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„Die Gesellschaft geht davon aus, dass ADHS mit dem 18. Lebensjahr vorbei ist“

Inwiefern wirkt sich ADHS auf den Alltag aus? Warum wurde es erst im Erwachsenenalter diagnostiziert? Und was ist ADHS überhaupt? Wir haben mit betroffenen Frauen gesprochen – @MeisemitHerz ist eine von ihnen.

Prioritäten setzen

Neben mir lackieren sich Kommilitoninnen die Nägel, hinter mir wird sich über die neueste Serie unterhalten. Wie soll ich in einer Vorlesung mit 200 Leuten dem einen Menschen ganz vorne zuhören? Diese Frage beschäftigte @MeisemitHerz die ersten zwei Semester ihres Studiums – bis sie die Diagnose bekam: ADHS.

Heute, neun Jahre später, lebt sie in Hessen, ist mit ihrem ersten Freund verheiratet, mit dem sie bereits über 20 Jahre zusammen ist, und hat zwei Töchter. Welche Bereiche in ihrem Leben besonders von ihrem ADHS betroffen sind? Wir haben uns mit ihr unterhalten.

Wenn du zuerst mehr über die medizinische Sicht auf die Diagnose erfahren willst: Zum Interview mit Dr. Eike Ahlers von der Berliner Charité geht es hier entlang.

Wie sah dein Alltag vor der Diagnose aus?

„Bis zu meinem 27. Lebensjahr habe ich ohne die Diagnose ADHS gelebt. Da befand ich mich mitten im Studium. Es ging mir nicht gut, weil mein Mann und ich seit fünf Jahren versuchten, ein Kind zu bekommen. Der unerfüllte Kinderwunsch war zu dieser Zeit zwar beklemmend, aber nicht der Auslöser, dass ich mir Hilfe gesucht habe – ich habe mich schon immer irgendwie ,anders‘ gefühlt.“

Wie wurde es letztlich festgestellt?

„Da ich Christin bin, bin ich mit 27 aufs ,Christival‘ nach Bremen gefahren. Dort habe ich mich für das Seminar ,Lebensangst und Todessehnsucht‘ eingeschrieben. Ganz einfach, weil diese zwei Sachen mich schon ein Leben lang begleitet haben. Suizid war zwar nie ein Thema für mich, weil ich als Christin das Leben als ein Geschenk Gottes sehe.

Selbstmordgedanken hatte ich zwar schon ab und zu, aber nicht im Sinne von: Ich will nicht mehr leben, sondern vielmehr: Ich will endlich im Paradies sein, um nicht mehr leiden zu müssen.

Nach dem Seminar hatte ich eine Sprechstunde bei dem Referenten, der, wie sich später herausstellte, ADHS-Fachmann ist. Ich erzählte ihm, dass es mir nicht gut geht, unter anderem wegen des unerfüllten Kinderwunsches, und dass ich mich kratze, um mich selbst zu verletzen. Er war derjenige, der mir Tipps gab und mich dazu anregte, mich auf ADHS testen zu lassen.“

Wie hast du dich gefühlt, als die Diagnose bestätigt wurde?

„Ich war schockiert. Ich habe zu dem Zeitpunkt Kindheitspädagogik studiert und so wurde mir sowohl im Studium als auch von meinem Vater, der auch Kinderpsychologe ist, vermittelt, dass ADHS eine Modekrankheit ist. Ich wollte die Kinder nicht in irgendwelche Schubladen stecken, in die sie eigentlich nicht hineingehören, und zum ,Zappelphilipp‘ verurteilen, obwohl sie einfach nur Kinder sind.

Dennoch hat nach der Diagnose auf einmal alles Sinn gemacht. Ich war im Studium immer die Langsamste, bin beim Lesen von Unterlagen nicht mal halb so weit gekommen wie alle anderen. Das hat mich fertiggemacht. Und auf einmal habe ich realisiert, dass das nicht an mir liegt, sondern am ADHS.“

Du hattest aber vorher nie die Vermutung, dass du von ADHS betroffen sein könntest?

„Nein. In jeder Phase meines Lebens wusste ich, ich bin anders. Zum ersten Mal wurde mir das im Kindergarten, bewusst, als mein unfertiges Bild am Tag der offenen Tür neben allen fertigen Zeichnungen hing. Das fand ich schrecklich.

Vor meiner Eigendiagnose habe ich ADHS wirklich verteufelt und verleugnet. Mein Papa hat als Kinderpsychologe jedes Kind so genommen, wie es ist. Er hat nie nach einem bestimmten Schema behandelt und sich geweigert, ADHS zu diagnostizieren – weil das ja auch die Aufgabe eines Psychiaters und nicht eines Psychologen ist. Er hat einfach nicht daran geglaubt, daher stand ADHS für mich vorher nie zur Debatte.“

Viele Betroffene berichten von einer inneren Unruhe – würdest du rückblickend sagen, dass du damit auch zu kämpfen hattest?

„Mir wird immer gesagt, dass ich ein sehr wildes Kind und viel in Bewegung war, aber meine Mama hat immer drauf geachtet, dass wir auch wirklich Kind sein konnten. Mein Bruder und ich haben viel Zeit an der frischen Luft verbracht – das ist eine tolle Umgebung für ADHS-Kinder. Daher ist es auch nicht augenscheinlich geworden, dass ich extrem anders bin. Ich musste mich nicht in irgendwelchen vorgegebenen Bahnen bewegen. Erst in der Schule traten die ersten Probleme auf und ich habe Strategien entwickelt, um meine Defizite zu kompensieren.“

Denkst du, eine frühere Diagnose hätte etwas geändert?

„Das ist schwer zu sagen. Auch heute habe ich noch immer Probleme damit, dass Kinder die Diagnose bekommen, weil sie dadurch zu früh und eventuell auch ungerechtfertigter Weise in eine Schublade gesteckt werden.

Als ich mit 23 in meinem ersten Job als Kostümschneiderin – die Lehre hatte ich direkt nach der Schule gemacht – eine Sinnkrise hatte, warf ich meiner Mutter vor, dass sie mich in meiner Kreativität und meinem vielseitigen Interesse gebremst hat. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass mich meine Mutter einfach zu wenig hat machen lassen.“

Und im sozialen Umgang – hätte dir da eine frühere Diagnose das Leben erleichtert?

„Freundschaften waren immer problematisch. Ein Freund, der den Kontakt abbrechen wollte, sagt mal zu mir, ich sei ein sehr besonderer Mensch … was soll man darauf sagen? Danke? (lacht).

Mir wurde oft vorgeworfen, dass ich andere nicht zu Wort kommen lasse oder unterbreche, immer meine Ideen einbringen möchte, unkonzentriert bin, wenn der andere etwas erzählt, immer zu spät komme, den roten Faden verliere. Mit meinen Freunden heute kann ich offen darüber reden – weil ich die Diagnose auch selbst akzeptiert habe und auch das Positive darin sehe.“

Hattest du denn in der Schule Probleme, die erwartete Leistung zu erbringen?

„Nein, da hat mein Intelligenzquotient zum Glück einiges ausgeglichen. In der Grundschule war ich lange Zeit die Klassenbeste, auch auf der weiterführenden Schule war ich sehr gut – zumindest in den Fächern, für die ich mich begeistern konnte und in denen die Lehrer Verständnis für meine Eigenarten hatten.

Dazu muss man aber sagen, dass ich in der ersten Klasse wieder in die Vorschule zurückgestuft wurde, weil ich noch zu verspielt war. Das hat mir unglaublich gutgetan.“

Was sind denn deine „Eigenarten“, die auf das ADHS zurückzuführen sind?

„Ich bin ich in der Schulzeit oft angeeckt, weil ich einen starken Gerechtigkeitssinn habe, viel reden kann, laut bin, oder auch vielen ins Wort falle. Ich habe einfach mehr Zeit gebraucht: um meine Gedanken zu ordnen, Aufgaben zu lösen und die richtigen Antworten zu finden.“

Nachdem du während des Studiums deine Diagnose bekommen hast – fiel dir das Lernen dann leichter?

„Ja, im Studium war der Unterschied krass, weil ich einen Teil ohne Diagnose und ohne Medikation, den andere Teil mit Medikation studiert habe. Das war wie Tag und Nacht.

Zum ersten Mal habe ich erlebt, wie andere Gehirne funktionieren und wie einfach es sein kann. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich faul war, was mir oft angehängt wurde, sondern ich konnte einfach nicht: Ich konnte mir nicht so schnell neue Sachen aneignen, eine Aufgabe nach der anderen abarbeiten und ständig die nötige Konzentration aufbringen.“

Inwiefern wirkt sich ADHS auf deinen Alltag aus? Welche Lebensbereiche sind besonders betroffen?

„Bei meinem ersten Job als Kostümschneiderin wurde mir schnell klar, dass das nicht das Richtige für mich ist. Abgesehen davon, dass mir dort viel Mobbing widerfahren ist, war dann die Tatsache, dass sie mir meine Flitterwochen nicht genehmigen wollten, der Grund für mich, einen Schlussstrich zu ziehen.

Das war das erste schwarze Loch, in das ich gefallen bin. Um dort wieder rauszukommen, habe ich mir entsprechende Hilfe gesucht. Mein Partner sagt jetzt, dass das meine erste Depression war.“

Und dann hast du die Kostümschneiderei hinter dir gelassen und dein Studium begonnen?

„Danach wollte ich etwas komplett anderes machen. Da wir damals in Gießen wohnten, dem Heimatort meines Mannes, studierte ich dort Kindheitspädagogik. Und weil mir dieses Fach total leicht fiel, war mir klar: Das ist es, das ist meine Berufung.

2012 habe ich meinen Bachelor gemacht, im Jahr 2010 habe ich dank künstlicher Befruchtung mein erstes Kind bekommen. In dieser Zeit ging es mir super. Nur die Thesis-Zeit, was auch gleichzeitig die Stillzeit war, war hart, weil ich keine Medikamente nehmen durfte.“

Welche Medikamente helfen dir denn am besten?

„Mein damaliger ADHS-Psychiater hatte mich gut auf eine Methylphenidat-Dosierung eingestellt, die ich etwa zwei Jahre nahm, bis ich mit der ersten Kinderwunschtherapie anfing. Danach nahm ich bis zur Depressionsdiagnose keine ADHS-Medikamente. Zwischendurch nahm ich Strattera, welches ich aber als nicht hilfreich empfand, ich habe es sofort abgesetzt, als ich wieder schwanger wurde. Nun werde ich erstmal wieder lange stillen, danach würde ich gerne wieder Methylphenidat nehmen, weil es mir damals sehr gut getan und geholfen hatte. Was mir total wichtig ist: Eine Medikation – bei Erwachsenen und vor allem bei Kindern – sollte immer eine Hilfe für die Betroffenen sein, nicht für ihr Umfeld. Es sollte also immer vom Leidenden aus betrachtet werden!“

Macht sich ADHS noch in anderen Begleiterscheinungen bemerkbar?

„Ja, Ostern 2013 hatte ich eine starke depressive Phase. Mein ADHS-Psychologe hat mich dann in die Psychiatrie geschickt. Da ich nicht selbstmordgefährdet war, wurde ich nicht direkt eingewiesen, sondern war in regelmäßiger Behandlung. Seitdem arbeite ich nicht mehr.

Auch nach meiner zweiten Schwangerschaft, die erst dann klappte, als wir die Hoffnung bereits begraben hatten – sogar auf natürlichem Wege – hatte ich einige Probleme. Ich hatte mich schon mit einem Einzelkind abgefunden, als ich plötzlich schwanger und damit völlig überfordert war. Meine Psychologin konnte dafür keinerlei Verständnis aufbringen.

2012 haben wir dann beschlossen, mit meinen Eltern in Mittelhessen in ein Zwei-Familienhaus zusammenzuziehen. Das hat mir sehr geholfen.“

Fühlst du dich denn, was die medizinische Betreuung angeht, gut aufgehoben?

„Nein, null. Schon die Diagnose war ein Witz. Ich nehme an, dass der Mann, der mich diagnostiziert hat, selbst ADHSler ist. Als ich nämlich für meine Thesis eine Verlängerung beantragt hatte, gab es keine Kartei von mir. Nach meiner Diagnose war ich bei dem Psychiater vom Christival in Behandlung. Die erste ADHS-Therapie war gut, obwohl ich den Psychiater nach der Einstellung der Medikamente nicht oft gesehen habe, sondern dann in Psychotherapie war, die mir sehr geholfen hat.

Bei meinem ersten Kind bin ich im Muttersein voll aufgegangen – die Hormone haben mir sehr gutgetan. Kurz vor der ersten Schwangerschaft habe ich mit der Therapie aufgehört. Und dann erst wieder Ärzte in Anspruch genommen, als ich Ostern 2013 die Depression hatte. Und die haben meine Diagnose hinterfragt.“

Kannst du der Diagnose auch positive Eigenschaften abgewinnen?

„Die Diagnose an sich war rundum positiv, sowohl für die Beziehung zu meinem Mann als auch zu meinen Eltern. Oftmals ist ADHS erblich bedingt. Und als ich alles gelesen hatte, war für mich ganz klar: Mein Papa ist ADHSler. Anfangs hat er es nicht wahrhaben wollen, so langsam aber freundet er sich damit an.

Sowohl für mich als auch meine Familie war das eine Offenbarung  für mich und unser Familienleben. Auf einmal konnten wir sein Verhalten verstehen und damit arbeiten.“

Gibt es aus deiner Sicht noch gesellschaftlichen Aufklärungsbedarf oder fühlst du dich mit deiner Diagnose ernst genommen und akzeptiert?

„Meine Freunde wissen es alle. Wenn ich merke, dass ich mit Leuten auf einer Wellenlänge bin, rede ich offen über mein ADHS. Auch auf Twitter bin ich transparent.

Auch in meinem Studium, als die Diagnose klar war, bin ich in die Offensive gegangen. Ich habe klar und deutlich gesagt: ,Ich habe ADHS. Das heißt, wenn hier alle reden, kriege ich nichts mit. Wir müssen nacheinander reden.‘ Das war eine ganz tolle Erfahrung.

Wenn Leute heute überrascht auf meine Diagnose reagieren und irritiert meinen, dass es doch nur eine Kinderkrankheit sei, ist das mal wieder ein typisches Beispiel dafür, dass die Gesellschaft davon ausgeht, dass ADHS mit dem 18. Lebensjahr vorbei ist.“

Was wären aus deiner Erfahrung Tipps für andere Betroffene?

„Akzeptiere dich so, wie du bist! Sorge für ausreichend Ruhepausen im Alltag, sag auch mal Nein zu Menschen und Unternehmungen, umgib dich mit den Menschen, die dich akzeptieren, wie du bist, dich annehmen und weiterbringen. Meide andere. Teile dir Aufgaben in kleine Teilabschnitte ein, setz dich bei wichtigen Aufgaben neben deinen Lieblingsmenschen.“

Themenwoche: Frauen mit ADHS

Diese Woche widmen wir dem Thema ADHS. Neben Dr. Ahlers, der uns die medizinische Sicht erklärt hat, erzählen bei uns diese Woche sieben Frauen von ihrem Alltag mit ADHS. Das sind die bisherigen Interviews, weitere folgen:

Dr. Ahlers: „Bei hyperaktiven Mädchen denkt man nicht gleich an ADHS!“ Weiterlesen

Andie: „Nach der Diagnose war klar: Ich bin gar nicht so abgefucked, das ist das ADHS“. Weiterlesen

Katarina: „In manchen Situationen würde ich meinem Sohn liebend gerne Ritalin geben…“. Weiterlesen

Jessy: „Dass ich nach dem Koksen nichts merkte, war für mich ein klares Indiz für ADHS“. Weiterlesen

Clara*: „ADHS? Nee, ich doch nicht. Ich bin höchstens hochbegabt und hochsensibel“. Weiterlesen

Ninette: „Nein, ADHS lässt sich nicht ,weg erziehen‘!“ Weiterlesen

Anna*: „Die Bezeichnung ,Modekrankheit‘ ist totaler Bullshit!“. Weiterlesen

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