Die Journalistin Caroline Rosales beschäftigt sich in ihrem neuen Buch mit der Frage, ob junge Frauen wirklich sexuell selbstbestimmt sind. Wir haben uns mit ihr zum Gespräch getroffen.
„Das Trauerlied des Patriarchats“
Schon von klein auf wird vielen Mädchen beigebracht sich zu verbiegen, um ihrer Umwelt zu gefallen. Immer noch viel zu oft sollen junge Frauen höflich, zuvorkommend und lieb sein. Im Alltag, bei der Arbeit, im Privatleben und auch beim Sex. Frauen werden oft darauf konditioniert, dass das Wohlbefinden ihres Gegenübers mehr Gewicht hat als ihre eigenen Bedürfnisse. Deshalb fällt es vielen schwer, klar zu sagen, was sie eigentlich wollen, oder sie wissen es gar nicht, weil ihnen wirkliche sexuelle Selbstbestimmung verwehrt geblieben ist.
In ihrem neuen Buch „Sexuell verfügbar“ prangert die Journalistin Caroline Rosales an, dass sich die weibliche Sexualität immer noch über männliche Vorstellungen definiert. Sie beschäftigt sich mit den patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft, die zu dieser Entwicklung geführt haben. Außerdem zeigt sie auf, welche Rollen Frauen dabei spielen, bestimmte Geschlechterklischees aufrechtzuerhalten und erklärt, warum echte sexuelle Selbstbestimmung für viele immer noch ein Mythos ist. Anhand ihrer eigenen Erfahrungen und Erlebnisse veranschaulicht sie, warum es an der Zeit ist, die Werte, die jungen Frauen im Leben mitgegeben werden, zu hinterfragen, und stimmt dabei immer wieder das „Trauerlied des Patriarchats“ an.
Dein Buch heißt „Sexuell verfügbar”. Warum hast du dich für diesen Titel entschieden?
„Sexuelle Verfügbarkeit war für mich dieses große, allgemeingültige Wort, das alles umreißt, was ich in diesem Buch beschreibe. Das ist der Wert, nachdem sich Frauen immer messen lassen müssen. Es fängt an, wenn du als kleines Mädchen im rosa Kleid dem komischen Onkel ein Küsschen geben sollst, auch wenn du das eigentlich gar nicht möchtest. Später hast du deinen ersten Freund. Der zeigt dir einen Porno und fragt dich, ob ihr die gezeigten Situationen nachspielen könnt. Oder du machst relativ unfreiwillig beim Sex mit, hast Verlegenheitssex, weil dir gerade kein anderer Ausweg einfällt. Dann sagen dir Bekannte, dass es jetzt mal an der Zeit für dich wäre zu heiraten. Studium sei zwar ganz nice, aber für das perfekte Glück braucht es Mann und Kind.
Frauen haben ständig diesen Druck, ihre Fuckability zu halten, also nicht zu altern. Ich grusle mich wie viele um mein Humankapital. Als Frau wirst du die die erste Hälfte deines Lebens für dein Aussehen wahrgenommen. Danach muss irgendetwas nachwachsen. Am besten eine intellektuelle Leistung. Aber selbst wenn die da ist, ist noch nicht gewährleistet, dass du weiterhin ernstgenommen wirst. Das hat sehr viel damit zu tun, wie wir in der Gesellschaft Frauen wahrnehmen. Und dieses ,sexuell verfügbar‘ ist der Wert, die Einheit, die immer bei dir mitschwingt, egal wie erfolgreich oder klug du bist.“
Du sprichst auch immer wieder von sexueller Selbstbestimmung. Was genau bedeutet das für dich?
„Sexuell selbstbestimmt, das wäre der Zustand, der komplett frei von gesellschaftlichen Einflüssen ist. Der Idealzustand, der aber so gut wie nie eintrifft. Wenn etwas falsch gelaufen ist, suchen Frauen typischerweise die Fehler erst mal bei sich selbst. Wir sind nicht zum ,Blame Shifting‘ erzogen worden. Wir schieben die Schuld nicht auf andere. Das führt dazu, dass wir unser Verhalten oft zu stark reflektieren und dabei vergessen zu schauen, was uns eigentlich gefällt. Es geht immer darum, wie es unserer Umwelt, unseren Liebsten, unseren Kolleg*innen bei der Sache geht. Überhaupt wollen wir so wenig wie möglich anecken und geben uns immer freundlich und höflich. Dieser Anpassungswille ist bei Frauen fast immer gegeben und der geht natürlich auf Kosten unserer Selbstbestimmung.“
In „Sexuell verfügbar“ erklärst du viele gesellschaftliche Phänomene anhand von Anekdoten aus deinem eigenen Leben. Warum hast du dich dazu entschieden, so persönlich zu werden?
„Ich wollte kein technokratisches Buch schreiben. Manchmal wäre es mir fast lieber, ich hätte das Ganze nicht so persönlich gestaltet. Da waren auch viele Themen dabei, die mir schon beim Schreiben peinlich waren und die auch teilweise retraumatisierend waren. Ich verfolge aber den Grundsatz, dass du, wenn du eine Geschichte richtig erzählen möchtest, immer ein gewisses schriftstellerisches Risiko eingehen musst. Du musst privat werden, sonst hast du dein Recht auf das Thema verwirkt.
Außerdem wollte ich von mir ausgehen, weil ich glaube, dass meine Figur quasi exemplarisch für Frauen meiner Generation stehen kann. Natürlich variieren die Erfahrungen auch immer. Es gibt sicher Frauen, die wesentlich selbstbewusster erzogen worden sind als ich. Sie stellen aber die Ausnahme dar. Ich denke, die Allgemeinheit kommt dieser Figur meines abgespaltenen Ichs sehr nahe.“
Du schreibst: „In einer Zeitschrift hatte ich gelesen, dass Männer auf Frauen stehen, die für sie metaphorische eine weiße Projektionsfläche sind, auf der sie ihre Fantasien abspielen können.” Später nennst du dieses Phänomen auch das „Spiel mit Masken und Rollen”. In welchem Alter fangen Frauen an, dieses Spiel zu spielen?
„Relativ früh. Wenn du eine Person bist, die die Gesellschaft als hübsch erachtet, dann kann das schon mit vier oder fünf losgehen. Schon als Kind realisierst du absurderweise, dass Männer, dass Menschen an sich, anders auf dich reagieren, weil du schön bist. Junge Mädchen checken ganz schnell, wie sie ihren Charme einsetzen können und zum Teil auch müssen. Allein, dass sie dieses Spiel lernen, ist ja schon ein Selbstbetrug. Das geht dann relativ schnell weiter. Wenn du zu den Schönen in der Klasse gehörst, wirst du zu mehr Partys eingeladen. Dann ziehst du die Aufmerksamkeit der Jungs auf dich, vielleicht sogar das Wohlwollen der Lehrer.
Das geht dann immer so weiter, auch im späteren Berufsleben. Als ich in meinen 20ern begonnen habe, als Journalistin zu arbeiten, hatte ich oft das Gefühl, dass keine Sau mir zuhören würde, wenn ich für sie äußerlich nicht ansprechend gewesen wäre. Bei Partys gaben mir zum Beispiel irgendwelche Chefredakteure Visitenkarten, nach dem Motto: ,Willst du nicht zu uns kommen?‘. Die hatten nicht einen Artikel von mir gelesen.“
Du gehst in deinem Buch auch sehr hart mit dir selbst und Frauen im Allgemeinen ins Gericht. Welche Rolle spielen Frauen bei der Instandhaltung der Rollenmuster, unter denen sie selbst leiden?
„Jede Frau hat ihre beruflichen Träume und möchte ein schönes Leben führen. Deswegen geht man natürlich oft den Weg des geringsten Widerstandes, weil der mehr Erfolg verspricht. Keine*r will ausgelacht oder schlecht behandelt werden. Als Mutter muss ich sagen, obwohl meine Tochter mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein aufwächst als ich, habe ich das Gefühl, dass wir unseren Kindern trotzdem oft noch vermitteln, dass sie, wenn sie es im Leben leicht haben möchten, auf ihr Äußeres achten müssen. Man liebt ja sein Kind und möchte das Beste für sie*ihn. Meine Eltern haben mich auch geliebt und deswegen haben sie mir mit neun geraten, ein paar Kilo abzunehmen. Das war nicht böse gemeint. Sie hatten einfach Angst, dass ich mein gesamtes Leben lang ausgelacht werden würde, und wollten mich davor bewahren. Leider füttern wir damit das System und forcieren starre Gesellschaftsbilder. Ich habe auch wenig Hoffnung, dass sich das in der Zukunft bessert. Durch soziale Medien wie Instagram wird das Gesellschaftsbild ja immer nur noch perfekter.“
Du siehst die Zukunft also pessimistisch?
„Eher realistisch. Es ist ja wissenschaftlich erwiesen, dass diese Rollenklischees nicht abnehmen. Trotzdem glaube ich, dass meine Tochter und auch mein Sohn mit einem anderen Selbstbewusstsein aufwachsen, weil ihre Mutter zum Beispiel Vollzeit arbeitet, weil ich ihnen von Anfang an gesagt habe, dass es egal ist, wen sie lieben, weil sie mit einer alleinerziehenden Mutter aufwachsen und dadurch andere Familienstrukturen kennenlernen. Die Gesellschaft wird schon fluider. Im Grunde genommen bauen wir uns unsere Familienwelt neu und das ist natürlich eine Chance.“
„Es gibt für viele Frauen meiner Generation kein weibliches Wollen. Die Anziehung liegt darin, von Männern gewollt zu werden” ist ein viel zitierter Satz aus deinem Buch. Wie können Frauen auf ihre Sexualität bezogen herausfinden, was sie wirklich wollen?
„Ich kann da nur meinen eigenen Lösungsansatz anbieten, aber der ist subjektiv und hat nicht unbedingt Allgemeingültigkeit. Ich habe es für mich nur durch Liebe und Zeit lösen können. Durch die Anerkennung meiner Liebsten, meiner Kinder und vor allem von meinem Freund wurde es besser. Heute habe ich weniger das Gefühl, ich müsste irgendjemanden darstellen. Durch die Innigkeit und Vertrautheit dieser Beziehung und auch die Dauer kann ich Abstand von diesen Rollenbildern und Klischees finden. Die Gesellschaft verliert dann an Relevanz, weil es ja wir sind, die miteinander auskommen müssen.“
Du sprichst von vielen positiven, aber auch von negativen Folgen der sexuellen Liberalisierung für Frauen. So sagst du zum Beispiel, dass Frauen bei One-Night-Stands eigentlich immer den Kürzeren ziehen. Kannst du das etwas genauer erklären?
„Ich glaube, Frauen verarschen sich bei dem Thema komplett selbst. In dieser Situation ist es schwierig für eine Frau, ihre Bedürfnisse zu formulieren. Es braucht für viele eine bestimmte Vertrautheit, um wirklich zu sagen, was sie möchten im Bett. Das beim Gelegenheitssex zu äußern, ist eine Überwindung. Dazu kommt, dass viele junge Frauen, die zum Beispiel in Friends-with-Benefits-Beziehungen stecken, das machen, weil sie wollen, dass der Typ denkt, sie seien gut im Bett, und nicht für sich selbst. Dazu gibt es eine Studie von Sandra Konrad. Unser Sex ist immer noch männlich gepolt. Es geht fast immer darum, dass der Typ kommt. Ich glaube nicht, dass die Frau davon profitiert. Es sei denn, der Typ ist super empathisch, aber dafür ist die Situation gar nicht angelegt.“
Im Buch erwähnst du die Kurzgeschichte „Cat Person“ von Kristen Roupenian, die 2017 im „New Yorker“ erschien und sagst, dass damit „einem Gefühl in einer Situation Raum gegeben“ wurde. Gibt es noch andere Situationen, die mit dem weiblichen Wollen und sexueller Selbstbestimmung zu tun haben, für die wir bis jetzt noch keinen Begriff gefunden haben?
„Ich würde gern ein Wort dafür haben, dass eine Frau aus rein taktischen Gründen Dates hat. Dates mit Typen, die sie gar nicht wirklich mag, zu denen sie aber trotzdem geht. Vielleicht, weil ihr das das Gefühl gibt, begehrt zu werden, oder gut anzukommen, oder weil sie in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen verkehren möchte.
Oder auch ältere Frauen, die sich Partner suchen, die ihnen nicht wirklich gefallen, weil sie denken, sie bekämen sonst keinen mehr ab. Frauen, die dann in Beziehungen feststecken, die ihnen eigentlich gar nicht guttun. Ich glaube, dafür gibt es noch keine richtigen Begriffe.“
Du sprichst außerdem auch offen an, dass du dir nach der Geburt deiner Tochter die Brüste hast machen lassen und schreibst darüber: „Ich bin happy, doch die feministisch gepolten Heckenschützen, von denen ich ja im Grunde nur geliebt werden möchte, lauern überall.” Wie findet man die Balance zwischen dem Kampf gegen die Schönheitsindustrie, die versucht, uns ein bestimmtes Schönheitsideal aufzudrücken, und dem Wunsch, sich einfach wohlzufühlen im eigenen Körper?
„Klar, das hat nicht unbedingt etwas mit Feminismus zu tun, wenn man Brüste haben will, die aussehen wie mit 16. In dem Sinne: „I am a Bad Feminist‘.”
Würdest du dich wirklich „Bad Feminist“ nennen? Steht Feminismus nicht auch dafür, sich selbst lieben zu lernen? Wenn dazu eine Operation notwendig ist, muss das dann direkt etwas Schlechtes sein?
„Nein. Als ich mit meiner Tochter den letzten Schlümpfe- Film im Kino angesehen habe, ist mir ein Vergleich zwischen Schlumpfine und dem Feminismus aufgefallen. Es gibt keine Definition für Schlumpfine, keine Einschränkungen. Schlumpfine, eine Frau, eine Feministin kann alles sein. Das ist das Geile an ihr und das ist auch das Geile am Feminismus. Du kannst Christina Aguilera sein und ein Video wie Dirty drehen, du kannst aber auch Alice Schwarzer oder Amal Clooney sein. Du sollst einfach nur das machen, worauf du Bock hast. Deshalb können Schönheits-OPs auch feministisch sein.“
Was muss passieren, damit die nächste Generation von Frauen aus den auferlegten Rollenbildern ausbrechen kann?
„Wenn unsere Generation von Frauen selbstbewusst lebt, ist damit für unsere Töchter schon einiges erreicht. Ich glaube, wir müssen die Frauen bleiben, die wir sind. Wir sind berufstätig, wir sind selbstbewusst, wir leben unser Liebesleben, wie es uns gefällt. Dadurch kann eine Menge passieren. Wie wir gerade für die Abschaffung von §219a kämpfen zum Beispiel. Dass wir diese Debatte schon heute führen, wird unseren Töchtern in der Zukunft wahnsinnig helfen.
Wir müssen aber vor allem auch wachsam sein und aufpassen, dass der aktuelle Rechtsruck in Europa nicht neue, alte Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder heraufbeschwört. Und zu guter Letzt, was ich mir immer von Frauen wünsche, ist ein bisschen mehr Politik. Wir müssen mehr Einfluss in der gehobenen Bundespolitik gewinnen.“
Caroline Rosales: Sexuell verfügbar, Ullstein fünf, 286 Seiten, 18 Euro.
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