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Werden Freund*innen die neue Familie?

Susanne Lang sagt: „Der Freundeskreis ist heute die bessere Familie”. In ihrem Buch beschreibt sie die Entstehung dieser neuen Haltung.

Wenn Freund*innen wichtiger werden

„Mein Mann wurde immer gefragt: Und wann kommt jetzt die Familie nach? Ich kam mir fast komisch vor, als ich sagte: Ich will hier nicht weg”, erzählt die Journalistin Susanne Lang im Interview. Als der Mann der Wahlberlinerin beruflich nach Hamburg ging, machte sie eine Liste mit Dingen, die für und gegen den Umzug der Familie sprachen. Nicht pendeln zu müssen, die Höhe der Mietkosten, ob das Biertrinken in der U-Bahn erlaubt ist – das sind einige der Punkte, die sie gegeneinander abwog. Wenn sie mit den Kindern in Berlin bliebe, würde sie den Mann, den sie liebt, seltener sehen, das wusste sie – doch den Ausschlag gab es nicht. „Es sah nicht gut aus für Hamburg. Zu keinem Zeitpunkt”, erklärt sie im Einstiegskapitel ihres Buches, das gerade erschienen ist. Es gab einen Grund, der dick und fett an oberster Stelle ihrer Liste stand: FREUNDE.

Das Gefühl, die absolut richtige Entscheidung zu treffen, bei der sie sich manchmal fragte, ob die Haltung nicht vielleicht „kindisch” sei, hat Susanne Lang zum Anlass genommen, die Kulturgeschichte der Freundschaft und ihre Bedeutung heute in zehn Kapiteln zu entschlüsseln. „Ziemlich feste Freunde“ heißt das Buch, das so entstanden ist. Bei den Recherchen hat die Autorin festgestellt, dass sie nicht damit alleine ist, auf ihre Freunde nicht verzichten zu wollen. 85 Prozent der Deutschen finden es ganz besonders wichtig, gute Freunde zu haben. Das fand die Jacobs-Studie „Freunde fürs Leben” in diesem Jahr heraus. Das Bemerkenswerte: Gute Freunde sind wichtiger als Zeit für die Familie und eine erfüllende Partnerschaft. Familie wurde mit 78 Prozent erst an Platz zwei genannt, die Liebesbeziehung mit 75 Prozent an Platz drei.

Das Ende der bürgerlichen Kleinfamilie

Die renommierte Soziologin Eva Illouz erklärt diese Wertverschiebung mit der Brüchigkeit von Beziehungen. Jeder weiß: Inzwischen wird in Deutschland etwa jede zweite Ehe geschieden. Für Illouz ist das kein Grund zur Trauer: „Es würde uns nämlich viel besser gehen, wenn wir Freundschaften ein ebensolches Gewicht verliehen wie unseren intimen Beziehungen”, sagt sie im Interview mit Profil.  Freundschaften verdienten eine stärkere „kulturelle Sichtbarkeit”. Im Zuge der Veröffentlichung ihres Buches „Warum Liebe weh tut” richtete die Israelin sich mit einem Plädoyer an Frauen, das für Aufsehen sorgte: „Wenn ihr Kinder wollt, bekommt sie allein – oder in einer Gemeinschaft mit anderen Frauen, die ebenfalls Kinder wollen. Oder mit Männern, die Kinder wollen, aber nicht eure Partner sind. Es braucht keine traditionelle Familienstruktur, um Kindern aufzuziehen.”

„Ich glaube nicht, dass sich die Reproduktion ändern wird”, hält Susanne Lang dem entgegen. Aber Menschen würden mit der wachsenden Bedeutung von Freundschaften wieder größere Familien um sich herum scharen: „Freunde übernehmen Aufgaben, die früher Familienmitgliedern vorbehalten waren.” Die kleinbürgerliche Familie sei lange passé, dennoch würde dieses Idealbild politisch weiter subventioniert, zum Beispiel mit dem Ehegattensplitting oder dem Betreuungsgeld. Und auch mit den neuen Partnerschaftsmonaten, von denen Alleinerziehende nicht profitieren werden. Doch warum erhalten Freunde, die sich im Alter gegenseitig unterstützen wollen und zusammen leben, keine staatliche Unterstützung?

Hommage an die Großfamilie

„Kinder wachsen heute zwischen ganz vielen Geschwistern auf. Und unter Freunden”, so beschreibt Susanne Lang die moderne Kinderbetreuung. „Leute, die denken, dass Kinder in Kitas verwahrlosen, haben keine Erfahrungen damit.” Kinder würden damit schon früh lernen, was Gesellschaft bedeutet und Freundschaften zu schätzen. „Meine Tochter wird vier und Freunde ist das Riesenthema. Das Schlimmste, was sie zu mir sagen kann, wenn sie etwas nicht bekommt ist: Dann bist du nicht mehr meine Freundin”, erzählt Susanne Lang.

Dass Freunde nun Teil der neuen Großfamilie sind, muss aber nicht zu neuen Begriffen führen, findet die Autorin. Ersatzfamilie würde eher abwertend verstanden und betonen, dass etwas fehle. „Eine 70-jährige kann ja auch für das Kind eine Freundin sein – und keine Ersatzoma.”

Orte des Vertrauens

Susanne Lang hat sich für ihre Buch verschiedene Formen der Freundschaften genauer angeschaut. Auch Frauenfreundschaften hat sie ein Kapitel gewidmet. In diesen Freundschaften spielt besonders Vertrautheit eine Rolle, was auch die Jacobs-Studie bestätigt. Sich aufeinander verlassen können, immer um Rat fragen können, ehrlich zueinander sein und einander zu trösten gehören zu den ersten Dingen, mit denen beschrieben wird, was Freundschaften ausmacht. Was Susanne Lang in ihrer Annäherung an das Wesen der Freundinnenschaft relativiert, sind die Klischees, dass es nur eine beste Freundin geben könne und solche Beziehung ein ganzes Leben lang dauerten. „Frauen beschreiben Freundschaften qualitativ, aber nicht exklusiv”, so Lang. Eine Frau könne durchaus mehrere andere zu ihren besten Freundinnen zählen.

Schwierig wird es, wenn die Harmonie einer Freundschaft aus dem Gleichgewicht gerät, weil sich im Leben der anderen etwas Einschneidendes ändert: „Absolutes Vertrauen setzt voraus, das man gleich ist.”  Frauenfreundschaften leiden oder enden sogar, wenn die eine ein Kind bekommt, einen neuen Job annimmt, oder einen Freund hat, während die andere Single ist. Man würde denken, es dürfe nicht so viel ausmachen, wenn zwei Menschen sich verstehen. Wenn man jedoch das „Ich kenn das auch” nicht mehr teilt, wird es schwierig. Allerdings bieten so neue Lebenssituation auch die Chance für neue Freundschaften.

Eignen sich Freundschaften also nicht dazu, einander anzuspornen? Die Psychologin und Neidforscherin Verena Kast, die Lang in ihrem Frauenkapitel häufig zitiert, sieht das freundschaftliche Verhältnis, was Kollegen miteinander immer häufiger pflegen, als gute Basis, um mit Konkurrenz besser umzugehen. Wer freundschaftlich aufeinander blickt, kann dann eher die Haltung entwickeln, im Job ebenso gut sein wollen, anstatt neidvoll zu resignieren und zu lästern. Unter Kollegen Freunde zu finden, ist damit ein doppelter persönlicher Gewinn: privat und beruflich. Dem „Millennial Impact Report 2014” zufolge wird es auch für Unternehmen immer wichtiger, schon bei der Teamzusammenstellung darauf zu achten, dass Mitarbeiter sich mehr als nur beruflich verstehen. Denn unter guter Unternehmenskultur verstehen junge Menschen verstärkt, in ihren Jobs auch Freunde zu finden. Die strikte Trennung von Job und Privatleben wollen sie nicht.

Mehr Netz, mehr Freunde

Ebenso, wie es für junge Menschen die Trennung von on- und offline nicht mehr gibt. In „Ziemlich feste Freunde” findet der Leser eine kulturoptimistische Sicht auf virtuelle Freundschaften. Soziale Netzwerke schafften eine stärkere Verbundenheit, weil sie Kontakt auch bei wenig Zeit füreinander ermöglichen, ist dabei eine von Langs Thesen, die auch von der Jacobs-Studie untermauert wird. Denn „dass man sich häufig sieht”, finden nur 18 Prozent der Deutschen für eine Freundschaft ganz besonders wichtig. Man kann sich also auch schreiben oder ein Gif schicken.

Susanne Lang fragt sich außerdem, warum die beliebte amerikanische Kleinanzeigenrubrik „Friends wanted” im deutschsprachigen Raum noch nicht zu Onlineangeboten geführt hat, über die man gezielt Freunde suchen kann. Für die Suche nach Liebe oder Sex hingegen gibt es eine Unmenge von Onlineangeboten. „In den USA wird das pragmatischer gehandhabt, der Freundesbegriff ist bei uns so idealistisch aufgeladen. Da muss es gleich um Seelenverwandtschaft gehen”, so Lang. Wenn sich der Trend der Jacobs-Studie fortsetzt, dass Freunde als wichtiger als Familie und Lebenspartner gesehen werden, sollte bald auch dieses Tabu fallen. Denn Freunde zu suchen muss niemandem peinlich sein. Und es sollte nach all den Jahren in Singlebörsen spannend sein zu sehen, wie Menschen einen Freund beschreiben – und nicht den idealen One-Night-Stand oder den Traumprinzen.

„Ziemlich feste Freunde: Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist” von Susanne Lang ist im Mai im Blanvalet-Verlag erschienen.

Bild: Susanne Lang, Autorin des Buches: „Ziemlich feste Freunde: Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist”. Fotografin: Leonie Geiger

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