Im Umgang mit Menschen mit Behinderung gibt es einfach noch zu viele Barrieren – nicht nur bei Treppen, sondern vor allem im Sinne von fehlender Sensibilität in unserer Gesellschaft. Mit #Behindernisse will Ash genau das ändern.
Mehr Sensibilität, bitte!
Der steile Weg die Treppe herunter zur U-Bahn, das Fehlen von Aufzügen, die leisen Durchsagen am Bahnsteig, die Treppe im Keller unserer Lieblingsbar, die viel zu hoch angebrachten Briefkästen. Was den meisten Menschen im Alltag gar nicht auffällt, macht Menschen mit Behinderung das Leben unnötig schwer.
Weil das dem Großteil von uns aber gar nicht bewusst ist, will Ash mit dem Hashtag #Behindernisse auf Twitter für mehr Sensibilität im Umgang mit Menschen mit Behinderung plädieren. Sie_er* kann selbst aus Erfahrung sprechen (* Ash ist genderqueer und möchte daher mit sie_er angesprochen werden). Seit dem Kindergarten hat Ash chronische Schmerzen, chronische Erschöpfung, diverse Autoimmun-Erkrankungen und dadurch zusätzlich viele Allergien. Weil man Ash die Behinderung aber nicht direkt ansieht, hatte sie_er schon oft das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
Wir haben die_den 27-Jährige_n getroffen und darüber gesprochen, worin das Problem des strukturellen Ausschlusses von Menschen mit #Behindernisse(n) genauer liegt und wie eine sensible Gesellschaft aussehen könnte.
Liebe_r Ash, wie hast du persönlich den gesellschaftlichen Umgang wahrgenommen?
„Meine Schulzeit war sehr oft ganz, ganz anstrengend. Sowohl in der Grundschule, auf der weiterführenden Schule als auch auf dem zweiten Bildungsweg wurde mir oft unterstellt, dass ich nur so tue, als wäre ich krank, oder dass ich einfach keine Lust habe, Klausuren mitzuschreiben. Es wurde mir unterstellt, zu meinen, dass ich es nicht nötig hätte, weil ich eben so gute Noten hatte. Ein Direktor meinte wortwörtlich zu mir: ,Das Attest können Sie sich sonst wo hinstecken, wenn sie noch einmal mehr im Halbjahr fehlen, fliegen Sie.‘ Das macht unglaublich hilflos.“
Was ja eigentlich nur kontraproduktiv ist. Sobald man Druck von außen spürt, hat man Angst zu fehlen und wird genau dann krank.
„Ja, richtig! 2012 hatte ich zum Beispiel eine Lungenentzündung, weil ich eben auch sehr infektanfällig bin, dreieinhalb Wochen lag ich komplett flach. Als ich dann wieder zur Schule gegangen bin, hatte ich auf einmal schlechte mündliche Noten. Bei jedem Zeugnis musste ich mit jeder Lehrperson neu darüber diskutieren, dass ich mich doch gut beteilige, wenn ich da bin. Nur, weil ich eben oft fehle, mir nicht die 13 oder 14 Punkte zu geben, habe ich nicht eingesehen. Meine Gesundheit kann ich schließlich nicht steuern. Ich musste immer kämpfen, einerseits beweisen, dass ich leistungsfähig, andererseits aber auch krank bin.“
Wie sieht denn dein Alltag heute aus?
„Ich habe keinen richtigen Rhythmus, das ist einfach sehr von der Tagesform abhängig. Ich bin nicht arbeitsfähig und musste dadurch auch dreimal die Schule abbrechen– nicht mal so sehr wegen der Symptome an sich, sondern wegen des Drucks, der von außen kam.
Nach meinem Abitur, das ich dann Mitte 2014 auf dem zweiten Bildungsweg nachgemacht habe, habe ich aber auch gemerkt, dass ein normales Arbeitsleben für mich nicht in Frage kommt. Sonst wäre es wie in der Schule gewesen: hingehen, den Tag irgendwie durchstehen, versuchen wach zu bleiben, Zuhause direkt wieder ins Bett.
Momentan lebe ich bei meinen Eltern, was sich aber auch ändern soll. Manchmal kann ich mir nicht mal etwas kochen oder den Haushalt machen, weil die Schmerzen zu stark sind.“
Gibt es denn Situationen, die du im Alltag meidest?
„Außerhalb essen gehen vermeide ich definitiv, weil ich mehr Lebensmittel nicht vertrage, als ich essen kann. Die bisherigen Reaktionen, die ich darauf erhalten habe, waren nicht so angenehm. Ganz feste Verabredungen finde ich auch schwierig, weil ich eben schwer einschätzen kann, wie ich mich an dem besagten Tag fühle. Ich verabrede mich natürlich schon mit Menschen, aber sage immer dazu, dass ich nicht sicher sein kann, wie es mir dann geht. Ich fahre kein Auto, weil ich oft benebelt bin im Kopf. Das Reisen ist auch begrenzt. Zugfahrten bis zu zwei Stunden gehen, aber mehr auch nicht.“
Ash twittert als @MissMindf0ck
Nimmst du Medikamente?
„Teilweise schon. Ich nehme Schilddrüsenhormone und auch Cortison und Schmerztabletten, da haben wir auch schon einiges anderes durchprobiert, gegen die Erschöpfung zum Beispiel Ritalin im Off-Label-Use, dann auch ein Medikament gegen Narkolepsie, aber das hat eben auch alles immer Nebenwirkungen. Daher versuche ich, möglichst wenige Medikamente zu nehmen.“
Wie ist das finanziell? Kriegst du finanzielle Unterstützung vom Staat oder der Krankenkasse?
„Zum Glück bin ich über meine Eltern privat versichert, da wird einiges von der Krankenkasse übernommen, an Behandlungen zumindest, an Nahrungsergänzungsmitteln größtenteils leider nicht. Zum Leben bekomme ich ganz normal Arbeitslosengeld II.“
Wie gehst du mit deiner Behinderung gegenüber deinen Freunden um?
„Meistens kommt man ja relativ schnell darauf zu sprechen, was man beruflich macht – dann ist das ganz schnell klar. Mir ist aber auch wichtig, dass die Leute Bescheid wissen. Vor allem auch in der Hinsicht, dass ich häufig Treffen absagen muss oder Sachen nicht machen kann. Und, bevor sie denken, dass die Absage mit ihnen persönlich zu tun hat und ich keine Lust habe, sie zu treffen, kündige ich das lieber vorher an.“
Deine Freunde wissen Bescheid, aber wie hast du persönlich gelernt,
damit umzugehen?
„Letztendlich habe ich ja gar keine Wahl, ob ich damit offen umgehe oder nicht, die Behinderung ist so oder so da. Natürlich gibt es Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Gerade, wenn ich mehrere Wochen habe, in denen ich mich kontinuierlich schlechter fühle – so schlecht, dass die Runde mit dem Hund das einzige ist, zu dem ich in der Lage bin. Ich fühle mich dann einfach wertlos. Natürlich habe ich die Ansätze von der Leistungsgesellschaft, in der wir alle leben, verinnerlicht, sodass ich mich manchmal frage, was überhaupt mein Nutzen ist.“
Was wünscht du dir denn im gesellschaftlichen Umgang?
„Ich wünsche mir, dass immer mehr Leute versuchen, sich in die Lage von anderen hineinzuversetzen – nicht nur in Bezug auf behinderte Menschen, sondern auf alle Personengruppen, die von Diskriminierung betroffen sind. Dass auch privilegierte Menschen mal versuchen, die andere Sichtweise einzunehmen, sich bemühen, unsere Sicht nachzuvollziehen und dadurch gesellschaftliche Barrieren abgebaut werden.
Sie sollen sich bewusst machen, dass nicht alles, was nett gemeint ist, auch eine positive Wirkung hat. Spätestens #Behindernisse hat gezeigt, dass allumfassend so, so viel schief läuft, gerade auch für Leute mit sichtbaren Behinderungen. Sie erzählen uns, dass sie nicht Zug fahren können, dass sie es ewig vorher ankündigen müssen, die Leute, die ihnen helfen sollten, dann aber nicht vor Ort sind, dass die Mobilitätsbüros der Bahn nur phasenweise besetzt sind, dass sie vergessen werden. Das kann doch nicht sein!“
Diese Denke zu verändern, ist aber ein langer Prozess. Inwiefern soll #Behindernisse dazu beitragen?
„Ja, das auf jeden Fall. Ich hoffe natürlich, dass die Leute durch den Hashtag ein bisschen mehr dazu sensibilisiert werden, offen mit dem Thema umzugehen und das Problem auch zu benennen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute, die nicht behindert sind, zunehmend auf Barrierefreiheit achten würden. Wenn Leute einfach mal überall, wo sie hingehen, bewusst schauen würden, ob sie dort auch mit einem Rollstuhl keine Probleme hätten. Nach dem Motto: Wenn ich nichts sehen oder hören könnte, was wäre dann jetzt? Das ist natürlich ein Prozess, der nicht von heute auf morgen geht.“
Gibt es denn auch Menschen, die sich schämen und versuchen, ihre Behinderung zu verstecken?
„Ja, es gibt ganz viele Menschen, die nichts sagen oder ihre Behinderung herunterspielen. Am Anfang haben auch viele gefragt, ob sie sich überhaupt mit dem Hashtag äußern dürfen. Mich stört vor allem die Darstellung von behinderten Menschen in den Medien – da werden sie nämlich gar nicht als behindert dargestellt, sondern als Personen, die dauerhaft grandiose Leistungen erbringen. Und dann soll das am besten auch noch eine Inspiration sein für die Menschen ohne Behinderung, nach dem Motto: ,Wow, diese Person hat keine Beine, kann aber trotzdem alles schaffen und leidet niemals.‘ Das macht es dann noch schwerer, hinzugehen und zu sagen: ,Hey, ich bin behindert und mir geht’s gerade richtig schlecht. Ich möchte gerade auch keine Inspiration sein.‘
#BeHindernisse hat auch gezeigt, dass selbst die engsten Familienmitglieder nicht mitdenken. Ein Beispiel: Ein Mann fährt seit 15 Jahren Rollstuhl und ist zur Kommunion seines Neffen eingeladen. Die Toilette im Restaurant befindet sich im Keller und ist dadurch nicht zugänglich für ihn. Sein Bruder sieht darin kein Problem und meint: ,Dann gehst du halt davor oder danach. Und, wenn es doch sein muss, tragen wir dich halt die Treppe herunter.‘ Was soll man denn machen, wenn es nicht mal die eigene Familie mitträgt? Das macht es noch viel schwieriger, das Bedürfnis mit einzufordern.“
Hast du Tipps, wie man mit dir am besten umgehen sollte?
„Ich wünsche mir, dass mich die Menschen öfter fragen: Wie geht’s dir, was kann ich tun, was würdest du dir wünschen? Oder vielleicht einfach mal sagen: ,Das macht mich gerade hilflos, was soll ich machen?‘, statt entweder für mich entscheiden zu wollen, was ich kann und was nicht, oder Ratschläge zu geben, die nur verletzend sind.
Mir wird oft geraten, mal näher über meine Symptome nachzudenken und diese zu analysieren. Weil Gedanken angeblich so eine starke Kraft haben und, wenn ich wollte, könnte ich alles erreichen. Wenn ich wollte, könnte ich jede Krankheit loswerden.
Das heißt für mich letztlich nur: ,Wenn’s dir schlecht geht, bist du selber schuld. Wenn du deine Schmerzen nicht wegkriegst, selber schuld. Dann willst du dich halt nicht stärken. Dieser Umgang bleibt für mich ein Rätsel.“
Gibt es schon Pläne, wie es mit #Behindernisse weitergehen soll?
„Der Blog ist ja erst entstanden, als der Hashtag auf Twitter ,getrendet‘ ist. Nun schreibt neben mir außerdem noch Pajam mit, der ist 21 und hat eine Sehbehinderung. Und Roman, er ist 25 und hat eine linksseitige Hemiparese, da ist die Motorik eingeschränkt und die Sehnen sind verkürzt. Wie genau ich damit weitermachen möchte, habe ich mir aber ehrlich gesagt noch nicht überlegt. Die letzten sieben Tage war ich nur damit beschäftigt, auf alles zu reagieren. Ich hatte gar keine Zeit, weiterzudenken.“
Was es zum Thema #Behindernisse zu sagen gab, seht ihr. Noch viele mehr findet ihr natürlich auf Twitter oder auf dem #Behindernisse-Blog.
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