Was wir nie für möglich gehalten hätten, war plötzlich da: Krieg. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist nun zwei Jahre her. Die Historikerin und Traumatherapeutin Imke Hansen ist Mitarbeiterin des Vereins „Libereco – Partnership for Human Rights“. Immer wieder reist sie in die Ukraine, um dort psychosoziale Hilfe für Menschen zu leisten, die ihrerseits traumatisierte Menschen unterstützen.
Der Essay „Tagebuch einer Eskalation“ von Imke Hansen ist ein Gastbeitrag von „Ukraine verstehen“, einem Themenprojekt des Zentrums für Liberale Moderne; er erschien dort erstmals am 24. Februar 2022.
Tagebuch einer Eskalation
17. Februar 2022
Am Donnerstagmorgen wurde ein Kindergarten in der Frontstadt Stanytsia Luhanska beschossen. Das war ein Schock. Wir hatten am Dienstag und Mittwoch ein wenig aufgeatmet, die diplomatischen Beschwichtigungen gegenüber Russland schienen zu funktionieren. Nun war klar, dass das eine Illusion war, eine Irreführung der russischen Informationspolitik. Mittags meldete sich eine Schuldirektorin mit der Bitte um psychologische Hilfe für die jüngeren Schulkinder. Auch dort hatte es Beschuss gegeben.
Bereits die letzten Wochen waren für die ukrainische NGO Vostok SOS anstrengend gewesen. Es ist schwer, sich auf etwas vorzubereiten, von dem man hofft, dass es nicht passiert, von dem man noch nicht weiß, was es ist, und wie man darauf reagieren kann.
Humanitäre Hilfe
Vostok SOS wurde 2014 von „Internal Displaced Persons“ aus Luhansk in Kyjiw gegründet. Durch ihren Einsatz bei der humanitären Hilfe für andere Binnenflüchtlinge und Menschen im Kriegsgebiet machte sich die Organisation einen Namen. Das Team war eines der wenigen, die auch in der heißen Phase Hilfsgüter an die abgelegensten Orte brachten. Kaum ein Dorf, in dem sie noch nicht waren. Kaum jemand kennt sich im Gebiet Luhansk besser aus als sie. Die meisten Mitarbeiter*innen von Vostok SOS haben Familie auf der anderen Seite der Frontlinie.
Seit 2015 arbeitet Libereco Partnership for Human Rights eng mit Vostok SOS zusammen. Ich habe zahlreiche humanitäre Transporte selbst miterlebt, bin mit dem bis auf den letzten Millimeter vollgepackten Bus im Sand stecken geblieben, habe Waschmittel und Haferflocken verteilt und den Leuten zugehört, wie sie erzählt haben, dass ihre letzte Kuh von einem Geschoss getroffen wurde.
„Trotz der Bedrohung fällt es vielen Menschen aktuell schwer, die Kriegsregion zu verlassen, weil sie damit die Nähe zu Familienmitgliedern einbüßen.“
18. Februar 2022
Am Freitagabend spreche ich mit einem Kollegen von Vostok SOS über seine Eltern. Seine Mutter war gerade noch in Luhansk. „Das wichtigste für das Sicherheitsgefühl meiner Eltern ist, dass sie zusammen sind. Und ich fühle mich sicherer, wenn sie in meiner Nähe sind, sodass ich ihnen im Notfall helfen kann.“ Das gilt nicht nur für ihn, sondern für die meisten Familien im Donbas. Trotz der Bedrohung fällt es vielen Menschen aktuell schwer, die Kriegsregion zu verlassen, weil sie damit die Nähe zu Familienmitgliedern einbüßen. Die meisten kennen den Trennungsschmerz und das damit häufig einhergehende Schuldgefühl bereits seit 2014.
„Trigger der alten Traumata lauern gerade überall“
„Jetzt gerade sind deine Eltern, so weit es geht, in Sicherheit“, sage ich, und merke sofort, dass der Satz keine Erleichterung auslöst, sondern etwas ganz anderes. Ich frage nach. „Ich muss an die alten Leute denken, die ich 2014 nicht evakuieren konnte“, antwortet mein Kollege. Wir stolpern täglich über Parallelen zu den schweren Situationen von 2014/2015. Trigger der alten Traumata lauern gerade überall, sodass die Leute nicht nur mit der aktuellen Bedrohung, sondern zusätzlich mit den traumatischen Ängsten der Vergangenheit konfrontiert sind. Das kann die Handlungsfähigkeit stark einschränken. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft aufrechtzuerhalten.
19. Februar 2022
Das Krisentreffen am Samstag markiert den Startpunkt der humanitären Hilfsaktion im akuten Krisenfall von Vostok SOS. Die Hotlines werden verstärkt und über verschiedene Kanäle erneut bekannt gemacht. Im Bedarfsfall können Menschen auch über ein einfaches Formular im Internet Hilfe anfordern. Viele Hilfsgesuche erreichen die Organisation nicht direkt, sondern über Dritte, die nur vage Informationen haben, weil die Betroffenen kein Netzwerk und kein Internet haben.
Aufgaben werden verteilt. Wer übernimmt die Rekrutierung von freiwilligen Helfern? Wer kümmert sich darum, einen Adress-Pool von Leuten zu erstellen, die vorübergehend Flüchtlinge aufnehmen können? Wohin soll man die Leute überhaupt schicken? In welchen Teilen der Ukraine ist es am sichersten?
„Ich habe zu tun. Die Angst merke ich nur am Abend.“
Die Diskussion ist professionell. Die meisten haben bereits mehrere Krisensituationen gemeistert, haben Erfahrung im Aufbau von Hilfssystemen. Als die Verantwortungsbereiche aufgeteilt sind, machen sich alle an die Arbeit. Ich selbst merke Erleichterung, auch wenn die politische Situation gerade eskaliert. Denn jetzt entfaltet sich genau das, worin Vostok SOS unschlagbar ist: Im Krisenfall zusammenhalten, Kräfte bündeln und mit Professionalität und Kreativität anderen Menschen helfen. Ich spreche mit einer Kollegin, frage sie, wie es ihr geht. „Ich habe zu tun“, sagt sie. „Die Angst merke ich nur am Abend.“
20. Februar 2022
Das Wochenende über sind wir immer wieder in Kontakt mit unseren Kolleg*innen in Sjewjerodonezk, der aktuellen Hauptstadt der Oblast Luhansk. Dort befindet sich das Regionalbüro von Vostok SOS, von wo aus humanitäre, psychosoziale, Bildungs- und Dokumentationsarbeit umgesetzt wird. Mehrere Vostok-Mitarbeitende dokumentieren aktuell die Situation an der Frontlinie und versorgen uns täglich mit aktuellen Fotos, Berichten und Bedarfsmeldungen. Journalist*innen kommen ins Office, welches gerade einem Medienzentrum gleicht, um Informationen aus erster Hand und Interviews zu bekommen.
„In Krisensituationen ist direkte, persönliche Unterstützung wichtig.“
Gleichzeitig telefonieren und schreiben wir immer wieder mit unseren Kontaktpersonen im Kriegsgebiet – zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen, Lehrer*innen, medizinischem Personal und anderen. Dieser direkte Draht ins betroffene Gebiet hilft nicht nur beim Verständnis der Situation und der Planung der Maßnahmen, er sorgt auch für eine gewisse Beruhigung auf beiden Seiten. Vostok SOS ist es wichtig, dass die Menschen, mit denen zusammengearbeitet wird, sich nicht alleingelassen fühlen. Gerade in Krisensituationen ist direkte, persönliche Unterstützung wichtig – selbst wenn es sich nur um eine mitfühlende Kurznachricht handelt.
21. Februar 2022
Montagmittag erreichen mich schlechte Nachrichten. Das Elektrizitätswerk in Schtschastja wurde abgestellt. Beschuss hat es stark beschädigt. Das ist nicht einmal 2014/2015 passiert. Während der damaligen heißen Kriegsphase trug das laufende Werk wesentlich zur Stabilisierung der humanitären Situation bei. Kurz darauf spricht mein Kollege mit einem Krankenhaus. Sie haben keinen Strom mehr, kämpfen darum, die Medikamente zu kühlen. 7.300 Haushalte sind ohne Strom, ganz abgesehen von der Infrastruktur. „Das wird die humanitäre Situation jetzt sehr schnell, sehr stark verschlimmern“, sagt er.
„Auch wenn wir nonstop beschäftigt sind, ist das dominierende Gefühl Hilflosigkeit. Ich habe keine Worte mehr.“
Der Montagabend ist voller Telefongespräche und Kurznachrichten auf allen Kanälen. Wir verfolgen Putins Rede, in der er der Ukraine die Legitimität ihrer Unabhängigkeit abspricht. Wie erwartet, erkennt Russland die selbsternannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk an. Wenig überraschend besteht die erste Amtshandlung darin, „Truppen zum Erhalt des Friedens“ zu schicken.
22. Februar 2022
Am Dienstag versuchen wir, unsere Kolleginnen aus Sjewerodonezk zu überzeugen, den Osten zu verlassen und mit ihren Kindern erstmal nach Kyjiw zu kommen. Aber alle zögern. Wir warten noch, wir können unsere Mutter nicht allein lassen, wir beobachten. Alle warten irgendein deutliches Signal ab, wobei nicht klar ist, was genau das sein würde. Ich habe Angst, dass es dann zu spät sein wird, dass dann die Straßen voll sein werden, dass man dann nicht mehr ruhig nach Westen gelangt.
24. Februar 2022
Der Großangriff hat in den frühen Morgenstunden begonnen. Meine Kolleg*innen sind auf der Flucht und organisieren gleichzeitig die Evakuation von anderen. Immer mehr Teile der Ukraine werden von Russland eingenommen. Niemand weiß, wo es noch sicher ist. Ich höre, dass Evakuation immer schwieriger wird, die Straßen sind dicht, heißt es. Wir organisieren die Evakuation und Hilfe für Flüchtlinge im Ausland. Auch wenn wir nonstop beschäftigt sind, ist das dominierende Gefühl Hilflosigkeit. Ich habe keine Worte mehr.
„Es ist schwierig, Koordination in den ganzen Dschungel zu bringen und dafür zu sorgen, dass die richtigen Informationen zu den Menschen kommen, die sie brauchen.“
25. Februar 2022
Seit gestern ständig Zoom-meetings mit polnischen Organisationen. Die polnische Zivilgesellschaft hat wahnsinnig schnell mobilisiert. Leute fahren an die Grenze, sammeln Geld, stellen Informationen zusammen. So viele wollen helfen, das ist beeindruckend. Aber es ist schwierig, Koordination in den ganzen Dschungel zu bringen und dafür zu sorgen, dass die richtigen Informationen zu den Menschen kommen, die sie brauchen. Die Treffen fordern allen Konzentration und Gelassenheit ab. Ehrenamtliche treffen auf stark professionalisierte Organisationen, Generationen treffen aufeinander, unterschiedliche Auffassungen über Arbeitsgeschwindigkeit und Redezeit werden deutlich. Und immer wieder meldet sich jemand, der sagt: „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht zerstreiten. Wir müssen zusammenarbeiten, auch wenn wir uns dabei auf die Füße treten.“
Ich kann mein ukrainisches Team kaum erreichen. Die einen sitzen in einem Luftschutzbunker, die anderen sind am Steuer und evakuieren. Ich bin die einzige, die in Sicherheit ist und kümmere mich um die Dinge, um die sich sonst keiner kümmern kann. Vertrete die anderen, die gerade sich und andere in Sicherheit bringen. Ich muß Entscheidungen alleine treffen. Und zwischendurch muß ich heulen, weil ich meine Kolleg*innen vermisse und mich so alleine fühle. Und dann: Brille putzen, Wasser trinken, und wieder in das nächste Treffen.
DIE AUTORIN
Dr. phil. Imke Hansen ist interdisziplinär arbeitende Historikerin für Osteuropäische Geschichte mit Schwerpunkt Oral History. Sie forschte an den Universitäten Krakau/Polen, Minsk/Belarus, Hamburg/Deutschland und Uppsala/Schweden. Im Zentrum ihrer Forschung stehen individuelle und kollektive Gewalterfahrungen, Erinnerung und Trauma.
Als zivilgesellschaftliche Trainerin und Mentorin begleitet sie seit 2016 traumatisierte Menschen im ukrainischen Konfliktgebiet.