Maria hat häusliche Gewalt erlebt. Vor knapp fünf Jahren schlägt ihr Mann sie so brutal zusammen, dass sie ins Krankenhaus muss. Sie geht zur Polizei und verlässt ihn. Anfang des Jahres ist sie zu ihm zurückgekehrt. Warum? Eine Geschichte, in der auch die Wohnungsnot in Berlin eine bedrückende Rolle spielt.
Seine Fäuste treffen sie mitten ins Gesicht
Sie weiß es. Er gibt sich keine Mühe, es zu verbergen. Maria hat Flugtickets nach Rom gefunden. Mit ihr geht er schon lange nicht mehr aus oder verreist. Wenigstens ehrlich soll er sein und zugeben, dass er andere Frauen trifft. Sie stellt ihren Partner zur Rede, der streitet alles ab. Das macht Maria zuerst wütend und dann bekommt sie Angst. Diesmal reagiert er anders. Sie will noch nach dem Telefon greifen, aber da liegt sie schon am Boden. Niedergeworfen. Immer wieder holt er aus, seine Fäuste treffen sie mitten ins Gesicht. Der sechsjährige Sohn schläft nebenan.
So schildert Maria, die in Wahrheit anders heißt, den Vorfall vor knapp fünf Jahren. 2018 ist in Deutschland jede Stunde eine Frau wie Maria von ihrem Partner verletzt worden. Eine aktuelle Auswertung des Bundeskriminalamts zeigt, dass mehr als 114.000 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt, Bedrohungen oder Nötigungen durch ihren Partner oder Ex-Partner geworden sind. Mehr als im Jahr zuvor: 2017 waren 113.965 Frauen betroffen. Das Dunkelfeld liegt viel höher, so schätzt die Polizei, weil viele die Straftaten nicht anzeigen.
Am Tag danach bleibt Maria in ihrer gemeinsamen Wohnung. Ihr Partner entschuldigt sich. Dann schleppt sie sich wieder zur Arbeit in ein Warenhaus. Man sieht ihr an, was passiert ist: Ein Auge ist blau und geschwollen, der Körper mit Striemen übersät. Ihre Chefin drängt sie, ins Krankenhaus zu gehen. Zuerst will Maria nicht, aber dann überwindet sie sich. Eine Ärztin untersucht sie und dokumentiert ihre Verletzungen. Die Ärztin stellt sie vor die Wahl: Entweder Maria zeigt ihren Partner an, oder sie tut es. Maria will es selbst machen. Dann fährt sie wieder zur Arbeit. Abends holt ihr Partner sie ab, sie fahren nach Hause.
„Ich habe erst noch gedacht, der Ausraster könnte ein Wendepunkt für unsere Beziehung sein”
Erst zwei Wochen nach dem Gewaltausbruch ihres Partners geht Maria zur Polizei. Der Krankenhausbericht und Fotos, die eine Kollegin gemacht hat, dienen als Beweise. Als er an einem Sonntag kurz die Wohnung verlässt, packt Maria in wenigen Minuten die nötigsten Sachen, nimmt ihren Sohn mit und flieht. „Ich habe erst noch gedacht, der Ausraster könnte ein Wendepunkt für unsere Beziehung sein. Jetzt würde alles besser werden”, sagt Maria bei einem Treffen im Spätsommer in einem Café in Prenzlauer Berg. Ihr Partner habe sie aber weiterhin kleingehalten und runtergemacht. Als Maria davon erzählt, laufen ihr Tränen über das Gesicht. Die psychische Gewalt sei viel schlimmer als die Schläge. Zu Beginn des Gesprächs saß man einer selbstbewusst und fröhlich wirkenden Frau gegenüber, jetzt scheint sie gebrochen.
Der erste Eindruck: Maria ist eine Frau Ende 40, die auf ihr Äußeres achtet, sich gewählt ausdrückt, zuvorkommend und reflektiert ist. Frauen wie Maria begegnet man jeden Tag auf der Straße. Nach wenigen Minuten im Café wird sie unsicher, zappelt auf dem Stuhl und schaut zu oft auf ihr Handy. Er darf nicht erfahren, wo sie ist. Denn: Heute wohnt sie wieder bei ihrem Ex.
Maria kommt im Dezember 2013 nach der Flucht aus der gemeinsamen Wohnung mit dem Kind in einer staatlichen Einrichtung unter, vergleichbar mit einem Frauenhaus. Dort leben noch weitere Frauen, die vor häuslicher Gewalt geflohen sind. Die meisten von ihnen haben keine Kinder, sind arbeitslos. Gut betreut habe sie sich an diesem Ort nicht gefühlt, sagt Maria. „Ich war frustriert. Es gab keine psychologische Beratung und mir konnte man als einzige keine Wohnung vermitteln.” Maria arbeitet weiter in dem Geschäft, in dem sie seit mehr als 30 Jahren junge Mode verkauft. Der Kindsvater, wie sie ihn nennt, passt auf den Sohn auf, wenn sie Spätschichten machen muss. Anders sei es nicht gegangen, sagt Maria. Und: „Seinen Sohn schlägt er nicht.” Aber liebevoll sei er zu ihm auch nicht. Der Vater zwingt den Sohn, Gitarrespielen zu lernen, obwohl dieser nicht will. Doch der Vater akzeptiert keine Widerworte. Er schikaniert den Jungen, setzt ihn unter Druck, manchmal droht er ihm auch. So erzählt es Maria.
Nach sechs Monaten in der staatlichen Unterkunft können Mutter und Sohn für knapp fünf Jahre in der Wohnung einer Bekannten leben. Maria sagt: „Ich dachte, das sei genug Zeit, um etwas Eigenes zu finden.” Doch als sie im April diesen Jahres dort ausziehen müssen, sieht Maria nur zwei Optionen: auf die Straße oder zurück zum Ex. Sie wählt letzteres. Er hat es ihr angeboten. Doch es ist nicht so, als hätte sie vorher nicht alles versucht: Maria hat regelmäßig die Immobilienanzeigen auf mehreren Onlineplattformen durchforstet, sich den Wohnberechtigungsschein (WBS) für Sozialwohnungen besorgt und bei einer Genossenschaft angemeldet. Insgesamt habe sie zehn Wohnungen besichtigt, zwei in diesem Jahr, sagt Maria. Auch bei anderen Einrichtungen wie der Caritas habe sie es versucht. Da sagte man ihr nur: alles besetzt.
Was macht es Alleinerziehenden schwer, eine Wohnung zu finden?
Der Berliner Wohnungsmarkt ist hart umkämpft, Alleinerziehende haben besondere Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden. Maria bekommt als Einzelhandelsverkäuferin in Teilzeit knapp 1.200 Euro netto. Dazu kommt noch das Kindergeld. Damit hätte sie Anspruch auf eine Sozialwohnung mit geringerer Miete. Monatlich könnte sie dafür bis zu 500 Euro zahlen. Nur: Eine solche Wohnung muss man in Berlin erstmal finden. Trotz WBS seien die meisten Mieten für sie noch zu teuer, sagt Maria.
Claudia Chmel vom Verband alleinerziehender Mütter und Väter in Berlin sagt: „Oft ist es für Alleinerziehende schwer, nach der Trennung für die Miete der bisherigen Wohnung aufzukommen. Sie müssen mit ihren Kindern deshalb umziehen.” Das Kindergeld allein reiche nicht aus, um die finanzielle Mehrbelastung zu stemmen. Unterstützt werden könnten die Alleinerziehenden auch durch Wohngeld, Unterhalt oder Unterhaltsvorschuss, Kinderzuschlag sowie ergänzende Leistungen wie Arbeitslosengeld II, sagt sie. „Nur wissen viele nicht von diesen Möglichkeiten.“ Um einen Überblick zu bekommen, empfiehlt sie Portale im Netz oder eine Beratung. In Berlin gebe es einige Stellen, die bei drohendem Wohnungsverlust helfen, sagt Claudia Chmel. Etwa die „Sozialen Wohnhilfen” in den Bezirksämtern, oder Beratungsmöglichkeiten im jeweiligen Bezirk, wie etwa die „GEBEWO pro” in Kreuzberg.
Dazu kommen laut Claudia Chmel zwei weitere Hürden: Platz und Zeit. „Man ist mit einem Kind auf mindestens zwei Zimmer angewiesen. Das macht es wiederum teurer”, sagt sie. Und: „Alleinerziehende haben oft viel weniger Zeit als andere, sich um die Wohnungssuche zu kümmern. Sie sind rund um die Uhr für die Kinder zuständig und noch berufstätig.” Die Beraterin sieht noch Chancen, wenn in Berlin außerhalb des S-Bahn-Rings gesucht wird. Obwohl es unfair wäre, sagt sie, wenn Kinder von alleinerziehenden Eltern hier Abstriche machen müssten. „Die Kinder haben einen vertrauten Sozialraum in ihrem Kiez durch die Schule und ihre Freund*innen. Den möchten sie nicht verlassen.”
Maria fällt durch das Raster – der Staat unterstützt sie nicht
Heute wohnen Mutter, Vater und der mittlerweile zwölfjährige Sohn auf knapp 50 Quadratmetern in einem Westberliner Stadtteil. Ausweichen können sie sich kaum, zu dritt schlafen sie in einem Raum. Hier haben sie früher schon als Familie gelebt. Mehr konnten sie sich nicht leisten. Marias Partner ist lange arbeitslos gewesen, bis heute lässt er sie im Dunkeln darüber, was sein Einkommen betrifft. Warum Maria nicht erstmal bei Freund*innen unterkommt? Bloß keine Umstände machen. Sie ist keine Frau, die andere gerne um Hilfe bittet. Warum sie nicht zu ihrer Mutter geht, die ebenfalls in Berlin lebt? Zur ihr habe sie keinen Kontakt, das Verhältnis sei nicht gut. Warum sie sich nicht an staatliche Behörden wendet? Das habe sie schon einmal versucht, sagt Maria. Aus ihrer Sicht ist das gescheitert. Sie glaubt, der Sozialstaat unterstütze Frauen wie sie nicht. Maria fühlt sich im Stich gelassen. Während der Täter sein Leben weiterführt, als sei nichts gewesen.
Maria verdient ihr eigenes Geld, hat seit mehr als drei Jahrzehnten einen sicheren Job. Sie ist weder krank, noch wirkt sie überfordert oder verzweifelt. Sie ist damals wie heute einfach eine Alleinerziehende, die keine Wohnung findet. Der Grund: ein zu geringes Einkommen. „Ich sehe keinen Ausweg”, sagt Maria.
Man könnte nun behaupten, bei Marias Geschichte handle es sich um einen Einzelfall. Dass sie inkonsequent sei und emotional abhängig von einem gewalttätigen Mann. Vielleicht noch, dass man immer irgendwo eine Wohnung finden würde. So ist es aber nicht. Maria war bereit, ihren Partner zu verlassen. Sie hat ihn angezeigt, ist ausgezogen und hat ein neues Leben begonnen. Sie ist weder wählerisch bei den Stadtteilen, noch bei den Wohnungen. Nur in Berlin möchte sie bleiben. Und ihr Sohn will die Schule nicht wechseln. Als Mutter kann Maria das verstehen. „Er hat viel durchgemacht“, sagt sie. Doch entscheidend sei die Schule für die Wohnungssuche nicht.
Seine andere Seite kennt kaum jemand – Maria schon
Der Vater ihres Sohnes ist intelligent und gebildet, ein Diplomingenieur. Dazu hochmusikalisch. Sein Umfeld würde ihn als äußerst charmant beschreiben, sagt Maria. Die Seite, die neben ihr nur wenige kennen, ist unberechenbar, impulsiv, laut, launisch und aggressiv. Er ist jemand, der sich andauernd provoziert fühlt und jederzeit explodieren kann. Ein Choleriker. Einmal jagte er samt Kleinkind im Auto einem anderen Autofahrer in der Innenstadt hinterher, erst kürzlich pöbelte er die Security am Flughafen an, sagt Maria.
Wie sehr dieser Mann sie einschüchtert, wird deutlich, wenn man im Alltag mit ihr kommuniziert. Man darf Maria nicht einfach anrufen oder ihr Nachrichten schreiben. Wenn das doch mal passiert, löscht sie sie sofort. Er lese mit, kontrolliere ihr Telefon, sagt Maria. Nur E-Mails checkt er nicht. Sie meldet sich, wenn ihr Expartner beim Fußball ist, arbeitet oder Musik macht. Er engt sie ein und möchte nicht, dass sie sich häufig mit Freund*innen trifft. Auch der Sohn weiß nichts von unseren Gesprächen. Wenn er aus der Schule kommt, kann es sein, dass Maria so tut, als würde sie gerade mit jemand anderem telefonieren.
Marias Wohnungsproblem würde sich wohl lösen, wenn sie monatlich mehr Geld zur Verfügung hätte. Deshalb hat sie sich beim Berliner Verein „Goldnetz“ beraten lassen, dieser unterstützt Alleinerziehende bei der beruflichen Weiterbildung. Die Beraterin Tonia Hausmann hat Marias Weg ab 2018 begleitet. Sie kann bestätigen, dass Maria stetig nach Wohnungen gesucht hat. Gemeinsam haben sie zudem mehrere Beratungsstellen und eine Expertin im Bereich Arbeitsrecht kontaktiert. Auch dort hätte man keine Antwort gewusst – außer, dass Maria sich arbeitslos melden solle. So sei es einfacher, eine Wohnung zu finden. „Maria fällt durch das Raster“, sagt Tonia Hausmann, „einer berufstätigen Frau wie ihr wird weniger geholfen, obwohl sie alleinerziehend ist und nicht viel verdient.”
Zur Wahrheit gehört auch, dass einige Dinge mit einem*einer Partner*in einfacher sind – selbst wenn dieser ein Schläger ist
„Als ich alleine war, ging es meinem Kind und mir finanziell sehr schlecht. Ich habe viel gearbeitet und trotzdem hat es gerade mal für das Nötigste gereicht”, sagt Maria. So bedrückend die Umstände sein mögen, seitdem sie wieder mit dem Kindsvater zusammenlebt, entlastet sie das finanziell wie auch organisatorisch. „Jetzt ist immer jemand da, wenn mein Sohn aus der Schule kommt.”
Vor wenigen Wochen hat Maria eine Psychotherapie begonnen und sie denkt weiterhin darüber nach, sich beruflich umzuorientieren. Denn ausziehen will sie immer noch. Nur glaubt sie nicht, dass sie dabei auf staatliche Unterstützung hoffen kann. Ein Gedanke schießt ihr oft durch den Kopf: Was, wenn er wieder zuschlägt? Dann würde sie nicht einfach gehen können. „Ich möchte anderen Frauen nicht den Mut nehmen, die in der gleichen Situation stecken, sondern die Behörden darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmt”, sagt Maria. Und was, wenn es irgendwann den Sohn trifft? Sie sorgt sich um ihn. Maria sagt: „Er ist kein glückliches Kind. Er will mich beschützen und ist zu sensibel.” Als sie sich neulich in den Finger geschnitten habe, seien ihm sofort die Tränen gekommen. Er hat Angst um sie. Vielleicht noch mehr als vor dem Vater.
Hilfestellen für Betroffene von Gewalt
Wenn ihr von Häuslicher Gewalt betroffen seid oder jemanden kennt, gibt es viele Möglichkeiten Hilfe zu holen. Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen” ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-Beratung unterstützen sie Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte beraten sie anonym und kostenfrei. Mehr Informationen zum Thema häusliche Gewalt gibt es hier.
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