Foto: Sarah Jonek

Michelin-Köchin Iris Bettinger: „Die Spitzenküche braucht menschlichere Arbeitsbedingungen“

Iris Bettinger hat sich im fünften Jahr in Folge den Michelin-Stern für ihre Kochkünste erarbeitet. Im Gegensatz zu vielen anderen Spitzenküchen geht es bei ihr eher ruhig und harmonisch zu. Mit unserem Partner Manager-Magazin sprach sie über ihre Arbeit in einer Männerdomäne.

Die Leute werden wie Maschinen behandelt.

Es gibt rund 300 Restaurants in Deutschland, die mit einem oder mehr Michelin-Sternen ausgezeichnet sind. Weniger als zehn werden von Chefköchinnen geführt. Eine davon ist Iris Bettinger, Jahrgang 1975, die im familiengeführten Hotel & Restaurant Reuter in Rheda-Wiedenbrück kocht und ihren Stern seit etlichen Jahren in Folge hält. Zum Interview traf manager-magazin.de die Köchin des Jahres 2018 (Schlemmer Atlas) in Reinbek beim Schleswig-Holstein Gourmet Festival. Ihr eigenes Restaurant wusste sie derweil in guten Händen: Ihre Mutter war als Küchenchefin eingesprungen.

Sie haben Ihren Kochstil mal als „interregio-mediterran-eurasisch“ bezeichnet. Was denn nun?

„Journalist*innen wollen Köch*innen immer in irgendeine Schublade packen: Asiatisch, französisch, regional. Das kann einem auf den Keks gehen. Darum habe ich dieses Wortmonster erschaffen, mit dem alles gesagt ist. Ich habe einfach aneinandergereiht, was ich gerne koche. Ich mag es gerne international, ich liebe die mediterrane Küche, ich mag auch gerne euro-asiatische Küche. Ich lasse mich ungern festlegen.“

Ist Ihr Kreativprozess eher eine Einzelleistung oder eher Teamsache?

„Es gibt Momente, wo es bei mir allein passiert, wenn ich irgendetwas gesehen oder probiert habe. Ich habe Post-Its bei mir am Nachttisch liegen und ganz viele Bleistifte. Manchmal werde ich mitten in der Nacht wach und schreibe mir ein paar Schlagwörter auf, weil ich denke: ach, das würde gut mit dem zusammenpassen. Das erzähle ich am nächsten Morgen in der Küche. Dann nimmt der Zug Fahrt auf. Es ist ein Anfangsgedanke, den wir dann im Team weiterentwickeln, bis er zur Jahreszeit und in unser Menü passt. Der kann aber genauso gut auch von anderen Mitarbeiter*innen in der Küche kommen.“

In der Spitzengastronomie sind Frauen immer noch sehr selten …

„Tja, wo seid ihr, Ladies?“

Sie haben sich bei den Jeunes Restaurateurs d’Europe auf die Fahnen geschrieben, Nachwuchsköchinnen fördern zu wollen. Wie denn?

„Frauen haben oft Hemmungen, ein Praktikum in einer Küche zu machen, wo 99 Prozent Männer sind. Klar, auch bei einer Frau wird es mal lauter, wenn es stressig wird. Aber ein junges Mädchen, die mit 15, 16 Jahren ein Praktikum machen will, findet sich in einer männlich dominierten Atmosphäre nicht unbedingt wieder. Die sucht dann eher eine Frau als Verbündete. Viele Männer tragen dieses Coole sehr vor sich her. Das baut Hemmungen auf. Viele junge Frauen kommen gezielt zu uns, weil es ein bisschen geborgener ist. Ein bisschen Empathie von Frau zu Frau ist für die ersten Schritte nicht schlecht. Wenn man dann aber in die weite Welt hinaus geht, muss man sich darüber im Klaren sein, dass es nicht überall so eine Kuschelküche gibt. Aber dann ist man schon gefestigter. Insgesamt sind auch Männer eher froh, wenn Frauen im Team sind. Es reißen sich dann alle mehr zusammen, das finden Männer auch gut.“

In Ihrem Haus haben seit 120 Jahren die Frauen in der Küche das Sagen, die Männer im Service. Das ist ungewöhnlich. Warum ist das umgekehrte Modell so viel verbreiteter?

„Keine Ahnung. Bei uns hatten die Frauen, obwohl sie auch keine Haudrauf-Weiber waren, immer irgendwie die Hosen an. Eigentlich war mein Opa der gelernte Koch, aber er hat meiner Oma gesagt: Geh du mal in die Küche! Das war zu der Zeit sehr ungewöhnlich. Warum er das gemacht hat, habe ich ihn leider nicht fragen können, er ist früh verstorben. Aber meine Oma hat diese Rolle angenommen und gute, bodenständige Wirtshausküche gemacht. Meine Mutter war das einzige Kind, da stand es außer Frage, dass sie das weiterführt.“

Sie wollten eigentlich studieren.

„Ja, Lebensmitteltechnologie. Ich hatte aber eine Wartezeit. Also dachte ich, ich könnte dann schon mal etwas lernen. Ich habe im Colombi in Freiburg angefangen. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie hart die Ausbildung wird, hätte ich es wahrscheinlich nicht gemacht. Aber das Motto meiner Mutter und meiner Oma war: was du anfängst, machst du auch zu Ende. So bin ich auch. Meine Mutter ist jetzt 68 und hat immer noch Spaß am Kochen. Man muss sich in diesem Beruf nicht verheizen.“

Sie arbeiten mit fünf Köchinnen und drei Köchen zusammen. Fördert man eher Leute, die einem selbst ähnlich sind?

„Ja, aber das ist unabhängig vom Geschlecht. Mein Souschef ist ein Mann, aber er tickt ähnlich wie ich. Wir sind beide eher ruhig. Harmoniebedürftig. Bei uns ist weniger Rock’n’Roll, Rumschreien und fliegende Pfannen. Wir lachen viel, aber wir sind alle eher zurückhaltendere Menschen. Ich werde lieber unterschätzt und überrasche dann. Man muss nicht mit lautem Krawumm kommen.“

War es kein Krawumm, als Sie in elterlichen Betrieb die Küche übernommen haben und ganz neue Ideen mitbrachten?

„Ja, aber da bin ich auch erstmal mit Krawumm vor die Wand gefahren.“

Wie das?

„Ich hatte zuletzt in München bei Holger Stromberg gearbeitet. Das waren junge Wilde, wir haben ziemlich abgefahrene Sachen gekocht. Wenn man am Anfang seiner beruflichen Karriere steht, dann ist man gut im Kopieren. Man macht erst einmal nach, was man gelernt hat, die eigenständige Handschrift kommt erst im Laufe der Jahre. Ich kam also nach Hause und hatte viel gelernt, klassische französische Küche, dann mediterrane, dann hanseatische Küche, und dann geht man in die Kleinstadt und wird kritisch beäugt: “Oh, aufgeschnittene Jakobsmuscheln, kann man das überhaupt roh essen?” Glasig gegarte Fische – um Gottes willen! Die Teller kamen immer in die Küche zurück. Da war gar kein Vertrauen bei den Besucher*innen! Die wollen lieber, dass ich die Sachen koche, die schon meine Mutter so gut gemacht hatte.“

Wie ist der Turnaround gelungen?

„Es gab mehrere Faktoren. Ich fand es zum Heulen, wenn die Leute die Sachen nicht bestellt haben, mit denen ich mir so viel Mühe gemacht hatte. Das ist natürlich auch wirtschaftlich eine Vollkatastrophe. Meine Mutter riet mir dann, erstmal einen Gang runterzuschalten und den Restaurantbesucher*innen mehr Erklärung zu bieten. Als die ersten Auszeichnungen kamen, war das Vertrauen plötzlich viel größer – da hatten es alle auf einmal schon immer gewusst. Auch wenn ich zwei Wochen zuvor noch an den Tisch hatte kommen und erklären müssen: Ja, das kann man essen!“

Jüngst hat das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Gourmetlokal in der Alten Post in Nagold geschlossen. Grund: Personalmangel. Wie läuft es bei Ihnen?

„Wir sind im Moment zwar super besetzt, aber es ist sehr schwierig, Spülkräfte zu finden. Manchmal steht unsere Kochteam abends nach der Schicht noch an der Spüle und hilft mit, weil es nicht anders geht.“

Worauf läuft die Entwicklung hinaus?

„Auf eine Katastrophe. Es macht einem Angst. Bei uns geht es noch, weil wir so ein familiärer Betrieb sind. Es ist nicht so viel Kommen und Gehen wie in der Großstadt, die Atmosphäre ist menschlich, und die Mieten sind auch bezahlbar. Die Leute bleiben länger. Aber auch wir sind nicht davor gefeit, dass einige nach ein paar Jahren weiterziehen. Im vergangenen Jahr waren wir bis auf ein Mini-Team geschrumpft. Ich hatte vor lauter Stress irgendwann eine Gallenkolik und kam ins Krankenhaus. Der Arzt meinte, ich solle mal weniger arbeiten. Aber ich habe mich nach der zweiten Nacht selbst entlassen. Es wäre mehr Stress gewesen, zu bleiben und die ganze Zeit darüber zu grübeln, was mein Laden gerade macht. Ich wusste aber, dass wir neue Leute bekommen, wir mussten nur bis dahin durchhalten.“

Was ist ihre Strategie?

„Wir müssen Verständnis dafür haben, dass die Leute ein Leben außerhalb der Küche haben. Das ist aber in der Branche nicht selbstverständlich. Oft sind die Leute einfach fertig, wie Maschinen, und sie werden auch so behandelt. Dieses Gefühl müssen wir ihnen von den Schultern nehmen. Es muss menschlich zugehen. Sonst ist es aussichtslos. Dann will keiner mehr in der Sternegastronomie arbeiten.“

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