Foto: Sabine von Bassewitz

Paula: „Empörung ist nichts Negatives“

Paula Hannemann hat die Petitionsplattform change.org in Deutschland bekannt gemacht. 

Auf zu neuen Abenteuern

„Alle haben gesagt, das ist nicht möglich“, erzählt Paula Hannemann, die in Ostberlin aufgewachsen ist. Doch die Friedliche Revolution führte schließlich zur Öffnung der DDR. Der Fall der Mauer war möglich, er wurde Wirklichkeit. Ihre Kindheit hat Paula ohne Zweifel sehr geprägt, das weiß sie auch, und wie alles, über das sie spricht, klingt eine Dankbarkeit für das Zusammenspiel der Gegebenheiten heraus – aber vor allem Besonnenheit.

Die letzten zwei Jahre hat sie einen stressigen Job gehabt: Als Deutschland-Chefin der Petitionsplattform change.org ist sie zu einem der bekanntesten Gesichter des Onlineaktivismus geworden, und ist so etwas wie die Mutter aller Freizeitaktivisten in Deutschland. Vollzeitaktivistin bei einer internationalen NGO zu sein, setzt weit mehr Engagement als eine 40-Stunden-Tätigkeit voraus; vor allem aber braucht man dafür das Herz, die Ruhe und die Offenheit, die Paula Hannemann ausmachen.

Paula ist Anfang Juli 2014 mitsamt ihres Job umgezogen: Von Berlin nach Vietnam. Als ich sie wenige Tage vor dem Flug in Berlin treffe, ist von Aufregung keine Spur. Zwar übergibt sie die Leitung von Change in Deutschland nun in neue Hände, doch sie wird auch von Hanoi aus für die Organisation als Senior-Strategin tätig sein. „Mein Arbeitgeber geht mit mir“, sagt sie. Sie erzählt, dass sie schon vor dem Gespräch mit ihren Vorgesetzten ein gutes Gefühl hatte, dass sie auch bei einem Umzug nach Asien im Unternehmen bleiben kann. Einer der Unternehmenswerte von Change sei „We offer solutions“, sagt Paula. Ihr Freund bekam ein berufliches Angebot aus Hanoi und für sie war sofort klar, dass sie keine drei Jahre Fernbeziehung wollte. Aber ein neues Abenteuer will sie immer.

Kindheit in der DDR

Wenn die Berlinerin über ihre Arbeit spricht, weiß man, dass sie angekommen ist. Paula hat keinen geradlinigen Lebenslauf, doch in der Rückschau passt ihre heutige Berufung als Organisatorin von großen Petitionen haargenau auf ihren Lebensweg – von Kindesbeinen an. Sie erzählt von einer glücklichen Kindheit in der DDR, wollte sogar Pionierin werden: „Ich wollte das machen, was alle anderen Kinder auch machten.“ Ihre politisch engagierte Mutter hielt wenig davon. „Meine Mutter hat das System gehasst und war unglücklich. Mein Vater war Richter in der DDR, und er war Idealist. Er hat, als die Mauer fiel, noch am Runden Tisch darüber verhandelt, dass die DDR als Staat erhalten bleibt und eine eigene Verfassung bekommt.“ Sie hat schon als Kind beobachten können, wie Ideologien aufeinander prallten, und konnte stets unterschiedliche Perspektiven nachvollziehen. Für ihre heutige Arbeit ist genau das unerlässlich, denn Change bietet unterschiedlichen politischen Anliegen eine Plattform und überlässt die Richtung den Menschen, die eine Petition initiieren.

Paula erinnert sich, dass sie erst nach dem Umzug nach Westberlin 1991 die DDR das erste Mal negativ erlebt hat. Sie war eine Außenseiterin in der Klasse, alles an ihr war falsch: „Du hattest die falschen Klamotten an, du hast die Uhrzeit falsch gesagt, du hattest nicht die richtigen Spielsachen… das hat zu einer unglaublichen Ablehnung geführt.“ Ihre Sensibilisierung für Ungerechtigkeit war also zunächst persönlich, und dann mit dem Blick, der sie die nächsten Jahre durch das bereits vereinte Deutschland führte. Dass Gleichberechtigung etwas ist, für das man kämpfen muss, hat sie schon als Mädchen gelernt. Ihre Mutter hat sich als Stadtsoziologin doppelt durchsetzen müssen: denn sie hatten im Osten studiert und arbeitete in einer Männerdomäne. „Gleichberechtigung war bei uns Zuhause oft Thema“, sagt Paula, „Meine Mutter ist dem Thema damit begegnet, dass sie fast alles typisch Weibliche abgelegt hat und auf Anspielungen auf ihr Geschlecht schlicht nicht reagiert hat. Ich bin da anders, ich spreche es eher an, wenn ich aufgrund meines Geschlechts anders behandelt werde.“

Onlineaktivistin der ersten Stunde

Schon 2006 hätte die damalige Wirtschaftskommunikationsstudentin beinahe politische Protestformen auf das moderne Niveau von heute gehoben. Im Studienprojekt berieten ihr Team und sie Greenpeace und entwarfen für die Umweltschutzorganisation eine Petitionsplattform. „Gelernt haben wir damals das meiste von Markus Beckedahl“, sagt Paula. Beckedahl ist heute einer der bekanntesten Netzaktivisten, gründete damals seine Firma „New Thinking“ und traf sich mit der Studentengruppe, um über Onlineaktivismus zu sprechen. Die Studierenden konnten Greenpeace damals von ihrer Idee nicht überzeugen. Sie landete in der Schublade. Nach dieser Enttäuschung machte Paula vom Aktivismus erst einmal eine Pause und arbeitete für verschiedenen Beratungs- und Werbeagenturen.

Im vergangenen Jahr haben sich über change.org 2,5 Millionen Deutsche an Petitionen beteiligt. „Es müssen noch viel mehr werden“, findet Paula, „für den zivilen Sektor ist das Internet vielleicht das größte Geschenk.“ Change ist nicht die erste zivilgesellschaftliche Organisation, für die Paula arbeitet. Bevor sie 2011 den Aufbau der Organisation in Deutschland übernahm, hat sie den Social-Media-Bereich des WWF geleitet. „Das war wunderbar, wir waren eine kleine Gruppe mit großer Freiheit und alle sehr offen für Vorschläge. Selbst die, die nicht verstanden haben, was wir da im Onlinebereich eigentlich machen“, so erklärt Paula, warum sie beim WWF vieles ausprobieren konnte und für die Organisation neue Möglichkeiten von digitaler Beteiligung, Online-Kampagnen und Fundraising umsetzen konnte.

Soziale Veränderungen brauchen drei Faktoren, erläutert Paula Hannemann: Für den zivilen Sektor sei es zum einen enorm wichtig, Ziele und Vorgehensweise transparent zu machen. Zweitens müsse man mit Engagierten einfach kommunizieren können und die Botschaften verbreiten. Über das Netz werde kollektives Handeln möglich, und viel wichtiger noch: Engagement zum Alltag, das mit wenig Kosten und Zeit verbunden ist, erklärt sie als dritten Punkt. „Es ist ein enormes Privileg dafür bezahlt zu werden, sich zu engagieren. Das Glück haben nicht viele.“

Klick-Aktivismus ist ok

Die Kritik am „Klick-Aktivismus“, der Petitionen als Instrument von geringer Wirkung beschreibt, teilt sie nicht. „Die Deutschen optimieren gern, daher lieben sie Petitionen. Zudem sind sie eines der ältesten Beteiligungsinstrumente“, sagt Paula. Mit Petitionen hätten Menschen in Deutschland wenig Berührungsängste, weil sie ein ideologiefreier Ansatz seien, kostenlos für alle und egal aus welchem politischen Spektrum. Die Menschen, die Petitionen unterzeichneten, seien keine Wutbürger, sie wüssten zunächst nur nicht, was sie sonst tun sollten, wenn sie etwas verändern wollten. Und eine Petition zu unterschreiben sei „immer noch besser, als nichts zu tun.“

Paula findet nicht, dass Empörung etwas Negatives sei, denn sie treibe an, dass politische Themen sich viral verbreiten würden, und auf den ersten Kontakt mit einem Thema folge dann bei vielen Menschen Reflexion. „Sie wollen dann mehr wissen, informieren sich und suchen nach vielen Möglichkeiten, sich für etwas einzusetzen.“ Sie beschreibt die Petition für die Absetzung des ZDF-Moderators Markus Lanz, die Nutzer bei openpetition.de initiierten, als eine Aktion, die von Empörung getrieben war. Sie habe aber gerade nach Einführung der verpflichtenden Haushaltsabgabe gezeigt hat, wie wenig Mitsprachemöglichkeiten es bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten gebe. „Es geht dabei gar nicht darum, den Öffentlich-Rechtlichen zu zeigen, wie man gutes Fernsehen macht – da sitzen Experten, die wissen das natürlich. Und trotzdem: Keine organisierte Mitsprachemöglichkeit für Bürger zu haben, das finde ich krass,“ sagt die 31-Jährige.

Petitionen erzählen Geschichten

Change leistet jedoch mehr, als Nutzern nur eine Plattform für die eigene Petition zur Verfügung zu stellen. Das dreiköpfige Team in Deutschland sucht nach Geschichten, die mit einer Petition ergänzt werden können oder hilft Menschen, die eine Initiative starten wollen, ihr Anliegen als eine Geschichte zu erzählen. „Online-Petitionen verknüpfen Social-Media mit einer Forderung“, erklärt Paula. Ein Ziel zu haben sei wichtig, damit die Petition einen Gesprächsanfang bedeute. Wer darüber genauer nachdenkt, versteht, warum Petitionen in der Vielzahl von Beteiligungsmöglichkeiten zum erfolgreichsten Instrument geworden sind, und warum das eigentliche politische Engagement losgelöst von Parteien und der bundespolitischen Agenda passiert. All die Bürgerdialoge, die Parteien in den letzten Jahren gestartet haben, haben ein Bruchteil des Engagement ausgelöst, das eine durchschnittliche Onlinepetition heute erfährt. Wer etwa die Petitionen von Anke Bastrop für die Stabilisierung des Hebammenwesens unterschrieb, wusste sehr genau, was das Ziel der Petition war, und was mit der Beteiligung geschehen sollte. Die Unterschriften von Petitionen werden, wenn sie eine politische Forderung beinhalten, meist öffentlich an das zuständige Ministerium übergeben. Die Anzahl der Unterschriften baut Druck auf. „Medien lieben Petitionen, weil sie messbar sind“, sagt Paula Hannemann.

Die Hebammenproteste sind vielleicht auch das beste Beispiel, um der Kritik am schnellen Aktivismus zu begegnen. Die erste Petition der Hebammen, die aufgrund steigender Haftpflichtprämien um ihre berufliche Existenz und die freie Wahl des Geburtsortes fürchten, startete 2010 – bevor es Change.org in Deutschland überhaupt gab. Sie war zu diesem Zeitpunkt mit 186.356 Unterstützerinnen und Unterstützern die bislang erfolgreichste Petition beim deutschen Bundestag. Über die Jahre ist so eine Community entstanden, die immer wieder bereit ist, sich zu engagieren und das Anliegen langfristig unterstützt. „Das Netz ist geduldiger, als viele glauben“, sagt Paula, „und es erinnert sich.“

Viele Eltern, die sich im Hebammenprotest engagierten, kontaktierten außerdem ihre Wahlkreisabgeordneten. „Viele davon haben zu mir gesagt: Meine nächste Wahlentscheidung beruht darauf, wie mein Abgeordneter sich im Hebammenprotest  verhalten hat.“ Wie einzelne Abgeordnete sich zu Themen verhalten haben, will Change in Zukunft auch abbilden können. „So könnte man zum Beispiel vor einer Wahl allen Menschen, die sich an der Hebammen-Petition beteiligt haben, einen Wahlprüfstein schicken, der zeigt, wie sich die einzelnen Parteien zum Thema verhalten. Ich glaube, so könnte man unheimlich viele Menschen zur Wahl bringen“, so erklärt Paula einen der Zukunftspläne von Change.

Neuanfang in Hanoi

Wenn Paula jetzt ihre Arbeit für Change von Hanoi aus fortsetzt, wird sie die Geschichten über Menschen in Deutschland, die etwas bewegen möchten, zunächst nur noch aus der Ferne beobachten. Change in Deutschland bekommt dann ein neues Gesicht, Paula wird als Strategin im Hintergrund der Organisation etwa an neuen Finanzierungsmodellen und mobilem Engagement für den afrikanischen Kontinent arbeiten. Doch auch mit dieser Haltung, in der Organisation überall dort wirken zu können, wo sich etwas anstoßen lässt – unabhängig von einer persönlichen Außenwirkung – passt Paula ideal zu der Organisation „Change ist ein Arbeitgeber, der ohne Ego-Menschen auskommt. Es gibt dort sehr viele starke Charaktere, die sehr viel geleistet haben, aber alle prägt eine große Sachorientierung. Ich finde das sehr angenehm”, erzählt sie. Für die Zukunft wünscht sie sich vor allem, ihr Wissen weitergeben zu können. Studiengänge sollte es geben, die all das unterrichten, was sie in den letzten Jahren gelernt habe, erzählt sie: „Ich fände es toll, wenn man Aktivismus studieren könnte, auf Diplom: Diplom-Aktivistin!”

Wenn sie über ihren Abschied aus Deutschland spricht, klingt vor allem wieder ihre Dankbarkeit und Gelassenheit heraus, die sie den Wendungen des Lebens entgegenbringt:„Es ist so ein schönes Geschenk vom Leben, dass ich in die Ferne gehen kann, und abgesichert bin.“ Für drei Jahre soll Vietnam ihre neue Heimat werden, dann wollen ihr Freund und sie zurückkommen – vielleicht: „Man weiß ja nie, wo einen das Leben so hinverschlägt.” In Hanoi wird Paula nur vier Tage die Woche für Change arbeiten, an den freien Tagen will sie Vietnamesisch lernen, „um ankommen zu können, und nicht immer die große Frau als Deutschland zu sein“, sagt sie und lacht, „Und ich möchte singen lernen! Ich singe so gern mit, und es stört mich, dass ich andere damit quälen muss.”

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