine schlechten Mütter, wenn wir aus der Situation rausgehen und um Hilfe bitten. Wir haben alle Grenzen. Auch Grenzen der Kraft und der Geduld. Und wenn wir die ständig überschreiten, verlieren wir immer mehr Energie und immer mehr positive Lebenseinstellung.
Wir lernen alle aus Erfahrungen. Aber wenn wir die einmal gemacht haben, sollten wir sie weitertragen. Und nicht verstecken. Und nicht so tun, als wären wir diejenigen, die immer alles im Griff haben. Und immer alles richtig machen. Stattdessen können wir nicht oft genug sagen, dass es uns genauso ging. Und dass wir da sind, um zu helfen. Ich hätte gerne geholfen.
Dieser Text erschien zuerst auf Emil und Ida, dem Blog von Miriam Burdelski. Wir freuen uns, dass sie ihn auch hier veröffentlicht.
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