In „Touch me not“ erkunden verschiedene Charaktere ihre Intimität und Sexualität. Die Regisseurin Adina Pintilie ist selbst Teil des Films. Wir haben mit ihr gesprochen.
Wie nah sind wir unserem eigenen nackten Körper?
„Nehmt euch einfach mal einen Spiegel, setzt euch bequem hin und schaut euch eure Geschlechtsteile an“, meinte mein Biologielehrer in der 8. Klasse zu uns. Gekichere bauschte sich von der letzten bis in die erste Reihe auf. Herrn Kurtenbachs Vorschlag war das Letzte, was wir Pubertierenden uns in unserer Freizeit vorstellen konnten. Lieber beugten wir uns gemeinsam über die Nacktbilder in der Mitte von Bravoheften. Einen Spiegel zwischen die Beine zu halten, schien uns abwegiger, als Schüler*innen aus der Parallelklasse zu knutschen.
Jahre später unterhalte ich mich mit einer Freundin. „Weißt du was“, meint sie zu mir, „Wenn du mir Bilder von Geschlechtsteilen zeigen würdest, dann könnte ich eher die Penisse den Männern zuordnen, mit denen ich geschlafen habe, als meine eigene Vulva ausfindig zu machen.“ Damit bist du nicht alleine, dachte ich mir. Ob auf Werbeplakaten, in Filmen oder Pornos – nackte Körper fallen uns ständig ins Auge. Doch teilweise tragen wir noch immer die gleiche Scham in uns wie zu Zeiten von Adam und Eva. Warum fällt es uns so schwer, unseren eigenen Körper anzuschauen? Dieser Frage geht die Regisseurin Adina Pintilie in ihrem Film „Touch me not“ nach.
Das Werk berührt und polarisiert, zeigt verschiedene Individuen in Situationen in teils befremdlichen, aber wunderschönen Bildern. Professionelle Schauspieler*innen und Laien experimentieren mit den eigenen sexuellen Grenzen. Auch die Regisseurin Adina Pintilie ist Teil der Handlung. Für ihren verfilmten Selbstversuch hat sie den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Wir haben mit ihr über ihre intime Expedition gesprochen und wie wir uns mit unseren eigenen Körpern anfreunden können.
Adina, du bist selbst Teil des Films. Wie bist du auf die Idee gekommen, deine eigene Sexualität in einem Film zu erforschen?
„Als ich 20 Jahre alt war, dachte ich, ich wüsste alles über Intimität, wie Beziehungen funktionieren, über Erotik, Schönheit und Körper. Aber irgendwie sammelten sich über die Jahre viele Fragen und Zweifel an. All diese Vorstellungen, die mir mit 20 so klar waren, schienen ihre Definition verloren zu haben. Meine eigene Sexualität ist komplexer und widersprüchlicher geworden. „Touch me not“ wurde durch diesen selbstreflektierenden Prozess ausgelöst. Ich wollte alles, was ich von Familie, Gesellschaft und Schule über Intimität gelernt hatte, mit offenen Augen neu entdecken. Ich wollte wissen, wie Menschen wirklich miteinander umgehen und warum Sexualität oftmals so ein schwieriges Thema ist.“
Wie bist du deine Erkundungen angegangen?
„2013 startete unsere Casting-Phase, die dann zwei Jahre dauerte. Ein untypisches Casting, ähnlich einem Dokumentarfilm, bei dem ich nach Leuten suchte, die mit mir auf der gleichen Wellenlänge sind. Es war mir besonders wichtig, dass meine möglichen Mitstreiter*innen stark emotional motiviert sind, den schwierigen Weg der Selbsterforschung zu beschreiten. Der Film begann von Anfang an als Einladung zum Dialog. Er forderte uns alle dazu auf, offen zu sein, um die unerwarteten Möglichkeiten zu entdecken, wie Menschen miteinander in Kontakt treten können. Wir haben ein Labor erschaffen.“
Wie können wir uns so ein Labor vorstellen?
„Das Labor ist ein Raum, in dem wir uns gegenseitigen entdeckt haben. Alle Protagonist*innen führten ein Videotagebuch. Diese Tagebücher haben wir über Skype besprochen und auf deren Grundlage neue Themen und Szenen erstellt, die wir später drehen wollten. Es war eine prägende Zeit, in der wir uns näher kennenlernten. Das Vertrauen untereinander wurde stärker.“
Protagonistin Grit: Für mich war es ein großer Schritt zwischen meiner ersten Begegnung mit Adina über Skype und dem Raum, wo ich mich jetzt befinde. Eine sehr großer Erfahrungsschatz an menschlicher Verbindung und Austausch, sexueller Vielfalt, eigenen kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten.
Wie wurde aus all den einzelnen Forschungselementen ein Film mit rotem Faden?
„Wir stellten bald fest, dass es eine emotionale Linie gibt, die alle Protagonist*inne verband: Jeder Charakter steht in einem akuten Widerspruch zwischen seinem Bedürfnis nach Intimität und seiner*ihrer gleichzeitigen Angst davor. Diese Gemeinsamkeiten haben wir in den fiktionalen Elementen verwoben.“
Tómas Lemarquis – einer der Protagonist*innen – nennt den Film ein „fremdes Tier“, weil er in keine Kategorie passt. Wie viel vom Film ist real und was ist inszeniert?
„Videotagebücher, Nachstellungen von Erinnerungen und Träumen, Inszenierung der Realität – die Grenzen sind fließend. Vor allem ist es ein Forschungsfilm, ein Dialogfilm. Zwischen den Dreharbeiten gab es immer wieder lange Pausen, in denen wir das bereits gesammelte Videomaterial gesichtet und geschnitten haben. Daraufhin haben wir neue Szenen entwickelt. Die Geschichten sind also eine Mischung aus persönlichen und fiktionalen Elementen.“
Die Handlung des Filmes war also nicht von Anfang an abzusehen?
„Wir haben ständig mit unvorhersehbaren Elementen gearbeitet – mit unseren Schwachstellen, Emotionen, Körpern und unserer inneren Welt. In allen Fällen war es eine sehr herausfordernde, emotionale Reise für die Protagonist*innen. Und ja: Zu Beginn wusste niemand, wie der Film ausgehen wird.“
Was hast du auf dieser Selbsterkundungsreise gelernt?
„Ich habe vor allem meine eigenen vorgefassten Ideen in Frage gestellt. Auf eine bestimmte Weise funktioniert das wie eine Therapie. Ich bin mir in meiner Wechselwirkung mit Anderen bewusst geworden. Ich habe gelernt, Dinge neu miteinander in Beziehung zu setzen und meine Perspektiven auf die Realität anzupassen. Ich habe viel über meine persönlichen Grenzen nachgedacht. Außerdem habe ich erkannt, dass die Art, wie wir Intimität auf einer tiefen und meist irrationalen Ebene wahrnehmen, stark von unserer Erziehung und den Beziehungen zu unseren Mitmenschen abhängt. Es gibt so viele Zustände, die mir erst sehr spät bewusst geworden sind und die mein Verhalten beeinflussen, ohne dass ich es überhaupt bemerkt habe. Und das ist, glaube ich, auch der Grund, warum der Film einigen Zuschauer*innen unangenehm ist. Er lockt aus der Komfortzone.“
Bei der Premiere haben einige Zuschauer*innen den Saal verlassen. Was sind das für Szenen außerhalb der Komfortzone?
„Viele meiner Ansichten zu den Dingen haben sich verformt und das haben wir filmisch festgehalten: Behinderung und Sexualität, Sexarbeit, Schönheit und Körperlichkeit. Es gibt viele Arten von Körpern, die sich von der klassischen Norm der Schönheit unterscheiden. Für mich ist Christian, der Protagonist mit spinaler Muskelatrophie, ein hervorragender Mensch mit einem wunderschöner Körper, auch wenn er anders ist als die Norm. Da es sich um einen Film über Intimität handelt, ist es implizit ein Film über den Körper, über das subjektive Erleben und Wahrnehmen des Ichs.“
Protagonist Christian: Die eigene körperliche Wahrnehmung gehört zum Kern jeder Persönlichkeit. Wir sind alle körperliche Wesen. Eine erfüllte Sexualität ist dementsprechend ein Grundbedürfnis des Menschen, so wie Essen und Sicherheit.
Sexarbeit ist ein weiterer Aspekt, bei dem ich meine Perspektive geändert habe. Ich entdeckte die komplexen und oft therapeutischen Formen der persönlichen Erkundung, die sexuelle Dienstleistungen annehmen können. Und dass Menschen viele Motive haben, Sexarbeit auszuüben. Für eine Protagonistin, die Transfrau Hanna, war es beispielsweise kein finanzieller. Für sie war es vielmehr die Beziehung zum eigenen Körper, die Suche nach der eigenen Identität.“
Was können Zuschauer*innen von dem Film lernen?
„Respekt vor Anderen und die Akzeptanz von Unterschieden. Idealerweise sollte das etwas Selbstverständliches sein. Leider tauchen in unseren täglichen Begegnungen oft Machtbeziehungen auf. Probleme mit Intoleranz, das Beurteilen der Anderen und negative Bezeichnungen sind häufig. Es kommt so oft vor, dass Menschen verurteilt werden, weil sie einen anderen Körper, eine andere Orientierung oder eine andere Sicht auf die Welt haben. Sie stehen vor einem permanenten Konflikt zwischen Bindung und Autonomie, zwischen Geben und Nehmen, zwischen dem Bild, das sie in ihren Gedanken über die Liebe aufgebaut haben, und der Realität. Einen anderen Menschen zu lieben, ohne sich selbst zu verlieren, ist das zentrale Dilemma im Mittelpunkt meiner Suche.
Protagonist Seani: Wenn wir versuchen, unsere sexuellen Fantasien bewusst zu erkunden, erkunden wir einen Teil unseres Unterbewusstseins und gewinnen so an persönlichen Einsichten, Selbsterkenntnissen und Weisheit.
Der Film zeigt: Ein Schlüssel zu unserem Unterbewusstsein stellt die Art dar, wie wir handeln und fühlen. Wenn es gelingt, sich ehrlich und offen zu betrachten, können wir tiefgreifendere Aspekte unseres Selbst verstehen. Dazu dürfen wir uns nicht selbst verurteilen und uns als abartig oder falsch bezeichnen, wenn unsere Sexualität sich von dem unterscheidet, was als Norm gilt.“
„Unsere Intimität, unser Körper, unsere Sexualität sind so wesentliche Aspekte unseres Lebens und doch sind es Themen, über die wir so schwer reden können, umgeben von so vielen Tabus , Scham, Schuld und Blockaden.“ – Regisseurin Adina
Welche Reaktionen hast du vom Publikum bekommen?
„Es ist sehr inspirierend, aber auch herausfordernd, die Zuschauer*innen bei Filmvorführungen direkt zu treffen. Die Emotionen waren teils sehr stark und unerwartet. Sehr oft können die Menschen kaum in Worten artikulieren, was sie tatsächlich fühlen. Es dauert eine Weile, bis sie verbalisieren können, was der Film genau ausgelöst hat. Der Psychoanalytiker, mit dem wir für den Film zusammengearbeitet haben, hat einmal gesagt, dass der Film in einen direkten Dialog mit dem limbischen System, unserem sogenannten ,emotionalen Gehirn‘, tritt. Das fand ich sehr treffend.
Protagonist Christian: Wir hoffen, die Perspektive der Zuschauer zu ändern. Es geht um Freiheit. Lass dir nicht von der Gesellschaft sagen, wer du bist und wie du dein intimes Leben zu führen hast! Fühle deine eigenen Gefühle und gehe deinen eigenen Weg.
Ich glaube, ,Touch me not‘ kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem dieser menschliche Dialog dringend benötigt wird. In der heutigen Welt, in der wir so vielen Vorurteilen gegenüberstehen und wir zunehmend Angst vor dem Anderen haben, schlägt der Film vor, dass wir uns mit diesem Anderen anfreunden. Allen voran mit uns selbst.“
Liebe Adina, danke für das Interview und deine ehrlichen Worte.
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