Foto: Alexey Demidov | Pexels

„Gebt mir nur fünf Minuten“ – Über die Sehnsucht nach dem Alleinsein

„Bin gleich da. Gebt mir nur fünf Minuten.“ Diesen Satz sagt unsere Autorin sehr oft am Abend zu ihren Kindern. Nur fünf Minuten Stille. Nur fünf Minuten allein.

Ich bin im Tunnel. Ein Tunnel voll mit Terminen, Trello Boards, Anzeigetafeln, Menschen, Meetingräumen, die nach Berliner Straßen benannt sind – hier ist es laut und schnell und alles ist wichtig, dringend, sofort zu erledigen. Wohin ich auch blicke, überall rot leuchtende Knöpfe und winkende Hände und zwischendurch klingelnde Handys aus anderen Richtungen: „Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie meine Mail gelesen haben?” – „Entschuldigung, kann es sein, dass Sie vergessen haben, ihre Tochter zur Probe zu bringen?” – „Würdest du noch wegen Sonntag Bescheid geben, ob ihr kommt?” – Ich renne weiter, arbeite, bin hier eine „schlechte Mutter”, dort eine „unzuverlässige Freundin”, beantworte Fragen, die nicht warten können, lege Wege zum nächsten Termin zurück.

Wach bleiben

Seit Monaten bin ich nicht dazu gekommen, das Fahrrad zu reparieren, also verlasse ich mich auf meine Beine und die S-Bahn und bin ständig in Eile. Jemand hat mir eine Uhr geschenkt, die mich ans Atmen erinnert. Dann geht ein Impuls über auf mein Handgelenk, ich schaue auf das Display und da steht: Nicht vergessen zu atmen! Ich atme also. Und dann bin ich wieder im Tunnel. Die Tunnelwände sind nackt und kühl und es gibt keine Möglichkeit, mal zu sitzen, und wenn doch, dann ist der Körper nicht zu bremsen, weil er eine irrsinnige Geschwindigkeit aufgenommen hat, die erst nach dem Ins-Bett-Bringen der Kinder gedrosselt wird. Dann sollte ich schlafen, aber ich schlafe nicht, sondern halte mich wach, erst mit Büchern, dann mit bewegten Bildern: Endlich allein! 

Allein sein. Ich muss oft an das Zitat denken: „Diese Sehnsucht nach Einsamkeit ist wie Durst. Ich kann sie eine Zeitlang unterdrücken, aber ab einem gewissen Punkt bin ich einfach gezwungen, ihr nachzugeben.” – Ich selbst stille diese Sehnsucht also meistens in der Nacht. Die Nacht, in der ich wach bin und in der es vollkommen egal ist, was ich eigentlich mache, die Hauptsache ist, dass niemand sonst redet oder sich überhaupt in meiner Nähe befindet. – Das Zitat kommt von Eva Lohmann, sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „So schön still”. Darin erzählt sie vom Leben als introvertierte Mutter mit dem dringenden und ständig wiederkehrenden Wunsch, allein zu sein.  

Die Übermacht des Alltags

Vor ein paar Tagen stellte mir eine Freundin die eigentlich immer irritierende Frage: „Wie geht es dir?” Ich beantworte diese Frage ja nie direkt, sondern provoziere eine längere Gesprächspause, in der ich im Blick meines Gegenübers herauszufinden versuche, ob ich ehrlich antworten darf. Dann sagte ich: „Der Alltag ist übermächtig.” Und damit meinte ich: Für mich ist die Unmöglichkeit, allein zu sein, das Schwierigste in diesem dichten Alltagskonstrukt, in dem von mir als Mutter, Arbeitnehmerin und Freundin auf allen Ebenen ständige aktive und abliefernde Anwesenheit erwartet wird. 

„Gebt mir nur fünf Minuten”, sage ich manchmal zu den Kindern. Das hassen sie, weil das heißt, dass ich jetzt noch nicht für sie da bin. Dass ich kurz noch atmen muss. Eva Lohmann schreibt an einer Stelle in ihrem Buch, sie habe begriffen, dass sie mit der Sichtbarmachung ihrer Bedürfnisse ihrem Kind auch etwas beibringe: „Ich bin momentan das wichtigste Vorbild meiner Tochter. Wenn sie sieht, dass ich Grenzen habe, diese Grenzen kommuniziere und verteidige, prägt sie das.” – Ich kann diesen Punkt auch sehen und verstehen. Aber es wäre definitiv einfacher, wenn meine Kinder sagen würden: „Ja klar bekommst du fünf Minuten. Bis gleich!” Statt diese Quengelgeräusche zu machen in einer Tonlage, die für Entspannungsgefühle vollkommen ungeeignet ist.

Heimliche Pausen

Neue Orte, die sich im Familien-, Freundes- oder Arbeitskontext auftun, inspiziere ich zuerst nach den Rückzugsräumen. Wo kann ich mich wiederfinden, wenn es zu viel ist? Wo kann ich Gedanken sammeln? Als ich das Buch von Eva Lohmann las, fiel mir auf, dass ich mich auf diese Suche nach Rückzugsräumen immer heimlich begebe. Dass ich Pausen heimlich nehme – und damit meine ich zum Beispiel auch, nur zwei Minuten länger im Badezimmer zu bleiben und einfach an die Wand zu starren, bevor es zurück geht. Oder eben in der Nacht, wenn mich niemand mehr braucht. Und diese Heimlichkeit impliziert ja eigentlich, dass ich etwas Verbotenes tue, dabei geht es darum, aufrecht stehen zu bleiben, für andere ansprechbar und eine Hilfe zu bleiben – statt umzufallen. Warum also kommuniziere ich fast nie, wenn ich den Rückzug brauche?

Teresa Bücker schreibt in ihrem Buch „Alle Zeit”: „Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihren eigenen Bedürfnissen zu folgen, und die sich stattdessen sozialen Normen, den Erwartungen anderer oder auch starken inneren Idealen beugen, bringen sich auf diese Weise darum, ihre freie Zeit als solche zu empfinden.” Ich empfinde in einem ansonsten übervollen Alltag die freie Zeit vor allem als Zeitverschwendung, wenn ich sie zu gewissen Teilen nicht allein verbringen darf. Aber das zu kommunizieren, erscheint mir nicht einfach, ohne Menschen vor den Kopf zu stoßen. 

Vor einigen Wochen hatte ich das große Privileg, einen ganzen Tag allein am Meer sein zu dürfen. Ich lief am Strand entlang, immer weiter. Am Anfang waren da noch viele andere Menschen, aber irgendwann war ich die einzige Person weit und breit. Und ich ging immer weiter und dachte erst noch über alle möglichen Dinge nach, über die Welten, in denen ich mich bewege oder nicht bewege und irgendwann hörte auch das auf und ich stapfte einfach nur durch den Sand und kam irgendwann im Dunkeln ziemlich erschöpft und zugleich vollgepumpt mit Sauerstoff an. Diesmal war es das Meer, das übermächtig war, und nicht der Alltag. Und ich überprüfte mein Gewissen auf Schatten, aber da waren keine. 

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