Als Denise Schindler zwei Jahre alt war, wurde ihr rechter Unterschenkel amputiert – seitdem lebt sie mit einer Prothese. Wie sie es trotzdem geschafft hat, als Leistungsradsportlerin Weltmeisterin zu werden und welche Grenzen sie immer wieder überwindet, verrät sie uns im Interview.
Never Stop Spinning
Denise Schindler hat viele Titel: Weltmeisterin, Medaillenträgerin, Killerbee. Als Leistungssportlerin im Radrennsport und als Frau mit einem amputierten Unterschenkel kennt sie sich mit (vermeintlichen) Grenzen aus – und überwindet ihre eigenen regelmäßig. Wir haben mit Denise im Rahmen des „Can’t Stop Her“-Projekts von adidas gesprochen und viel darüber erfahren, welche Vorurteile es im Sport gegenüber Menschen mit Behinderung immer noch gibt, welche Grenzen wichtig sind und warum für Denise die Welt voller Hoffnungen und Chancen ist. Auf die Plätze, fertig, los:
Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass Hürden für dich etwas sind, was du überschreiten möchtest?
„Den Leistungssport habe ich für mich erst sehr spät entdeckt, da war ich bereits 18 und habe mich in einem ganz normalen Fitnessstudio angemeldet. Bei einem Spinning-Kurs habe ich dann zum ersten Mal gemerkt, wie viel Spaß mir das macht und, dass ich ein Talent dafür habe. Dann ging es los. Da dachten meine Eltern noch: Ja, die hat jetzt eben einen Fahrradtick. Aber auch sie haben dann schnell gemerkt, wie befreiend das für mich war – die letzte Handbremse war gelöst. Das war für mich ein richtiger Wow-Moment und hat meine Lebenseinstellung sehr geprägt. Inzwischen ist mir vollkommen klar: ,Never stop Spinning‘, hör nicht auf, verrückt zu sein, hör nicht auf, am Rad zu drehen. Aber das war auf jeden Fall ein Prozess.“
Inwiefern?
„Ich bin zum Beispiel meinen allerersten Alpencross in langer Hose gefahren und hab meine Behinderung versteckt. Damals hatte ich einfach nicht das Selbstbewusstsein, meine Prothese ganz offen zu zeigen. Denn die ist natürlich für viele weder sexy noch feminin oder schön. Um so selbstbewusst zu werden, habe ich ganz klar Zeit gebraucht und erst nach und nach gelernt, zu mir zu stehen und mich zu akzeptieren. Dabei hat mir das Radfahren sehr geholfen, denn endlich hat mich meine Behinderung nicht mehr eingeschränkt.“
Was sind denn Vorurteile, denen du begegnet bist?
„Wenn du als Kind mit einer Behinderung in einem Dorf aufwächst, dann bist du immer das Alien, das angestarrt wird, es ist immer mit sehr vielen Unsicherheiten verbunden. Wenn du im Freibad bist, wenn du deinen ersten Freund hast. Ich hatte immer Angst vor den Reaktionen. Das ist jetzt sicherlich auch noch so. Aber dadurch, dass ich so anders damit umgehe, es offen zeige, und selbstbewusster bin, macht es mir weniger aus. Wenn ich bemerke, dass mich jemand anstarrt, lächle ich inzwischen einfach zurück und oft lächelt die Person auch zurück. Dadurch entsteht eine ganz andere Begegnung. Weil ich diese Lockerheit früher aber nicht hatte, sind diese positiven Begegnungen gar nicht erst entstanden. Ich war eher genervt von den Blicken. Jetzt ist es tatsächlich so, dass es für mich okay ist. Es gibt aber auch Situationen, die sind schwieriger.“
Magst du davon erzählen?
„Vor ein paar Wochen habe ich in München auf die U-Bahn gewartet. Da kam eine Frau auf mich zu und sagte: ,Entschuldigung, es tut mir so leid für Sie, mein herzliches Beileid!‘ Für mich war die Situation so surreal: Eigentlich war ich zum Abendessen verabredet und echt schick angezogen. Und dann kommt plötzlich eine Frau daher und erzählt mir, dass ich so ein armes Mädchen sei. Dabei habe ich überhaupt nicht so ausgeschaut, als bräuchte ich Mitleid: Ich war super gelaunt, schick angezogen. Sie hat dann sogar meine Hand genommen.“
Und wie hast du reagiert?
„Ich habe ihr gesagt, dass es mir gut geht und dass sie kein Mitleid zu haben braucht. Aber sie kam aus dieser Situation einfach nicht heraus. Meine erste innerliche Reaktion war: ,Sag mal, geht‘s noch?‘ Dann habe ich aber gedacht: Denise, geh zwei Schritte zurück, du kennst ihre Geschichte nicht. Wer weiß, was ihr passiert ist? Sonst würde diese Frau ja nicht so auf dich zukommen, vielleicht ist irgendwas in ihrem Leben passiert, ein traumatisches Erlebnis, dass sie so fühlt. Sie weiß ja gar nicht wer du bist und wie schön dein Leben ist. Ich bin dann weiter gegangen. Alles war gut.“
Du bist erfolgreiche Leistungssportlerin und überwindest dabei immer wieder deine eigenen Grenzen. Gibt es auch Grenzen, die dir von außen gesetzt werden?
„Es gibt immer wieder Situationen, bei denen ich ganz klar sagen muss: Bis hier hin und nicht weiter. Häufig sind das soziale Begegnungen. Ich wollte mal in einer Off-Season Yoga ausprobieren und habe mir dafür ein Studio in München gesucht. Nach der ersten Stunde war ich total begeistert und bin am zweiten Tag voller Vorfreude wieder zum Training gefahren. Die Yogatrainerin sagte mir dann, dass ich nicht mitmachen könne, weil ich bei der letzten Runde den Unterricht störte, ich hätte alle abgelenkt und sie könne nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Yoga sei einfach nichts für mich. In dem Moment war ich wieder das kleine Kind von früher, das immer zuletzt ins Team gewählt wurde beim Schulsport. Ich war so verletzt. Als ich dann wieder zuhause war – es war inzwischen dunkel – habe ich mir meine Lampe geschnappt und bin auf meinem Mountainbike eine Stunde durch den Wald gefahren, um mich abzureagieren. Aber am Ende habe ich mich natürlich gefragt: Was wäre, wenn das einer Person passiert wäre, die gerade noch lernt, mit ihrer Behinderung umzugehen? Im schlimmsten Fall würde die Person nie wieder versuchen, Sport zu machen. Wie gut, dass mir das passiert ist. Ich bin gefestigt. “
Was braucht es gesellschaftlich, damit sowas nicht mehr passiert?
„Generell geschieht aktuell viel im Bereich Inklusion, ich nehme das schon wahr. Auch dadurch, dass ich so offen mit meiner Behinderung umgehe, gebe ich jeder*m die Chance, darauf zu reagieren. Als behinderter Mensch ist man auch in der Pflicht, zu sagen, in welchen Situationen man sich wohl fühlt und in welchen nicht – woher soll jemand anderes das sonst wissen? Da sind immer beide Seiten gefragt, um einen guten Umgang zu schaffen. Nicht nur die Rücksichtnahme und das Verständnis der einen Seite, sondern auch wir als Behinderte müssen lernen zu artikulieren, wie wir es gerne hätten und uns trauen, das zu sagen. Beide Seiten haben eine Verantwortung.“
Du gehst sehr selbstbewusst mit deiner Behinderung um, gibt es aber auch Momente, in denen du doch haderst?
„Ich würde viel häufiger einen Berg hochwandern – das kann ich nicht so häufig, weil oft mein Sprunggelenk streikt. Das nervt natürlich und ich muss die körperliche Anstrengung dosieren. Insgesamt fokussiere ich mich tatsächlich mehr auf das, was ich kann und weniger auf das, was nicht geht. Und ich hatte als Kind natürlich Phasen, in denen ich meine Mama gefragt habe, warum mir das passiert ist, warum ich wieder operiert werden muss. Aber meine Eltern haben mich nie in Watte gepackt. Einmal kam ich aus dem Krankenhaus, saß im Rollstuhl und meine Mutter bat mich, den Tisch zu decken. Ich, das erste Mal im Rollstuhl, frage nur, wie das gehen soll. Und sie sagte: Das lernst du schon. Sie haben mir das Jammern abgewöhnt und mir gezeigt, dass es mich weiterbringt, mich auf das zu konzentrieren, was geht. Das ist ein viel besserer Weg.“
Wäre das auch dein Ratschlag an Menschen, die gerade lernen müssen mit einer Einschränkung umzugehen?
„Auf jeden Fall. Klar, zuerst ist da natürlich Verzweiflung und ganz viel Schmerz. Und das gehört auch dazu. Aber im nächsten Moment sollte man schauen, wie es jetzt weiter geht. Was kann ich noch? Was macht mir Spaß? Den Fokus ins Positive zu setzen. Wer ständig genau das will, was nicht mehr geht, wird nicht glücklich werden. Deswegen ist es so wichtig, die innere Einstellung immer wieder erneut zu prüfen: Ist sie positiv? Sehe ich Chancen und Hoffnungen, oder ist die Welt voller Vollidioten? Das sind zwei unterschiedliche Wege und für einen der beiden muss ich mich jeden Tag neu entscheiden. Wenn ich sage die Welt ist voller Idioten, dann habe ich verloren, dann kann jeder um dich herum machen, was er*sie will, um dir zu helfen – es wird nicht besser werden. Das muss auf einen Boden fallen, der bereit dafür ist, damit etwas anfangen zu wollen. Dafür braucht man Ziele.“
Was ist dein Ziel?
„Ganz klar die paralympischen Spiele 2020 in Tokio. Und irgendwann würde ich gerne mal den ,Iron Man‘ machen, das Thema Coaching weiter voranbringen und ganz viele tolle Projekte zum Thema Inklusion voranbringen – besonders für Kinder und in Sportvereinen.“
Mehr über die Initiative #cantstopher von adidas x EDITION F erfahrt ihr hier.