Ukraine Fahne vor dunklem Hintergrund
Foto: Artem Kniaz | Unsplash

„Das dominierende Gefühl ist Hilflosigkeit“

Was wir nie für möglich gehalten hätten, war plötzlich da: Krieg. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist nun zwei Jahre her. Die Historikerin und Traumatherapeutin Imke Hansen ist Mitarbeiterin des Vereins „Libereco – Partnership for Human Rights“. Immer wieder reist sie in die Ukraine, um dort psychosoziale Hilfe für Menschen zu leisten, die ihrerseits traumatisierte Menschen unterstützen.

Der Essay „Tagebuch einer Eskalation“ von Imke Hansen ist ein Gastbeitrag von „Ukraine verstehen“, einem Themenprojekt des Zentrums für Liberale Moderne; er erschien dort erstmals am 24. Februar 2022.

Tagebuch einer Eskalation

17. Februar 2022

Am Don­ners­tag­mor­gen wurde ein Kin­der­gar­ten in der Front­stadt Stanyt­sia Luhanska beschos­sen. Das war ein Schock. Wir hatten am Diens­tag und Mitt­woch ein wenig auf­ge­at­met, die diplo­ma­ti­schen Beschwich­ti­gun­gen gegen­über Russ­land schie­nen zu funk­tio­nie­ren. Nun war klar, dass das eine Illu­sion war, eine Irre­füh­rung der rus­si­schen Infor­ma­ti­ons­po­li­tik. Mittags meldete sich eine Schul­di­rek­to­rin mit der Bitte um psy­cho­lo­gi­sche Hilfe für die jün­ge­ren Schul­kin­der. Auch dort hatte es Beschuss gegeben.

Bereits die letzten Wochen waren für die ukrai­ni­sche NGO Vostok SOS anstren­gend gewesen. Es ist schwer, sich auf etwas vor­zu­be­rei­ten, von dem man hofft, dass es nicht pas­siert, von dem man noch nicht weiß, was es ist, und wie man darauf reagie­ren kann.

Humanitäre Hilfe

Vostok SOS wurde 2014 von „Inter­nal Dis­pla­ced Persons“ aus Luhansk in Kyjiw gegrün­det. Durch ihren Einsatz bei der huma­ni­tä­ren Hilfe für andere Bin­nen­flücht­linge und Men­schen im Kriegs­ge­biet machte sich die Orga­ni­sa­tion einen Namen. Das Team war eines der wenigen, die auch in der heißen Phase Hilfs­gü­ter an die abge­le­gens­ten Orte brach­ten. Kaum ein Dorf, in dem sie noch nicht waren. Kaum jemand kennt sich im Gebiet Luhansk besser aus als sie. Die meisten Mit­ar­bei­ter*innen von Vostok SOS haben Familie auf der anderen Seite der Frontlinie.

Seit 2015 arbei­tet Libe­reco Part­ners­hip for Human Rights eng mit Vostok SOS zusam­men. Ich habe zahl­rei­che huma­ni­täre Trans­porte selbst mit­er­lebt, bin mit dem bis auf den letzten Mil­li­me­ter voll­ge­pack­ten Bus im Sand stecken geblie­ben, habe Wasch­mit­tel und Hafer­flo­cken ver­teilt und den Leuten zuge­hört, wie sie erzählt haben, dass ihre letzte Kuh von einem Geschoss getrof­fen wurde.

„Trotz der Bedro­hung fällt es vielen Men­schen aktuell schwer, die Kriegs­re­gion zu ver­las­sen, weil sie damit die Nähe zu Fami­li­en­mit­glie­dern ein­bü­ßen.“

18. Februar 2022

Am Frei­tag­abend spreche ich mit einem Kol­le­gen von Vostok SOS über seine Eltern. Seine Mutter war gerade noch in Luhansk. „Das wich­tigste für das Sicher­heits­ge­fühl meiner Eltern ist, dass sie zusam­men sind. Und ich fühle mich siche­rer, wenn sie in meiner Nähe sind, sodass ich ihnen im Notfall helfen kann.“ Das gilt nicht nur für ihn, sondern für die meisten Fami­lien im Donbas. Trotz der Bedro­hung fällt es vielen Men­schen aktuell schwer, die Kriegs­re­gion zu ver­las­sen, weil sie damit die Nähe zu Fami­li­en­mit­glie­dern ein­bü­ßen. Die meisten kennen den Tren­nungs­schmerz und das damit häufig ein­her­ge­hende Schuld­ge­fühl bereits seit 2014.

„Trigger der alten Trau­mata lauern gerade überall“

„Jetzt gerade sind deine Eltern, so weit es geht, in Sicher­heit“, sage ich, und merke sofort, dass der Satz keine Erleich­te­rung auslöst, sondern etwas ganz anderes. Ich frage nach. „Ich muss an die alten Leute denken, die ich 2014 nicht eva­ku­ie­ren konnte“, ant­wor­tet mein Kollege. Wir stol­pern täglich über Par­al­le­len zu den schwe­ren Situa­tio­nen von 2014/​2015. Trigger der alten Trau­mata lauern gerade überall, sodass die Leute nicht nur mit der aktu­el­len Bedro­hung, sondern zusätz­lich mit den trau­ma­ti­schen Ängsten der Ver­gan­gen­heit kon­fron­tiert sind. Das kann die Hand­lungs­fä­hig­keit stark ein­schrän­ken. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, die Hand­lungs­fä­hig­keit der Zivil­ge­sell­schaft aufrechtzuerhalten.

19. Februar 2022

Das Kri­sen­tref­fen am Samstag mar­kiert den Start­punkt der huma­ni­tä­ren Hilfs­ak­tion im akuten Kri­sen­fall von Vostok SOS. Die Hot­lines werden ver­stärkt und über ver­schie­dene Kanäle erneut bekannt gemacht. Im Bedarfs­fall können Men­schen auch über ein ein­fa­ches For­mu­lar im Inter­net Hilfe anfor­dern. Viele Hilfs­ge­su­che errei­chen die Orga­ni­sa­tion nicht direkt, sondern über Dritte, die nur vage Infor­ma­tio­nen haben, weil die Betrof­fe­nen kein Netz­werk und kein Inter­net haben.

Auf­ga­ben werden ver­teilt. Wer über­nimmt die Rekru­tie­rung von frei­wil­li­gen Helfern? Wer kümmert sich darum, einen Adress-Pool von Leuten zu erstel­len, die vor­über­ge­hend Flücht­linge auf­neh­men können? Wohin soll man die Leute über­haupt schi­cken? In welchen Teilen der Ukraine ist es am sichersten?

„Ich habe zu tun. Die Angst merke ich nur am Abend.“

Die Dis­kus­sion ist pro­fes­sio­nell. Die meisten haben bereits mehrere Kri­sen­si­tua­tio­nen gemeis­tert, haben Erfah­rung im Aufbau von Hilfs­sys­te­men. Als die Ver­ant­wor­tungs­be­rei­che auf­ge­teilt sind, machen sich alle an die Arbeit. Ich selbst merke Erleich­te­rung, auch wenn die poli­ti­sche Situa­tion gerade eska­liert. Denn jetzt ent­fal­tet sich genau das, worin Vostok SOS unschlag­bar ist: Im Kri­sen­fall zusam­men­hal­ten, Kräfte bündeln und mit Pro­fes­sio­na­li­tät und Krea­ti­vi­tät anderen Men­schen helfen. Ich spreche mit einer Kol­le­gin, frage sie, wie es ihr geht. „Ich habe zu tun“, sagt sie. „Die Angst merke ich nur am Abend.“

20. Februar 2022

Das Wochen­ende über sind wir immer wieder in Kontakt mit unseren Kol­le­g*in­nen in Sje­wje­rodo­nezk, der aktu­el­len Haupt­stadt der Oblast Luhansk. Dort befin­det sich das Regio­nal­büro von Vostok SOS, von wo aus huma­ni­täre, psy­cho­so­ziale, Bil­dungs- und Doku­men­ta­ti­ons­ar­beit umge­setzt wird. Mehrere Vostok-Mit­ar­bei­tende doku­men­tie­ren aktuell die Situa­tion an der Front­li­nie und ver­sor­gen uns täglich mit aktu­el­len Fotos, Berich­ten und Bedarfs­mel­dun­gen. Jour­na­lis­t*in­nen kommen ins Office, welches gerade einem Medi­en­zen­trum gleicht, um Infor­ma­tio­nen aus erster Hand und Inter­views zu bekommen.

„In Kri­sen­si­tua­tio­nen ist direkte, per­sön­li­che Unter­stüt­zung wichtig.“

Gleich­zei­tig tele­fo­nie­ren und schrei­ben wir immer wieder mit unseren Kon­takt­per­so­nen im Kriegs­ge­biet – zivil­ge­sell­schaft­li­chen Aktivist*innen, Lehrer*innen, medi­zi­ni­schem Per­so­nal und anderen. Dieser direkte Draht ins betrof­fene Gebiet hilft nicht nur beim Ver­ständ­nis der Situa­tion und der Planung der Maß­nah­men, er sorgt auch für eine gewisse Beru­hi­gung auf beiden Seiten. Vostok SOS ist es wichtig, dass die Men­schen, mit denen zusam­men­ge­ar­bei­tet wird, sich nicht allein­ge­las­sen fühlen. Gerade in Kri­sen­si­tua­tio­nen ist direkte, per­sön­li­che Unter­stüt­zung wichtig – selbst wenn es sich nur um eine mit­füh­lende Kurz­nach­richt handelt.

21. Februar 2022

Mon­tag­mit­tag errei­chen mich schlechte Nach­rich­ten. Das Elek­tri­zi­täts­werk in Scht­schastja wurde abge­stellt. Beschuss hat es stark beschä­digt. Das ist nicht einmal 2014/​2015 pas­siert. Während der dama­li­gen heißen Kriegs­phase trug das lau­fende Werk wesent­lich zur Sta­bi­li­sie­rung der huma­ni­tä­ren Situa­tion bei. Kurz darauf spricht mein Kollege mit einem Kran­ken­haus. Sie haben keinen Strom mehr, kämpfen darum, die Medi­ka­mente zu kühlen. 7.300 Haus­halte sind ohne Strom, ganz abge­se­hen von der Infra­struk­tur. „Das wird die huma­ni­täre Situa­tion jetzt sehr schnell, sehr stark ver­schlim­mern“, sagt er.

„Auch wenn wir nonstop beschäf­tigt sind, ist das domi­nie­rende Gefühl Hilf­lo­sig­keit. Ich habe keine Worte mehr.“

Der Mon­tag­abend ist voller Tele­fon­ge­sprä­che und Kurz­nach­rich­ten auf allen Kanälen. Wir ver­fol­gen Putins Rede, in der er der Ukraine die Legi­ti­mi­tät ihrer Unab­hän­gig­keit abspricht. Wie erwar­tet, erkennt Russ­land die selbst­er­nann­ten „Volks­re­pu­bli­ken“ Luhansk und Donezk an. Wenig über­ra­schend besteht die erste Amts­hand­lung darin, „Truppen zum Erhalt des Frie­dens“ zu schicken.

22. Februar 2022

Am Diens­tag ver­su­chen wir, unsere Kol­le­gin­nen aus Sje­werodo­nezk zu über­zeu­gen, den Osten zu ver­las­sen und mit ihren Kindern erstmal nach Kyjiw zu kommen. Aber alle zögern. Wir warten noch, wir können unsere Mutter nicht allein lassen, wir beob­ach­ten. Alle warten irgend­ein deut­li­ches Signal ab, wobei nicht klar ist, was genau das sein würde. Ich habe Angst, dass es dann zu spät sein wird, dass dann die Straßen voll sein werden, dass man dann nicht mehr ruhig nach Westen gelangt.

24. Februar 2022

Der Groß­an­griff hat in den frühen Mor­gen­stun­den begon­nen. Meine Kol­le­g*in­nen sind auf der Flucht und orga­ni­sie­ren gleich­zei­tig die Eva­kua­tion von anderen. Immer mehr Teile der Ukraine werden von Russ­land ein­ge­nom­men. Niemand weiß, wo es noch sicher ist. Ich höre, dass Eva­kua­tion immer schwie­ri­ger wird, die Straßen sind dicht, heißt es. Wir orga­ni­sie­ren die Eva­kua­tion und Hilfe für Flücht­linge im Ausland. Auch wenn wir nonstop beschäf­tigt sind, ist das domi­nie­rende Gefühl Hilf­lo­sig­keit. Ich habe keine Worte mehr.

„Es ist schwie­rig, Koordination in den ganzen Dschun­gel zu bringen und dafür zu sorgen, dass die rich­ti­gen Infor­ma­tio­nen zu den Men­schen kommen, die sie brau­chen.“

25. Februar 2022

Seit gestern ständig Zoom-mee­tings mit pol­ni­schen Orga­ni­sa­tio­nen. Die pol­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft hat wahn­sin­nig schnell mobi­li­siert. Leute fahren an die Grenze, sammeln Geld, stellen Infor­ma­tio­nen zusam­men. So viele wollen helfen, das ist beein­dru­ckend. Aber es ist schwie­rig, Koordination in den ganzen Dschun­gel zu bringen und dafür zu sorgen, dass die rich­ti­gen Infor­ma­tio­nen zu den Men­schen kommen, die sie brau­chen. Die Treffen fordern allen Kon­zen­tra­tion und Gelas­sen­heit ab. Ehren­amt­li­che treffen auf stark pro­fes­sio­na­li­sierte Orga­ni­sa­tio­nen, Genera­tio­nen treffen auf­ein­an­der, unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen über Arbeits­ge­schwin­dig­keit und Rede­zeit werden deut­lich. Und immer wieder meldet sich jemand, der sagt: „Wir müssen auf­pas­sen, dass wir uns nicht zer­strei­ten. Wir müssen zusam­men­ar­bei­ten, auch wenn wir uns dabei auf die Füße treten.“

Ich kann mein ukrai­ni­sches Team kaum errei­chen. Die einen sitzen in einem Luft­schutz­bun­ker, die anderen sind am Steuer und eva­ku­ie­ren. Ich bin die einzige, die in Sicher­heit ist und kümmere mich um die Dinge, um die sich sonst keiner kümmern kann. Ver­trete die anderen, die gerade sich und andere in Sicher­heit bringen. Ich muß Ent­schei­dun­gen alleine treffen. Und zwi­schen­durch muß ich heulen, weil ich meine Kolleg*innen ver­misse und mich so alleine fühle. Und dann: Brille putzen, Wasser trinken, und wieder in das nächste Treffen.

DIE AUTORIN
Dr. phil. Imke Hansen ist inter­dis­zi­pli­när arbei­tende His­to­ri­ke­rin für Ost­eu­ro­päi­sche Geschichte mit Schwer­punkt Oral History. Sie forschte an den Universitäten Krakau/Polen, Minsk/Belarus, Hamburg/Deutschland und Uppsala/Schweden. Im Zentrum ihrer Forschung stehen individuelle und kollektive Gewalterfahrungen, Erinnerung und Trauma.

Als zivil­ge­sell­schaft­li­che Trai­ne­rin und Men­to­rin beglei­tet sie seit 2016 trau­ma­ti­sierte Men­schen im ukrai­ni­schen Konfliktgebiet. 

Jeder Beitrag ist eine Unterstützung

Zusam­men mit der ukrai­ni­schen Orga­ni­sa­tion Vostok SOS sammelt Libe­reco Spenden für huma­ni­täre Hilfe in der Ukraine und für Men­schen auf der Flucht. Jeder Beitrag ist eine Unterstützung.

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