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BGH-Urteil zur „Kundin“: Seit wann ist „Haben wir doch schon immer so gemacht“ ein gutes Argument?

Die Sparkasse darf laut Urteil des Bundesgerichtshofs ihre Kundinnen weiter als Kunden ansprechen, das hat wahrscheinlich jeder mittlerweile mitbekommen. Wir fragen uns eher fassungslos: Was zur Hölle ist so schwer daran, ein paar Vordrucke zeitgemäß anzupassen?

Wir sind alle Kunden!

Gestern hat der Bundesgerichtshof die Klage der 80-jährigen Marlies Krämer abgewiesen, die in Formularen und Briefen ihrer Sparkasse nicht weiterhin als „Kunde“, sondern als „Kundin“ angesprochen werden möchte; diese Nachricht hat es bis in die Tagesschau geschafft und seit gestern in den sozialen Medien unglaubliche Resonanz ausgelöst. Der Tenor dieser Resonanz, kurz zusammengefasst und wenig überraschend: Unzählige Frauen, und Männer, die der Meinung sind, dass der Bundesgerichtshof eine Chance verpasst hat, dem gesellschaftlichen Wandel Tribut zu zollen.

Dazu natürlich die üblichen misogynen Trolle. Und Leute, die argumentieren, man solle doch bitte aufhören, sich in Sachen Feminismus an solchem Kleinkram aufzuhängen, die wahren Schlachten des Feminismus würden an anderer Stelle geschlagen, Stichworte Gender-Pay-Gap, zu wenig Kita-Plätze, gerechte Aufteilung der Care-Arbeit, gerechte Rente, die Liste könnte auch ich ewig fortführen, aber: Natürlich ist doch uns allen klar, dass es noch wichtiger ist, mit Mitte Siebzig mit mehr als 300 Euro im Monat leben zu können, als auf meinem Kontoauszug, der mir meine 300 Euro Rente ausweist, als Kundin angesprochen zu werden!

Themen werden gegeneinander ausgespielt

Aber was ist das für eine Argumentation, die diese Themen gegeneinander ausspielt? Wenn das Ganze ein derart nebensächliches Thema im Kontext der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist: Warum muss es dann überhaupt so weit kommen? Warum muss eine 80-Jährige bis zum Bundesverfassungsgericht gehen, das hat sie nämlich jetzt vor, um Recht zu bekommen? Sprache prägt eine Gesellschaft und die Menschen, die diese Gesellschaft formen, das ist ein sehr alter Hut. Man fragt sich, was für Leute in der PR-Abteilung der Sparkasse sitzen, die die Zeichen der Zeit nicht zu deuten wissen und das Thema juristisch bis zum Äußersten aussitzen, anstatt einfach ihre Sachbearbeiterinnen anzuweisen, ein paar Vordrucke zu ändern?

Bis 1962, das wird ja gerne immer wieder angemerkt, wenn es um die Errungenschaften der Emanzipation geht, durften Frauen ohne die Zustimmung ihres Ehemannes kein eigenes Bankkonto eröffnen; mehr als fünfzig Jahre und viele Jahrzehnte Kampf um Gleichberechtigung später sollte eigentlich nachvollziehbar sein, dass „Liebe Kundin, lieber Kunde“ (oder auch umgekehrt) als Anrede zeitgemäßer klingt als „Lieber Kunde“; klar, es ist ein bisschen länger, aber ich bin mir sicher, man könnte auf den meistens sehr ausführlichen Formularen von Banken und Sparkassen irgendwas anderes dafür weglassen, sollte es tatsächlich um elf Buchstaben mehr oder weniger gehen.

Haben wir immer so gemacht!

Der Bundesgerichtshof hat schlicht und einfach mit der Macht der sprachlichen Gewohnheit argumentiert: Haben wir doch schon immer so gemacht, gibt also keinen Grund für Frauen, jetzt plötzlich beleidigt zu sein. Ich bin sehr froh, dass „haben wir doch schon immer so gemacht“ heute bei vielen anderen Themen nicht mehr verfängt, man stelle sich vor, wie unsere Gesellschaft sonst aussähe.

Was ebenso nicht verfängt, ist das Argument, dass ja dann (sollte es die „Kundin“ in die Bankenkorrespondenz schaffen) jeder daherkommen könnte und eine eigene Anrede verlangen könnte. Man stelle sich vor, die Sparkasse würde eigens ihre Formulare ändern, und dann taucht bald dieses dritte Geschlecht auf, welches das Bundesverfassungsgericht neulich durchgewunken hat, und will auch eine eigene Anrede auf den Sparkassen-Formularen? Schon wieder mehr Papierkram!

Wird man benachteiligt, wenn man nicht vorkommt?

Leute mit juristischem Fachverstand haben in ihren Kommentaren zum gestrigen Urteil festgestellt, es bestehe durchaus noch die Möglichkeit, dass Marlies Krämer zu Kundin werden könnte: Der Senat des Bundesgerichtshofs hatte nämlich durchaus die Argumentation der Klägerin nachvollziehen können, in einer Pressemitteilung des Senats hieß es, dass rein männliche Anreden „vor dem Hintergrund der seit den Siebzigerjahren diskutierten Frage der Benachteiligung von Frauen durch Sprachsystem sowie Sprachgebrauch als benachteiligend kritisiert und teilweise nicht mehr so selbstverständlich als verallgemeinernd empfunden werden, wie dies noch in der Vergangenheit der Fall gewesen sein mag“ – bei der mündlichen Verkündigung des Urteils hatte der Senatsvorsitzende diesen Gedanken aber unterschlagen und auf den Sprachgebrauch des Gesetzgebers verwiesen, da sei nämlich auch nur die männliche Form üblich (Stichwort „Ehegattensplitting“).

Die Schlussfolgerung des Senats: Wenn der Gesetzgeber das so mache, müsse das für Banken auch OK sein. Aber das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bindet nicht den Gesetzgeber, aber durchaus die am Wirtschaftsleben Beteiligten, also zum Beispiel Banken und Sparkassen. Der Senat des Bundesgerichtshofs erkannte in der männlichen Anrede für alle allerdings keinen Nachteil nach dem AGG – das kann man aber natürlich auch ganz anders sehen: Männer werden korrekt angesprochen, Frauen nicht.

Übrigens: Mir ist durchaus klar, dass es nicht immer einfach ist, geschlechtergerechte Sprache und die Schönheit von Texten in Einklang zu bringen. Ich persönlich bin überhaupt keine Feindin des generischen Maskulinums in literarischen und journalistischen Texten, wer EDITION F regelmäßig liest, die und der weiß, dass auch wir durchaus damit arbeiten und selbst noch darüber diskutieren, wie die beste Lösung für uns aussehen könnte. Aber im Fall von Marlies Krämer geht es um die Anrede in Formularen und Briefen ihrer Sparkasse, das Ästhetik-Argument darf hier also aus meiner Sicht vernachlässigt werden.

Weiter geht‘s beim Bundesverfassungsgericht

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, der sich voraussichtlich mit Krämers Klage beschäftigen wird, hat vor einigen Monaten entschieden, dass der Gesetzgeber in Dokumenten wie Reisepässen und Geburtsurkunden neben männlich und weiblich künftig ein drittes, neutrales Geschlecht vorsehen muss. Die Chancen stehen also nicht so schlecht, dass die Sparkasse demnächst ihre Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter doch noch anweisen muss, die Formulare zu ändern.

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