Foto: Morgan - Flickr – CC BY 2.0

Wenn Mütter ihre Kinder umbringen

Nina lebt in der heilen Welt eines gutverdienenden Großstadtmilieus und ist dort eine von vielen jungen Müttern, bis ein Unglück geschieht. Eine Auseinandersetzung mit dem Debüt-Roman „Lasse“ der Autorin Verena Friederike Hasel, der Anfang August erschienen ist.

In welchem Mütterclub bist du?

Jede von uns könnte Nina sein. Nina ist eine junge Frau in einer Großstadt, sie ist schön, hat ein kompliziertes Liebesleben und studiert mit mittlerer Leidenschaft. Nina ist eine der jungen Mütter, die vielleicht, wäre alles ein wenig anders gekommen, ein Blog über das Muttersein schreiben würde, wenn sie nicht gerade ihren überteuerten Kinderwagen von Café zu Café schiebt. Nina ist immer nur eine Sekunde davon entfernt, zu „uns“ zu gehören, den urbanen Supermüttern. Doch in diesen Club kommt
sie nie, obwohl sie sich abmüht, wie eine Hamsterdame in einem viel zu großen
Laufrad. Sie gehört plötzlich zu einem anderen kleinen Club, mit dem niemand zu tun haben will, den niemand kennen will, in den keine von uns jemals beitreten wird – da sind wir sicher: Nina ist im Club der Kindsmörderinnen. Doch was macht uns so sicher, dass von „uns“ nie eine Mutter diesen Club betreten wird?

„Nina“ ist die Figur, die sich Verena Friederike Hasel ausgedacht hat. Es ist der erste Roman der Berliner Journalistin, für den sie das polarisierende Thema der Kindstötung ausgewählt hat. Bei unserem Treffen hat Verena ihr wenige Monate altes Baby mitgebracht, es ist bereits ihr drittes – und wie die anderen beiden quietschfidel. „Täter sind die spannendsten Figuren“, erzählt sie, „die Pathologie sagt auch immer etwas über die normalen Zustände einer Gesellschaft aus.“ Verena ist studierte Psychologin und hat sich in ihrer journalistischen Arbeit immer wieder mit Tätern beschäftigt – für ihr Buch hat sie den Fokus auf Täterinnen gerichtet.

Die Mütter, die ihre Kinder töten, werden schon durch die Begrifflichkeit dämonisiert. Gemeinhin wird von „Kindsmörderinnen“ gesprochen, dabei sind die Taten in der Regel kein geplanter Mord und werden so auch nicht in der Rechtsprechung gehandhabt; Anklagen lauten häufig auf Totschlag. Wenn ein Kind durch die Hand eines Erwachsenen stirbt, erscheint das jedoch immer besonders grausam.

Unvorstellbar, eigentlich.

2013 sind 153 Kinder durch Gewalt oder Vernachlässigung in Deutschland ums Leben gekommen, weniger als die Hälfte davon wurden vorsätzlich getötet. Die Zahlen sind über die letzten Jahre kontinuierlich gesunken, dennoch geht man von etwa 20 Babys im Säuglingsalter aus, die jedes Jahr sterben. Manche überleben nicht, wenn sie akuter Gewalt ausgesetzt sind und zum Beispiel geschüttelt werden, andere Arten, auf denen Neugeborene zuletzt in Deutschland umgekommen sind, kann ich als Mensch, der selbst vor einigen Monaten ein Baby bekommen hat, nicht einmal aufschreiben, ohne dass es mir die Brust zuschnürt. Geht das überhaupt, diesen Moment nachzuempfinden? Wie hat Verena Hasel das getan?

Gefühle, die alle Eltern kennen

Verena erzählt, dass Eltern aus ihrem Freundeskreis ihr gesagt haben, dass sie sich nicht
vorstellen könnten, das Buch zu lesen. Ich habe es vor drei Wochen mit an die Ostsee genommen, wo ich es in zwei Tagen gelesen habe. Die Sprache, in der Verena ihre Figur Nina sprechen lässt, ist einfach und direkt und zieht den Leser hinein in den Monolog in Ninas Kopf – der im Kern das Buch ausmacht, obwohl bisweilen andere Personen sprechen. Die Erzählung lässt mich benommen zurück, ich fühle mich von „Lasse“ überrumpelt. Ich wusste ja, was an irgendeiner Stelle des Buches passieren wird und ich dachte, ich sei vorbereitet.

„What you know cannot really hurt you“, das ist ein Zitat des Autors Nassim Taleb, das seit ich es einmal gelesen habe, in meinem Kopf feststeckte, weil ich darin Wahrheit entdeckt hatte. Doch es stimmt nicht. Nina ist jede von uns, das beweist Verena Hasel auf vielen Seiten ihres Debüts. Meine Erinnerung an Schwangerschaft und Geburt sind noch frisch, jede Frau erlebt diese Ereignisse anders, doch an vielen Stellen im Buch bin ich Nina und weiß, was sie gerade fühlt, obwohl ich unter ganz anderen Voraussetzungen Mutter geworden bin als die Romanfigur – das macht das Lesen so beklemmend. „Lasse“ schreit viel, mein Baby schläft viel.

Nina studiert und hat kaum Geld, ich bekam ein Elterngeld, von dem ich leben konnte. Nina ist allein, ganz allein, ich habe einen Partner und Freunde. Aber war ich nicht auch manchmal allein? Ich war zumindest allein mit dem ein oder anderen
Gefühl, ich bin es manchmal immer noch.

Vom Mythos als Mutter aufzuwachen

„Wenn das Kind da ist, macht man automatisch alles richtig, es ist wie
angeboren“, bekam ich in der Schwangerschaft immer wieder gesagt. Ich bin froh, dass
mir jetzt immer wieder Frauen erzählen, dass sie erst langsam in ihre neue Rolle hineingewachsen sind – von wegen „angeboren“. Das hört man jedoch erst dann von
ihnen, wenn ihre Kinder schon allein auf die Rutsche klettern und der Beweis,
dass sie das meiste richtig gemacht haben, fest auf zwei Beinen herumrennt.

Alle Eltern kennen dieses Gefühl, da bin ich sicher: Momente, in denen sie glauben vor Erschöpfung umzufallen, diese Sekunde, in denen man sich die Frage stellt: „Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, dieses Kind zu bekommen?“ In diesen Momenten erwische ich mich dabei, mich selbst zensieren zu wollen. Es lieber gar nicht erst zu denken, geschweige denn zu sagen. Ich poste dann lieber ein wahnsinnig niedliches Foto meiner Tochter bei Instagram.

Ein Babylächeln verzaubert doch jeden Schmerz in Glücksgefühle, oder etwa nicht? „Was soll denn jemand sagen, wenn er es nicht als schön empfindet?”, wirft Verena ein. Diese Mütter sind allein, eigentlich mundtot. Nina hat immerhin den Mut, diesen
Gedanken in ein Onlineforum zu schreiben. „hallo liebe netzmamas, kennt ihr das“, schreibt sie, „euer kind schreit und ihr wünscht euch ganz weit weg?“ Später weiß sie, dass sie das lieber nicht getan hätte. Die Antworten der anderen Frauen verstärken ihre Isolation.

Der Druck, eine „gute Mutter“ zu sein

Nina will ein „gutes“ Kind, kein schreiendes. „Ab morgen werde ich mich mustergültig um alles kümmern. (…) Ab morgen werde ich eine rundum gute Mutter sein“, denkt Nina, denn dann werde „Lasse“ so funktionieren, dass auch sein Vater zu den beiden zurückkehren wird, zur perfekten Mutter und dem perfekten Kind. „Ich weiß durch meine drei Kinder, dass es nicht mein Verdienst ist, wenn etwas mit einem Baby einfach ist, meine Kinder waren vom ersten Tag an sehr unterschiedlich, was Trinken und Schlafen angeht, ohne mein Zutun“, erzählt Verena, „ich habe die Arroganz ablegt.“ Das aber steht in keinem der vielen Ratgeber und Online-Foren, die Nina liest.

„Nina ist so verrückt wie wir alle“, antwortet Verena Hasel auf die Frage nach der Verfassung ihrer Figur. Postpartale Depression, gar eine Psychose oder eine andere psychiatrische Erkrankung? Zur Wahrheit gehört, dass diese Erkrankungen sehr häufig sind, mehr als zehn Prozent aller neuen Mütter zeigen depressive Symptome,
die behandlungsbedürftig sein können. Einige von ihnen entwickeln Tötungsgedanken oder sind nicht mehr in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern. Das Risiko einer
Depression steigt, wenn die Frauen keine Unterstützung aus dem sozialen Umfeld erfahren, andere haben ein traumatisches Geburtserlebnis, das sie verarbeiten müssen.

Doch das Mantra „Die Schwangerschaft ist die schönste Zeit“ und die Pflicht, als neue Mutter vor Glück beinahe zu platzen, bereiten eben nicht auf einen Notkaiserschnitt
vor, auf die Angst zu versagen oder die Leere, die sich plötzlich ausbreitet, obwohl im
Bettchen ein properes Kind schläft. Depressionen und Traurigkeit sind eben oft unsichtbar. Aus diesem Grund ist Nina auch so schön und studiert, sagt Verena Hasel: Äußerlichkeiten täuschten über die Tat hinweg, sie unterstreichen, dass es die typische Frau, die ihr Kind tötet, nicht gibt und sie nicht in der Schicht zu finden ist, in der der Stereotyp sie verortet. Bei der Recherche und im Gespräch mit Experten fand die Journalistin vor allem eine Gemeinsamkeit bei den angeklagten Müttern: „Die Frauen wollten eine gute Mutter sein, aber blieben hinter ihren eigenen Erwartungen zurück.“

Familienglück ist immer zerbrechlich

Der Druck auf junge Eltern ist enorm, das sieht auch Verena so. Ihr Buch beschreibt daher vielmehr eine Gesellschaft als ein Einzelschicksal. Eine Gesellschaft, die zwar
gern Frauen hormongeschwängertes Verhalten unterstellt und eine damit einhergehende Irrationalität toleriert, aber kein Gefühlsspektrum erlaubt, wenn es
darum geht, was eine Mutter empfinden darf. Eine Gesellschaft, die keine Erzählungen dafür hat, wie fragil das Bild des jungen Familienglücks ist. Denn niemand ist wirklich auf eine schwere Geburt vorbereitet, die körperliche und seelische Narben zurücklässt,
kaum jemand weiß, dass die erste Zeit mit dem Kind eine Belastungsprobe ist, an der man verzweifeln darf, und wenn eines der vielen Paare, die sich im ersten Jahr nach
der Geburt des Babys trennen, davon erzählen, schauen wir betreten zu Boden, und nicken aufmunternd: „Das schafft ihr schon.“ Denn: Eltern sind ja Übermenschen, ganz besonders die Mütter.

Denn wer sich eingesteht, Hilfe zu benötigen, muss in dem Moment der Schwäche schon stark sein: Mutig genug, um nach Unterstützung zu fragen. Oder seelisch
stark genug, um drei und mehr Monate auf einen Therapieplatz zu warten. Das
gilt aus Kassensicht als „zumutbar“, selbst bei einer depressiven Mutter, die weinend ein Baby im Arm hält, statt selig lächelnd.

Dass Verena Hasel die Wochenbettdepression in ihrem Buch nie nennt und klarstellt, dass sie ihre Figur nicht als psychisch krank erachtet, ist jedoch wichtig für das
Täterinnenprofil, denn psychisch erkrankte Mütter sind für ihre Kinder kein
größeres Risiko als gesunde Mütter und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) warnt davor, erkrankte Eltern als Gefahr für ihre Neugeborenen zu stigmatisieren. Schwangerschaften, bei denen das Risiko für eine Kindstötung erhöht ist, seien vor allem solche, bei denen die Frauen ihre Situation verdrängen und auch das Umfeld nichts mitbekommt, so die Experteneinschätzung.

Bei dem Kindstötungsprozess, den Verena Hasel begleitete, bekam die Frau ihr Kind im
heimischen Badezimmer, während ihr Partner vor dem Fernseher saß. Er sagte
später aus, weder von der Schwangerschaft, noch von Geburt und Tötung etwas
mitbekommen zu haben. Aus juristischer Perspektive traf ihn keine Schuld. „Mir
fehlt in der gesellschaftlichen Debatte besonders die Frage nach den Vätern“,
sagt die Autorin, was nicht als Schuldzuschreibung zu verstehen ist, aber als
Forderung nach einer komplexeren Sicht auf das Phänomen von Müttern, die ihren
Kindern das Leben verwehren.

Ninas Geschichte lädt zur Spurensuche ein in eine Gesellschaft, die Mütter als
Heilige sehen will, zu Frauen, die jeden Stein auf ihrem Weg in die Mutterrolle weglächeln sollen, lautlos und ohne Einsatz von Kraftreserven – und dabei auch untereinander gnadenlos sind und sich mit vorgespieltem Glück selbst und gegenseitig in einer emotionalen Einsamkeit festsetzen. Verena Hasel hat dabei sehr
einfühlsam die vielen Abzweigungen herausgearbeitet, die dieser Weg nehmen
kann: links geht es zur Supermutter, rechts zur Mutter, die für ihr Kind nicht sorgen kann, doch der Mittelweg zur „good enough mother“, der Raum für Ambivalenzen lässt, ist der Weg, den wir immer wieder gemeinsam von dem Gestrüpp befreien müssen, hinter dem er kaum sichtbar ist.

Die Chance, dass Lasse mittlerweile krabbeln könnte, war zu keiner Zeit wirklich schlecht.

Verena Hasels Roman „Lasse“ ist gerade bei Ullstein erschienen. Er hat 208 Seiten, die Hardcover-Version kostet 18 Euro.

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