Foto: Mirna Funk

Mirna Funk: „Krieg verändert. Krieg hat auch mich verändert“

„Winternähe“ heißt das literarische Debüt von Mirna Funk. Ein Roman über die deutsche Jüdin Lola und ihre Suche nach der eigenen Identität.

Wer bestimmt darüber, wer wir sind?

Wie wächst man in einer Familie auf, in der der Holocaust sich schmerzlich eingebrannt hat? Und wie geht man mit einer Identität um, die ständig angegriffen und in Frage gestellt wird? Genau da setzt Mirna Funk mit ihrem Romandebüt „Winternähe“ an. Ein Buch, das nicht kaltlässt, Antworten gibt und gleichzeitig viele Fragen nach dem eigenen Umgang mit einer Zeit aufwirft, die viele am liebsten vergessen würden.

Mirna, am 23. Juli erscheint dein literarisches Debüt „Winternähe“ über die deutsche Jüdin Lola. Kannst du kurz etwas zum Inhalt erzählen?

„Das ist wahrscheinlich die am meisten gestellte und von Künstlern am meisten gehasste Frage. Es ist gar nicht so einfach, selbst zu erzählen, um was es im eigenen Roman geht, aber ich versuche es einfach. In ‚Winternähe’ reist man mit der Protagonistin Lola von Berlin nach Tel Aviv, von Tel Aviv nach Bangkok, und wieder zurück nach Berlin. Auf dieser Reise, die man als Suche nach Antworten bezeichnen könnte, begegnet Lola nicht nur einer Reihe von Personen, die uns etwas über Antisemitismus, den Israel-Palästina-Konflikt oder Identität erzählen, sondern sie wird während des gesamten Romans von vier weiteren Hauptcharakteren begleitet: ihrer Großmutter, ihrem Großvater, ihrem Vater und ihrem Geliebten Shlomo. Der Roman spielt in der Gegenwart und lässt den Leser den letzten Gaza-Krieg in Israel durchleben, aber er liefert auch eine Menge Rückblenden, die uns mit relevanten Ereignissen des 20. Jahrhunderts konfrontieren. Dazu gehört der Holocaust, aber auch der Mauerfall.“

Lola gehört der dritten Generation nach dem Holocaust an. Wie beeinflusst sie das in ihrer Identitätssuche?

„Richtig, Lolas Generation wird als die dritte Generation bezeichnet. Die erste sind die Überlebenden, die zweite die Kinder und die dritte die Enkel der Überlebenden. Lola ist aber nicht nur dritte, sondern auch zweite Generation. Warum? Weil sie bei ihren Großeltern aufwächst, die den Holocaust überlebt haben. Lola ist also auf der einen Seite mit ihren Großeltern aufgewachsen, die den Holocaust erlebt haben, und lebt auf der anderen Seite in einer Zeit, in der der Holocaust für die meisten verjährt scheint. Das ist eine große Spannung, die sie in sich spürt und die sie versucht zu lösen.“

Die Identitätssuche der Figur ist aber nicht nur durch die Zuschreibungen von nicht-jüdischen Deutschen problembehaftet, sondern auch durch die (orthodoxe) jüdische Community. Kannst du die Problematik beschreiben?

„Lolas Vater ist Jude. Lolas Mutter nicht. Die Frage, wer Jude und kein Jude ist, ist so alt wie das Judentum selbst. Im Judentum gibt es unterschiedliche religiöse Strömungen, manche davon sind klein, manche größer. Die beiden größten sind das orthodoxe Judentum und das Reformjudentum. Generell richtet man sich im Judentum nach der Halacha, das sind die gesammelten Regeln und Gesetze im Judentum. Jedenfalls sollte man das, wenn man die Ausübung seiner Religion ernst nimmt. Die Halacha besagt, nur wenn deine Mutter Jüdin ist, bist du auch Jude. Die Halacha sagt aber auch, wenn eine Frau menstruiert, darf sie dir nicht den Salzstreuer reichen. Für die Orthodoxen ist Lola keine Jüdin. Für die Reformjuden sieht das etwas anders aus. Diese erkennen sogenannte Vaterjuden oft an. In Amerika, wo das Reformjudentum die größte Gemeinde darstellt, ist es zum Beispiel so, dass ein Kind wie Lola in der jüdischen Reformgemeinde aufwachsen würde, eine Bat Mitzwa machen könnte, ohne diskriminiert zu werden. Wichtig ist, dass sie jüdisch erzogen würde. Grundsätzlich war es so, dass in der hebräischen Bibel die Abstammung patriliniar war. Das änderte sich aber vor rund 2000 Jahren. Noch heute gibt es jüdische Strömungen, die die matrilineare Abstammung sogar ablehnen und nur Vaterjuden akzeptieren. Ich weiß, es ist völliger Wahnsinn.“

Das Buch ist als Roman betitelt – aber beinhaltet sicherlich viel, das du selbst erlebt und gefühlt hast. Oder?

„Ich weiß, dass man denkt, dass es sich um ein autobiografisches Werk handelt, und natürlich lässt sich in jedem Werk eines Künstlers Autobiografisches finden, schließlich ist man der Verfasser und damit ein Teil des Werkes. Trotzdem ist dieses Buch ein Roman, und zwar deshalb, weil Lolas Geschichte nicht meine ist. Das Einzige, das zu 100 Prozent autobiografisch ist, sind die antisemitischen Übergriffe, die sie erfährt. Die habe ich alle genau so erlebt. Aber: Weder ist Lolas Familiengeschichte mit meiner vergleichbar, noch hatte ich jemals einen Partner oder Geliebten, der in irgendeiner Hinsicht Shlomo, also Lolas Geliebtem, ähnelt.“

Lässt du diese antisemitische Übergriffe an dich ran? Kann man das überhaupt nicht an sich ranlassen?

„Man kann es überhaupt nicht nicht an sich heranlassen. Das trifft einen im Inneren. Tief und unvermittelt.“

Du bist kürzlich nach Israel ausgewandert. Wann kam der Wunsch in dir auf und fühlst du dich dort mehr zu Hause als in Berlin?

„Ich bin letzten Juli nach Tel Aviv geflogen, so wie ich es seit vielen Jahren im Sommer tue. Mein Ziel war, an meinem Roman weiterzuarbeiten. Das habe ich getan. Während meines Aufenthaltes herrschte Krieg. Krieg verändert. Krieg hat auch mich verändert. Dazu kommt, dass ich kurz vor meinem Rückflug einen Mann traf und wir uns ineinander verliebten. Dann entschied ich zu bleiben. Beide Städte, Berlin und Tel Aviv, sind mein Zuhause.“

Du hast sicherlich Familie in Israel. War dein Leben in Berlin ein Thema?

„Ich habe sogar eine ziemlich große Familie in Tel Aviv. Und diese Familie kommt, wenn man so will, ja ursprünglich aus Berlin. Zumindest sind es die Kinder jener Familienmitglieder, die gezwungen waren, während des Dritten Reiches ihre Heimat zu verlassen. Die meisten davon haben Berlin schon besucht. Ich verstehe jüdische Identität als Schicksalsgemeinschaft.“

Im Buch schreibst du, es gibt zwei Arten von Menschen: Jene, für die der Holocaust lange vorbei ist und jene, die sagen, wir dürfen nicht vergessen. Kann man das so einfach aufteilen?

„Ehrlich gesagt: ja.“

Lola sagt im Buch zu einem Bekannten, dass es für ihn alles weit weg scheint, sie aber mit der Erinnerung an all die verschwundenen, ermordeten Menschen aufgewachsen ist. Ist vielleicht genau das der Grund, warum viele diese grausame Zeit nicht mehr mit sich verbinden können?

„Das größte Problem ist, dass es keine Täter, sondern nur Opfer gibt. Man glaubt hier in Deutschland, dass, nur weil Goebbels und Hitler und Eichmann und Hess weg sind, auch die Täterschaft geklärt wäre. Was ist aber mit den über eine Million Personen, die aktiv am Holocaust mitgewirkt haben? Wo sind die hin? Warum sind die nicht bestraft worden? Warum schweigen die bis heute? Warum beginnt Deutschlands Stunde Null 1945? Warum weiß keiner, was seine Großeltern und Urgroßeltern während des Dritten Reiches gemacht haben? Wenn es also keine direkte familiäre Verbindung zum Holocaust gibt, dann ist der Holocaust natürlich ewig her. De facto ist aber noch nicht mal ein Menschenleben vergangen, seit man zehn Kilometer von Berlin entfernt, nämlich in Sachsenhausen, Juden, Minderheiten und politisch Verfolgte ermordete. Damit will ich sagen, es ist auch eine persönliche Aufgabe, Geschichte lebendig zu machen. Fragen zu stellen, bei seiner Familie, auch wenn es schwer fällt.“

Das wird man ja wohl mal sagen dürfen – ein Satz, den man nicht nur in Bezug auf antisemitische Äußerungen hört. Aber muss jeder alles sagen dürfen?

„Ich finde generell, dass Meinungsäußerung dann angebracht ist, wenn man etwas über das jeweilige Thema, zu dem man etwas sagen möchte, weiß. Das heißt, wenn einer findet, er müsse den israelisch-palästinensischen Konflikt erörtern, dann wäre es zumindest wichtig, schon mal da gewesen zu sein. Konflikte, egal wo, sind komplex. Der Konflikt in Israel ist vermutlich einer der komplexesten. Mir war es wichtig, einen Roman zu schreiben, in dem diese Komplexität ein großes Thema ist und der vermittelt, dass Komplexreduktion in diesem Fall überhaupt nicht angebracht und sogar gefährlich ist.“

Blickt man aktuell nach Frankreich, dann ist die Angst der jüdischen Community vor Übergriffen extrem groß – insbesondere seit den Anschlägen zu Beginn des Jahres. Sind es auch solche Entwicklungen, die dich haben nach Israel auswandern lassen?

„Jedes Land, in dem jüdische Einrichtungen bewacht werden müssen, ist per se kein sicheres Land für Juden. Ich fühle mich in Deutschland aber nicht direkt bedroht. Nach Israel auszuwandern, hatte unterschiedliche Gründe. Einer ist natürlich der latente Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft. Dieser Antisemitismus zeigte sich besonders während des letzten Gaza-Krieges im Sommer 2014.“

Viele sagen bei grenzwertigen Kommentaren zur NS-Zeit: „Ist doch nur ein Witz“. An etwas mit (bitterem) Humor heranzugehen, kann heilsam sein. Aber ist das auch eine Option für den Umgang mit dem Holocaust?

„Wir leben in einer mit Ironie aufgeladenen Zeit und Welt. Alles ist nur noch ironisch. Dem Holocaust und allem, was damit zusammenhängt, sollte allerdings nicht mit Ironie, sondern mit Gefühl und Verständnis begegnet werden. Bitterer Humor ist ja viel mehr Zynismus. Zynismus ist aber auch irgendwie scheiße, weil er Gefühle völlig ausklammert. Gefühle sind aber wichtig und auch notwendig, sonst sind wir alle irgendwann nur noch witzelnde Roboter, denen nichts mehr zu Herzen geht. Eine schreckliche Vorstellung.“

Mirna Funk: Winternähe, 23. Juli, S. Fischer Verlag, 19,99 Euro.

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