Foto: Tanja Kernweiss

Mareike Nieberding: „Jung und Alt müssen zu Kompliz*innen werden”

Ist die Jugend parteienverdrossen – oder die Politik jugendverdrossen? Sie müssen sich zusammentun, um etwas zu bewegen, findet die Journalistin und Autorin Mareike Nieberding. Wie kann das gelingen? Ein Gespräch.

„Jugendfeindlichkeit ist eine der hässlichsten Seiten des Erwachsenwerdens”

Nach dem Wahlsieg von Donald Trump hat die Journalistin und Autorin Mareike Nieberding, die Jugendbewegung ‚DEMO‘ gegründet – mit einem Facebook-Post. Seitdem ist einiges passiert, die heute 31-Jährige ist durch das Land gefahren, hat in Schulen mit jungen Leuten über Politik diskutiert, Workshops gegeben und dabei festgestellt: die sind ganz schön politisch. Nur eben nicht so, wie die Erwachsenen es gerne hätten.

Mit ihrem neuen Buch Verwende deine Jugend” hat sie einen politischen Aufruf verfasst, sie nimmt aber nicht nur die Jungen in die Pflicht, sondern ist überzeugt, dass auch die Älteren endlich aktiv werden müssen. Politiker*innen, Erwachsene, Jugendliche – alle zusammen an einem Strang ziehen, um etwas zu bewegen. Nur wie kann das gehen? Und wo hakt es noch?

Die Jugend ist nicht politikverdrossen, schreibst du in deinem neuen Buch „Verwende deine Jugend”. Man müsse ihnen nur zuhören. Warum wird das nicht gemacht? 

„Seitdem es ‚Fridays for Future‘ gibt, wird jungen Menschen wieder viel mehr zugehört. Aber an Greta Thunberg sieht man eben auch sehr gut, dass junge Menschen immer noch nicht ernst genug genommen werden, so viele Vorwürfe und Beleidigungen wie sie sich täglich gefallen lassen muss. Jugendfeindlichkeit ist eine der hässlichsten Seiten des Erwachsenwerdens. Ich glaube, dass zwischen Jung und Alt eine sozial erlernte Kommunikationslücke besteht. Mit Ende 20, Anfang 30, einem abgeschlossenen Studium, mit dem ersten Job fühlt man sich den Erwachsenen schnell näher, als den Jugendlichen. Das ist gefährlich, weil es gegenüber der Jugend zu Ignoranz führen kann. Dabei ist die Jugend eine ganz besondere Phase im Leben, die dringend größere Aufmerksamkeit bekommen sollte, auch von politischer Seite.”

Wer sind überhaupt „die Jungen“ oder „die Jugend“, von denen du schreibst? 

„Das ist natürlich keine homogene Gruppe. Ich habe den Begriff so benutzt, wie er in der sozialwissenschaftlichen Forschung verwendet wird. Also für Menschen zwischen zwölf und 18. Aber Jungsein ist nicht nur eine Frage des Alters, sondern auch der Einstellung. Auch ältere Menschen können im Herzen jung sein und junge Menschen ziemlich altmodisch. Meine Arbeit mit der Jugendbewegung ‚DEMO‘ hat mir gezeigt, dass junge Leute sehr unterschiedlich sind. Je nachdem aus welchem Milieu, aus welchem Elternhaus sie stammen, und wie hoch ihr Bildungsgrad ist. Dadurch variiert auch ihre Interesse an Politik. Was man allerdings sagen kann: Es wächst eine Generation heran, die mehrheitlich hochgebildet ist, der es gut geht, die ihren Eltern nahe steht, und die optimistisch und vorwärtsgewandt in die Zukunft blickt. Diese jungen Menschen wissen, dass sie aufgrund des demografischen Wandels in der Unterzahl sind, bei der letzten Bundestagswahl waren nur 15 Prozent der Wähler*innen unter 30. Auf dem Arbeitsmarkt verschafft ihnen das Vorteile, politisch gesehen ist es ein Nachteil, weil sie viel lauter sein müssen als je zuvor, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.”

Du sagst, die Jungen seien parteienverdrossen und die Politik jugendverdrossen. Die Beziehung zwischen den beiden sei mühsam, wie ein mieses Date. Warum läuft es zwischen ihnen so schlecht? 

„Da sehe ich die Verantwortung bei der Politik und den Parteien. Jugendliche interessieren sich für politische Inhalte. Nur eben nicht so, wie es sich die Politik vorstellt. Nur weil man sich nicht auf Parteitagen rumtreibt, heißt es nicht, dass man unpolitisch ist. Ich habe die jungen Leute als sehr meinungsstark erlebt, vor allem, wenn es um Inhalte geht, die sie selbst betreffen, Themen wie Bildung oder Diskriminierung. Sie wissen nur nicht, wie sie ihre Meinung einbringen können. Da muss die Politik zugänglicher werden. Die Parteien blockieren aber auch den Nachzug derjenigen, die bereits in ihren Jugendorganisationen engagiert sind, indem sie die jungen Leute bis 35 in den Jugendorganisationen halten, wie das zum Beispiel die JU und die Jusos machen. Dabei gäbe es gerade in den Parteien viele Möglichkeiten, das junge Personal besser einzubinden und so auch schneller in Verantwortung zu bekommen: Man müsste die Jungen oben auf den Wahllisten und in den Vorständen platzieren. Sie brauchen Sichtbarkeit in der politischen Debatte, und das ohne permanent kleingeredet zu werden, so wie es in den letzten Jahren mit Kevin Kühnert geschehen ist.”

Inwiefern

„Da äußerte sich im vergangenen Jahr ein gar nicht mehr mal so junger Mann, der damals schon seit über zehn Jahren Politik machte, kritisch gegenüber der Großen Koalition – und erntete von den Kolleg*innen vor allem Beleidigungen und Spott. Da frage ich mich: Warum haben die Alten so viel Angst vor den Jungen? Dabei ist die Jugend von heute vielleicht die beste Jugend, die wir je hatten: freundlich, kompromissbereit, engagiert. Und sie wollen mitgestalten. Darin liegt eine riesige Chance für die Demokratie.”

Du hast Workshops in Schulen gegeben und mit Schüler*innen über Politik diskutiert. Wenn sie Parteien gründen würden, hießen sie „Free Rainbow Party” oder „One Peace Partei”, schreibst du im Buch. Was waren ihre Forderungen?

„Mir ist aufgefallen, dass junge Menschen sich oft mit Gerechtigkeitsfragen beschäftigen. Viele haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. An staatlichen Schulen ging es oft um Bildungsgerechtigkeit, Jugendliche mit Migrationshintergrund berichteten hingegen vor allem von Diskriminierungserfahrungen, alle empörten sich über hohe Nahverkehrspreise und die meisten wollten das Kiffen legalisieren. Das alles sind hochpolitische Themen und trotzdem behaupteten die meisten eingangs, sie würden sich nicht für Politik interessieren. Das passt doch nicht zusammen. Sie interessierten sich für Politik, aber nicht dafür, wer gerade aus dem Parteivorsitz der SPD geflogen war, nicht für Machtkämpfe und Postengeschacher. Für sie war Politik etwas, das ganz nah mit ihrem Leben verbunden ist. Daran müsste die Parteien anknüpfen.”

„Der Druck muss größer werden, damit radikale Umbrüche möglich werden.“

Brauchen „die jungen Leute“ überhaupt noch eine Aufforderung, um Politik zu machen? Sie protestieren doch seit Monaten bei „Fridays for Future” auf der Straße.

„Ich denke schon, weil die Anhänger*innen von „Fridays for Future” nur ein Bruchteil dessen sind, was möglich wäre. Es ist wunderbar, dass eine junge Frau wie Greta Thunberg mit einem Schild auf dem Schoß die Welt verändern kann. Aber was wäre erst möglich, wenn noch mehr Menschen sich engagieren würden? Der Druck muss größer werden, damit radikale Umbrüche möglich werden. Der Protestforscher Dieter Rucht hat herausgefunden, dass die Protestierenden bei ‚Fridays for Future‘ zum Großteil sehr gebildet sind und mindestens aus der Mittelschicht stammen. Ein Drittel der Jugendlichen in Deutschland sind aber nicht so gut gebildet und auch nicht so optimistisch, weil sie existenzielle Ängste haben. Für sie ist der Aufruf genauso gedacht. Und auch für ältere, für meine Generation, denn die Generation Y hat sich politisch ja nicht besonders hervorgetan. ‚Verwende deine Jugend‘ ist zuletzt eine Aufforderung an Parteien, Politiker*innen, an ganz Deutschland und Europa: Macht etwas aus diesen jungen Leuten, die sich engagieren und ihr Leben komplett auf den Kopf stellen, um politisch etwas zu bewegen. Lasst diese Kräfte nicht ungenutzt verpuffen!”

Dein Aufruf gilt also nicht nur den Jungen.

„Genau. Es ist an der Zeit, dass sich freitags nicht nur die 12- bis 25-Jährigen versammeln, sondern auch die 25- bis 70-Jährigen. Der Rest der Gesellschaft, der bis jetzt eher zusieht, sollte selbst aktiv werden. Wirklich was verändern können die Jungen nur, indem sie andere Generationen dazu gewinnen. Die Jugend braucht die Alten, um die nächsten Wahlen zu ihren Gunsten zu entscheiden, damit Parteien an die Macht kommen, die nicht nur bis 2030 planen. Es geht also nicht darum die Generationen gegeneinander auszuspielen: Im Gegenteil, Jung und Alt müssen zu Komplizen werden.”

„Politisch sein zeigt sich oft in den kleinen Momenten des Lebens.”

Im vergangenen Jahr wurdest du wieder zur faulen Optimistin, schreibst du. Das sei auch so gewesen, bevor du „DEMO” gegründet hast. Ist das politische Buch ein neuer Anlauf, bist du jetzt eine fleißige Pessimistin?

„Pessimistin? Nein! Ich möchte bitte nur das ‚faul‘ loswerden, den Optimismus möchte ich mir bewahren. Nach den Bundestagswahlen 2017 war ich einfach erschöpft. Zum Glück hat sich das im vergangenen Jahr wieder verflüchtigt, auch durch ‚Fridays for Future‘. Aber es ist okay, nicht immer hundert Prozent zu geben. Man kann nicht rund um die Uhr politisch aktiv sein. Trotzdem gibt es bestimmte Momente im Leben, in denen man wach sein muss. Niemand ist dazu gezwungen, sich sklavisch einer Partei unterzuordnen und jedes Wochenende für die SPD Würstchen zu braten. Es gibt viele kleine Momente im Alltag, in denen man politisch sein kann – und sollte. Politisches Engagement, das klingt immer nach einer großen Hürde, mir geht es darum, diese zu verkleinern. Mit ‚DEMO‘ haben wir bewiesen: es braucht keine großen Institutionen oder viel Geld. Man kann einfach in Schulen gehen, Workshops geben und mit jungen Leuten über Politik diskutieren. Genauso kann man im Büro etwas sagen, wenn jemand abfällige Bemerkungen über Migrant*innen, Ostdeutsche oder Frauen macht. Politisch sein zeigt sich oft in den kleinen Momenten des Lebens. Aber natürlich brauchen wir auch Leute, die sich in Parteien engagieren, wir leben schließlich in einer Parteiendemokratie und irgendwer wird dieses Land ja einmal führen müssen. Nun ist es Aufgabe der Parteien die Mitarbeit bei sich so gestalten, dass Menschen auch Lust haben, Verantwortung zu übernehmen. Da können sie – gerade im digitalen Bereich – noch vieles besser machen.”

Wir müssten gegen dieses „Sich-zu-wenig-gemeint-fühlen” ankämpfen, schreibst du. Nur wie stellt man das an?

„Man kann seine Empathie schulen, zuhören und neugierig sein, auf die Erfahrung der anderen. Auch ich bin privilegiert, ein weißes Mittelstandskind, die Eltern Akademiker. Das verschafft mir Vorsprünge, die andere nicht haben. Eine meiner Freundinnen hat erst mit acht Deutsch gelernt, weil ihre Eltern aus Afghanistan geflohen sind. Und genau darum geht es mir, sich nicht gegen die Erfahrungen der anderen abzuschotten, sondern sie als Teil der eigenen Geschichte anzunehmen – und sie so mit zu verteidigen.”

„Nicht nur diskutieren, auch zuhören kann ein politischer Akt sein.”

Hast du ein Beispiel?

„Ich habe oft erlebt, dass Ostdeutsche von ihren Diskriminierungserfahrungen berichten und Menschen aus Westdeutschland darauf ablehnend reagieren. Nach dem Motto: Stellt euch mal nicht so an! Vielleicht sollte man in solchen Momenten einfach mal zuhören und sich mit der eigenen Rolle in der Geschichte auseinandersetzen, bevor man zur großen Belehrung ansetzt. Natürlich kann das schmerzhaft sein, es ist aber notwendig. Nicht nur diskutieren, auch zuhören kann ein politischer Akt sein.”

Die Grenze des Sagbaren wird immer weiter verschoben. Macht dir das Angst? Und was bedeutet es für die Demokratie?

„Klar macht mir das Angst. Weil die Bedrohung von Rechts nichts Diffuses mehr ist, kein latentes Raunen: Im deutschen Bundestag sitzt eine Partei, die offen mit Neonazis zusammenarbeitet, der Kasseler Regierungspräsident wurde auf seiner Terrasse von einem Rechtsradikalen erschossen, es gibt in Deutschland Rechtsterrorismus und das nicht erst seit der sogenannten Flüchtlingskrise, man denke nur an die Morde des NSU. Das finde ich sehr besorgniserregend, ich frage mich, warum von staatlicher Seite so wenig dagegen getan wird und fühle mich als Bürgerin ziemlich allein gelassen mit dieser Bedrohung.”

Du willst die Demokratie retten – das klingt nach einem großen Vorhaben. 

„Wir haben in Deutschland momentan noch die luxuriöse Situation, dass die Demokratie nicht gerettet werden muss. In diesem Land gibt es Meinungs- und Pressefreiheit, die Gerichte sind unabhängig. Als ich mit ‚DEMO‘ die Demokratie retten wollte, war das natürlich ein größenwahnsinniges Unterfangen und mit einem Augenzwinkern gemeint. Aber es war uns eben wichtig in der Post-Trump-Depression 2016 deutlich zu machen, dass es nichts bringt, zuhause zu sitzen, CNN zu schauen und sich aufzuregen. Empörung zieht einen nur weiter in die Passivität. Uns ist es mit wenigen Mitteln gelungen, viele Menschen positiv zu beeinflussen, Optimismus und Freude an der politischen Debatte zu verbreiten, und unsere  Demokratie zu feiern. Ich bin vielleicht nur ein kleines Rädchen im riesigen System, aber selbst ein kleines Rädchen kann einen Unterschied machen. Jede Begegnung, jedes Gespräch, jede Diskussion hat uns klüger und hoffnungsvoller gemacht.”

Zum Schluss greifst du den Gedanken der jüdischen Intellektuellen Hannah Arendt auf: Wir alle sind Anfänger*innen. Was bedeutet das für dich und für politisches Engagement? 

„Für mich war dieser Satz ein ganz besonderes Lektüre-Erlebnis. Das hat mich total erleichtert. Ich bin zwar jung, vielleicht manchmal naiv, aber das ist kein Nachteil. Weil jeder Mensch aufs Neue die Chance hat, einen Unterschied zu machen. Der erste Schritt ist der schwierigste, der erste Schritt zur Ortsverbandssitzung, zur Demo oder auch nur zum Kollegen, um sich über seine sexistische Bemerkung zu beschweren, aber nur so kann man etwas verändern. Jeder Mensch ist ein Anfänger, eine Anfängerin und kann deshalb eine Anfang machen – was für eine beflügelnde Einsicht.”

Mareike Nieberding: Verwende deine Jugend Tropen Verlag, 12,00 €

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