Wer sind „wir“ als Gesellschaft, was muss sich verändern und wo wollen wir hin? Das sind Fragen, auf die es mit jeder neuen Perspektive auch neue Antworten gibt. In unserer Kolumne „Reboot the System“ gehen ihnen deshalb verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Themenbereichen nach. Heute mit: Merve Kayikci
Wie viel schmeiße ich eigentlich weg?
Wir sind fast acht Milliarden Menschen auf der Welt. Jährlich werden vier Milliarden Tonnen Lebensmittel produziert. Fast die Hälfte davon wird nicht verbraucht. Und auf der anderen Seite leiden über 800 Millionen Menschen täglich unter Hunger. Das sind mehr Menschen als alle Europäer*innen zusammen und es sind 40 Millionen mehr als vor fünf Jahren.
Jede Privatperson in Deutschland wirft dann noch allein jährlich sein*ihr Eigengewicht an Lebensmitteln weg. Auch ich? Eigentlich halte ich mich für einen Menschen, der sehr wenig von dem kauft, was er nicht braucht und sehr wenig wegwirft.
Aber was ist mit der Milch, die ich geöffnet und nur für einen Kaffee benutzt habe? Wie soll eine alleinstehende, Vollzeit arbeitende Person überhaupt eine 250-Gramm-Packung Butter aufbrauchen? Oder eine Packung Chips, wenn sie kein PMS hat? Und dann erst, wenn man auswärts isst – jede*r von uns hat es schon mal gesagt: Ich kann das nicht mehr essen.
Meine Mutter ist in der Türkei aufgewachsen und nicht der typische Gutmensch, der wegen eines gesellschaftlichen Trends oder für die Umwelt bewusst einkaufen würde. Sie tut es aus anderen Gründen: „israf“ – das muslimische Wort für Verschwendung und in muslimischen Familien fast synonym für „haram“ – verboten. Unser Prophet war gegen Lebensmittelverschwendung: Es wird überliefert, dass er jeden Krümel aufaß, damit nichts wegkommt. Auf Türkisch gibt es sogar eine Redewendung dafür, wenn man seinem Beispiel folgt und „sünnetlemek“ macht.
Ohne Kühlschrank und Supermarkt geht es auch
Meine Mutter ist also sehr fromm und kauft wirklich so ein, dass nichts weggeworfen wird. In ihrem Sieben-Personen-Haushalt wird der Biomüll zwar täglich geleert, ist aber nie voll. Außerdem ist sie in Verhältnissen aufgewachsen, in denen sich Kinder vorstellten, im Paradies gäbe es Bananen. Schokolade und andere Süßigkeiten kannte sie nur von Festen und gegessen wurde das, was es draußen gibt: Also eher Reis und Hülsenfrüchte, die auf den Feldern im Ort angebaut wurden, aber sicher keine importierten Lebensmittel aus anderen Ländern. Wenn etwas auf den Tisch kommt, das nicht gerade aktuell im Umkreis von 100 Kilometern wächst oder im Wald herumhüpft, dann hat es jemand im Umkreis von 100 Kilometern haltbar gemacht – mit Salz, Zucker oder durch die Sonne.
Im Haus meiner Uroma im Dorf gibt es bis heute weder einen Kühlschrank, noch einen Supermarkt. Dafür einen Berg getrocknete Maiskolben, Ketten mit ausgehöhlten und getrockneten Auberginen, Paprika und Zucchini, übersalzige Butter, sehr viele Gläser mit eingelegtem Gemüse und Stoffsäcke mit Bohnen oder Getreide, die von der Decke hängen, damit die Mäuse nicht rankommen.
Einmal in der Woche kommt ein weißer Van aus der nächsten Stadt vorbei. Wenn man ihn nicht verpasst, kann man bei ihm Gemüse kaufen, Schokolade mit Pistazien, Gazoz, Salz, Öl – fast alles, was man auch in einem türkischen Supermarkt in Deutschland finden würde. Man kann alles bekommen, aber eben nicht zu jeder Zeit.
Jede Jahreszeit hat ihr Essen
Jedes Mal, wenn wir in meiner Kindheit dort waren, war gerade Erntezeit für Mais – und der landete dann natürlich auf dem Tisch. Was reif war, wurde selbstverständlich gegessen und damit Teil meiner Erinnerungen. Mit ist erst später klar geworden, dass meine Oma selbst nicht jeden Tag im Jahr Mais isst, wenn wir nicht da sind.
Wenn man so lebt und isst, spürt man sehr genau, wo man ist. Man schmeckt es. Und vor allem spürt und schmeckt man, welche Zeit gerade ist. Man kann sich anhand der Lebensmittel, die man gegessen hat, daran erinnern, wann was in der Vergangenheit passiert ist. Es fühlt sich sehr rein an, so zu leben, sehr richtig und sehr nah an unserer Welt. Meine Mutter konnte sich etwas von dieser Art, sich zu ernähren, bewahren und mit nach Deutschland nehmen: indem sie hier Lebensmittel in ihrem Garten anbaut, in der Natur sammelt und in ihrer Küche konserviert. Und indem sie einfach nie etwas wegwirft, was noch essbar ist: Essen hat nämlich einen Wert für sie, den man mit Geld nicht bezahlen kann.
Es ist ein Teil ihres Lebens und ein Teil ihrer Umgebung. Ende Februar ist zum Beispiel Bärlauchzeit in Deutschland. Bärlauchpesto ist etwas, das es in der Türkei nicht gibt, aber hier im Wald Bärlauch zu sammeln und es zu verarbeiten, ist für meine Mutter zum Ritual geworden und etwas, das ihre alte Heimat mit ihrer neuen verbindet. Dass das Pesto meiner Mutter mit Bucheckern – gesammelt im Herbst auf dem Schulhof im Ort – statt mit Pinienkernen wahrscheinlich einen kleineren oder gar keinen ökologischen Fußabdruck hat, im Gegensatz zu dem Basilikumpesto aus dem Supermarkt, ist ein positiver Nebeneffekt, über den sie nicht nachdenkt.
Aber wir können nachdenken darüber, wenn wir das nächste Mal ein Glas Supermarktpesto in der Hand halten. Vielleicht öfter die Augen aufmachen, auf die Nase hören, in die Natur gehen – und wenn es auch nur der Spielplatz mit dem Apfelbaum in der Großstadt ist – und zugreifen, wenn unsere Welt uns Nahrung vor die Füße legt. Es ist zumindest Essen, das nicht hin- und herverschifft und zehnmal in Plastik verhüllt wurde.
Und vielleicht erinnert es uns ja auch daran, dass Lebensmittel nicht von einem 3D-Drucker gedruckt und auch nicht von einem unsichtbaren Zaubermonster ausgekotzt werden. Lebensmittel bewusster wahrzunehmen und zu nutzen, kann helfen, eine andere Haltung zu Lebensmitteln zu entwickeln: Nahrungsmittel sind kein Wegwerfprodukt, sie benötigen Zeit, um zu reifen, ihre Produktion verbraucht Ressourcen und sie sollten nicht immer verfügbar sein, nur weil man Lust darauf hat.
Was wächst um dich herum?
Der dänische Sternekoch René Redzepi stammt wie meine Mutter aus einem kleinen Dorf: Er ist in Mazedonien ohne Supermärkte aufgewachsen und hat die Philosophie der gefundenen Lebensmittel in sein Restaurant Noma integriert, das viermal als das beste Restaurant der Welt ausgezeichnet wurde. In seiner Küche in Kopenhagen verwendet er nur Zutaten aus dem Norden, aus Skandinavien, und nur Zutaten, die zu der Zeit, in der sie serviert werden, an dem Ort, wo das Essen serviert wird, verfügbar sind. Dadurch ändert sich die Karte ständig und man kann nicht das ganze Jahr über sein Leibgericht bestellen. Aber es macht auch für die Konsument*innen selbst einen Unterschied, ob der Koriander in der Suppe aus Neuseeland nach Europa kam, oder 40 Kilometer vom Restaurant entfernt an einem Stand wuchs: Man zerstört damit nicht seine eigene Welt.
Also versuch doch mal, deine eigene Küche zu einer Sterneküche zu machen, indem du die Noma-Philosophie anwendest. Was wächst und lebt um dich herum? Und vor allem: wann?
„Reboot the System“ ist eine Kolumne von verschiedenen Autor*innen im Wechsel. Mit dabei: Rebecca Maskos (inklusive Gesellschaft), Sara Hassan (Sexismus), Josephine Apraku (Diskriminierungskritik), Elina Penner (Familienthemen), Natalie Grams (Gesundheit / Homöopathie) und Merve Kayikci (Lebensmittelindustrie).