Wut gilt als unweiblich, zerstörerisch und egoistisch. Das ist falsch, sagt Ciani-Sophia Hoeder. Im Interview erklärt die Autorin, weshalb wir Wut neu betrachten müssen und wie wir die Emotion für strukturelle Veränderungen nutzen können.
Hysterisch, zickig, unprofessionell, schwierig, unzurechnungsfähig – das sind nur einige der Attribute, die Frauen zugeschrieben werden, wenn sie wütend auftreten. In ihrem Buch „Wut und Böse“ beschreibt die Journalistin, Gründerin und Autorin Ciani-Sophia Hoeder, weshalb weiblich sozialisierte Personen und marginalisierte Gruppen in unserer Gesellschaft kaum Raum bekommen, ihre Wut zu äußern.
Sie erklärt, dass Wut in Theorie und Wissenschaft geschlechtsneutral ist, im Alltag aber gegendert wird, obwohl alle Menschen Wut verspüren. Dieses Gefühl ausdrücken zu können, ohne gesellschaftlich abgestraft zu werden, ist jedoch abhängig von ungleich verteilten Privilegien. Das macht die Emotion zu einem Politikum. Denn: Wer wütend sein darf, hat Macht. „Und Macht ist ein perfides System: Nur wer sie hat, kann die Strukturen verändern“, sagt Ciani-Sophia Hoeder.
Im Interview beschreibt die Autorin, weshalb Wut bei Menschen so unterschiedlich bewertet wird, warum weiblich sozialisierten Personen bei Wut eher die Tränen kommen, welche transformative Kraft in der Emotion steckt und warum Wut für sie heute sogar der Inbegriff von Selbstliebe ist.
Als ich dich für das Interview angefragt habe, war deine Rückmeldung: „Lass uns über Wut reden.“ Für mich war es ungewohnt, diese negativ konnotierte Emotion in einem enthusiastischen Ausruf zu lesen. Warum hat Wut zu Unrecht so einen schlechten Ruf?
(Lacht.) „Yeah, lass uns über Wut reden. Diese Emotion hat so ein schlechtes Image, weil sie stört. Wut ist ein Alarmsignal, das mir sagt: hier stimmt etwas nicht. Wut über Ungerechtigkeiten erfordert, dass wir Gespräche über bestehende Strukturen führen. Das ist für die Menschen, die gewohnte Abläufe beibehalten wollen, ein Störfaktor. Die haben keinen Bock, komplizierte Probleme zu lösen, teilweise auch, weil sie von den bestehenden Strukturen profitieren.
„Wut hat so ein schlechtes Image, weil sie stört und Auseinandersetzung fordert.“
Um strukturellen Wandel herbeizuführen, braucht es Wut, ein zuckersüßes Lächeln reicht nicht. Wir brauchen Leute, die auf den Tisch hauen und Konsequenzen ziehen. Dieses Bedürfnis, unangenehme Dinge wegzudrücken und ,wegzumeditieren‘ und die damit oft verbundene toxische Positivität sind Teil eines Kontrollmechanismus, der den Status Quo aufrechterhalten soll. Ich nenne im Buch viele individuelle Beispiele, die exemplarisch für das Thema Wut sind und Alltagsmechanismen sichtbar machen, aber eigentlich geht es mir darum, dass wir bestehende Strukturen hinterfragen – die übrigens auch vorgeben, wie wir wütend sind und wie wir diese Wut äußern.“
Auf dem Buchrücken von „Wut und Böse“ werden Leser*innen gefragt, wann sie zuletzt richtig wütend waren. Diese Frage gebe ich an dich weiter: Was hat dich in letzter Zeit so richtig wütend gemacht?
„Die Frankfurter Buchmesse (FBM) und ihre Nicht-Haltung. Ich habe meine Teilnahme an der FBM am Tag meiner Buchpremiere abgesagt und gemeinsam mit anderen Autor*innen ein Solidaritäts-Statement für Jasmina Kuhnke veröffentlicht, die nicht teilnehmen konnte, da ein rechtsradikaler Verlag vor Ort war. Mich macht es wütend, dass es soweit kommen musste, dass Kuhnke, die als Schwarze Autorin einer Gruppe angehört, die in der Branche ohnehin unterrepräsentiert ist, absagen musste, weil sie um ihr Leben fürchtet.
Das scheint den Verantwortlichen egal zu sein. Sie halten weiter am Argument fest, im Interesse der Meinungsfreiheit niemanden ausschließen zu wollen. Dabei geht es hier um so viel mehr als ,Meinung‘. Eine der beiden Gruppen ist von Gewalt betroffen, während die andere Gruppe Gewalt zufügt. Es ist leicht, die Augen zu verschließen, wenn man selbst nicht von Rassismus betroffen ist. Für Schwarze Autor*innen hat die Präsenz rechtsradikaler Verleger jedoch eine ganz andere Bedeutung, wir können das nicht ignorieren. Hinzu kommt, dass wir nur durch den Instagram-Post der Aktivistin Hami Nguyen erfahren haben, dass Rechtsradikale bei der FBM vertreten sind.“
Du hast dich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie aus Wut Veränderung entstehen kann. Das passt zu der Solidaritätsaktion, die du gemeinsam mit anderen Autor*innen gestartet hast.
„Die ganze Angelegenheit ist ein gutes Beispiel dafür, was kollektive Wut im Gegensatz zu individueller Wut bewirken kann. Ich bin eigentlich ein sehr fröhlicher Mensch, aber in Momenten, in denen Menschen die Augen vor Rassismus und Rechtsradikalität verschließen und das Argument der Meinungsfreiheit anführen, brodelt es in mir. Es tut gut, diese Wut wie bei der FBM zu nutzen und andere zu mobilisieren.
Am Ende des Tages war ich allerdings sehr erschöpft und froh, dass die Solidaritätsaktion ein Eigenleben entwickelt und andere Menschen dazu bewegt hat, aktiv zu werden, indem sie sich solidarisiert haben. Das ist ein Paradebeispiel dafür, wie Wut Aufwind geben kann, um Veränderung herbeizuführen.“
Du schreibst in deinem Buch, dass wir Wut oft mit Aggression verwechseln.
„Diese Vermischung ist problematisch. Die vereinfachte Darstellung von Wut als aggressiv und zerstörerisch begegnet mir immer wieder. Wir tragen alle zu dem schlechten Wut-Image bei, weil Wissen darüber fehlt, wie sich die Emotion manifestieren kann. Die Leute denken direkt an gewalttätige Reaktionen, an Menschen, die Dinge durch die Gegend schmeißen, was nun einmal der medialen Darstellung von Wut entspricht. Ruhige Wut, dieses *Grmpf*, ist nicht so plakativ inszenierbar. Das Narrativ ist: Es muss knallen. Darstellungen wie die vom Hulk führen dazu, dass Wut als Synonym für Zerstörung verstanden wird.
Viel zu oft wird die aus Wut generierte Handlung mit der Emotion selbst vermischt, aber das müssen wir unterscheiden. Wut ist das Gefühl, das hochkommt, wenn was Ungerechtes passiert. Wenn ich hungrig bin, esse ich, wenn ich durstig bin, trinke ich und wenn ich Ungerechtigkeit erfahre, handle ich. Diese von Wut abgeleitete Reaktion muss aber nicht gewaltvoll sein. Ich habe nicht viel Kontrolle darüber, ob ich Wut empfinde, aber wie ich aus Wut heraus handle, kann ich kontrollieren.“
Ich frage mich, ob wir Wut so negativ betrachten, weil wir nicht wirklich gelernt haben, wie wir diese Emotion in eine Handlung überführen können, was wir mit dieser Wut machen können, um nicht destruktiv zu sein …
„Für das Buch habe ich mit einem Psychologen gesprochen, bei dem ich ebenfalls äußerte, dass Wut destruktiv sei. Er erklärte dann, dass Wut sich unterschiedlich bewerten lässt und nicht per se konstruktiv oder destruktiv ist. Wut wird erst in dem Moment destruktiv, wenn ich über eine Sache wütend bin, die ich nicht ändern kann. Das ist für mich als Individuum eine destruktive Situation. Wut kann auch konstruktiv sein. Ein Beispiel: Wenn ich im Supermarkt meinen Lieblingsjogurt zu meinen Einkäufen lege und eine andere Person diesen Jogurt aus meinem Korb klaut, werde ich wütend. Gehe ich dann auf diese Person zu und fordere meinen Jogurt zurück, habe ich aus der Wut eine Handlung abgeleitet. Wenn ich den Jogurt zurückkriege und merke, dass ich meine Wut wirksam nutzen konnte, erfüllt sie ein konstruktives Ziel.“
Einen Joghurt zurückzufordern, ist aber einfacher, als das Patriarchat zu zerschlagen …
„Wenn wir uns größere Kontexte anschauen wie Rassismus oder Sexismus, wo der Kampf gegen Ungerechtigkeiten hunderte Jahre dauert und Wut nicht sofort die gewünschte Veränderung herbeiführt, ist es enorm wichtig, Wirksamkeit verspüren zu können, damit die Wut auf mich nicht destruktiv wirkt. Wut zu verspüren, aber nichts gegen die Ursache tun zu können, macht müde. Rassistische, queerfeindliche, ableistische oder trans-feindliche Strukturen sind so immanent, systemisch und allgegenwärtig, dass es normal ist, beim Gedanken daran, wie weit der Weg noch ist, Erschöpfung zu empfinden. Dieser Müdigkeit können wir begegnen, indem wir uns fragen, wie wir Wut nutzen können.“
Wie können wir Wut wirksam nutzen?
„Ich appelliere immer wieder an die kollektive Wut, wie sie im Falle der FBM zum Tragen kam. Am Anfang war Wut – und daraus haben wir Handlungen abgeleitet: die Absagen, die mediale Aufmerksamkeit, die Solidarität, der Diskurs – entstanden ist eine kleine Bewegung, wodurch wir Wirksamkeit verspüren konnten.
Die Lösung, um das Patriarchat zu zerschlagen, ist leider nicht, dass einzelne Frauen nur noch wütend sind beziehungsweise wütend auftreten. Wir wissen leider, dass Frauen, wenn sie ihre Wut als Einzelperson in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen, als irrational, unprofessionell und charakterschwach abgetan werden. Statt auf Inhaltliches wird der Fokus auf Persönliches gelegt. Wenn wir in der großen Gruppe auftreten, sind wir weniger angreifbar.
„Wut im Kollektiv ist eine krass gute Kraft – und wenn wir uns gegenseitig unterstützen, entsteht Wirksamkeit.“
Wut im Kollektiv ist eine krass gute Kraft – und wenn wir uns gegenseitig unterstützen können, entsteht Wirksamkeit. Mein Appell: Wenn ich merke, dass ich über etwas wütend bin, ist es wichtig, dieses Gefühl nicht zu unterdrücken, sondern zum Ausdruck zu bringen und einen Weg zu finden, wie ich die Wut konstruktiv nutzen kann – konstruktiv für mich, aber auch für die Gesellschaft. Dabei ist es wichtig zu schauen, wie viele Ressourcen ich habe und wie ich damit haushalten kann.
Es gibt verschiedene Wege, Wut zu kanalisieren, indem man eine Petition startet, ein Magazin gründet, oder halt auch sehr klischeehaft: indem man zum Boxen geht. Ziel sollte sein, dass wir endlich anerkennen, dass Wut nicht unweiblich ist – und auch auf gar keinen Fall egoistisch. Wut ist eine evolutionär-biologisch wichtige Emotion, die eine Reaktion erfordert.“
Was ich bei mir selbst und anderen weiblich sozialisierten Personen beobachte, ist dieses Phänomen, dass sich Wutgefühle in Tränen äußern. Ist das unser Weg, die Wut rauszulassen, ohne als zickig dargestellt zu werden?
„Wuttränen! Dieses Gefühl von ,Ich bin so wütend, ich weiß nicht was machen, also heule ich erstmal‘, kenne ich gut. Die Überforderung, wenn die Wut einen überwältigt, rührt daher, dass wir uns diese Emotion möglichst nicht anmerken lassen wollen, weil wir wissen, dass wir sonst nicht ernst genommen werden. Wir müssen so sachlich wie nur möglich argumentieren. Wenn das nicht gelingt, heißt es sofort: ,Du bist viel zu emotional.‘ Da entsteht total viel Druck, den wir durch Weinen rauslassen können.
„Männer können mit traurigen Frauen häufig besser umgehen als mit wütenden. Bei Trauer macht man sich klein und wirkt verletzlich, das ist süßer und weniger bedrohlich als Wut.“
Zudem ist Weinen statt Wüten eine sozialisierte Wechselwirkung: Wir lernen früh, dass Trauer weiblich ist. Dieses Bild wird uns auch medial vermittelt. Männer können mit traurigen Frauen häufig besser umgehen als mit wütenden. Bei Trauer macht man sich klein und wirkt verletzlich, das ist süßer und weniger bedrohlich als Wut. Außerdem fehlt uns ein Übungsraum, in dem wir erfahren können, wie Wut schmeckt.“
Du hast eben Attribute aufgezählt, die Frauen zugeschrieben werden, wenn sie wütend sind. Warum werden wir mit unserer Wut so anders wahrgenommen und bewertet als Männer?
„Grob zusammengefasst und platt ausgedrückt: Dahinter steckt die Agenda, Frauen daran zu hindern, auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen und sie somit in den bestehenden Strukturen zu verhaften. Frauen sind immer noch diejenigen in unserer Gesellschaft, die die meiste Care-Arbeit übernehmen, sei es in klassischen ,Frauenberufen‘ wie Erzieherin oder im Privaten, wo auch lohnarbeitende Frauen jeden Tag viele Stunden Care- und Fürsorge-Arbeit leisten. Wir haben eine gesellschaftliche Struktur, die abhängig davon ist, dass Frauen fürsorglich sind und unbezahlte Care-Arbeit leisten. Würden die alle sagen ,mache ich nicht mehr‘, würde das ökonomische System zusammenbrechen. Meine Kollegin Ann-Kristin Tlusty hat in ihrem Buch analysiert, wie wichtig es für unser gesellschaftliches System ist, dass Frauen lieb und freundlich bleiben, damit man sie weiter strukturell ausnutzen kann.“
Fällt es weiblich sozialisierten Personen deshalb oft so schwer, Wut zu empfinden und zu verbalisieren?
„Ja. Uns fehlen weibliche Vorbilder, die öffentlich wütend waren und mit dieser Emotion ernstgenommen wurden. Wir lernen, dass es sich nicht lohnt, wütend zu sein. Bei der Recherche habe ich nach Beispielen gesucht, wo Frauen ihre Wut zum Ausdruck gebracht haben. Dabei musste ich feststellen, dass Frauen schon immer wussten, dass sie ihre Wut möglichst verstecken sollten. Dieser Mechanismus, Wut von Frauen keinen Platz zu geben, ist uralt und tief in unseren Strukturen verankert.“
Im Buch schreibst du über einen sogenannten Crash-Raum in Berlin, wo man für 150 Euro einen Baseballschläger in die Hand gedrückt bekommt und ungestört Möbel, Geschirr und Deko zertrümmern kann. Der Betreiber hat dir erzählt, dass 70 Prozent der Personen, die das Angebot nutzen, Frauen sind.
„Frauen lernen früh, dass sie nicht mehr für voll genommen werden, wenn sie wütend auftreten, also suchen sie sich geschlossene Räume. Diesen Impuls kann ich total nachvollziehen. Dass Frauen in geschützte Räume gehen, um ihre Wut rauszulassen, zeigt, wie es um Gleichberechtigung steht. Ich würde keine 150 Euro bezahlen, um einen Crash-Raum zu besuchen, aber fast jede Frau hat einen Kreis an Personen, bei denen sie sich auskotzen kann; Orte, an denen sie Dampf ablässt. So einen Space zu haben, ist wichtig und gesund. Wer Wut nicht rauslassen kann, richtet sie gegen sich selbst und das hat gesundheitliche Folgen.“
„Wer Wut nicht rauslassen kann, richtet sie gegen sich selbst und das hat gesundheitliche Folgen.“
Einerseits fehlen uns also weibliche Wutvorbilder, andererseits verstecken wir diese Emotion, um uns selbst zu schützen. Wie lösen wir das auf?
„Wissenschaftlich lässt sich belegen, dass alle Geschlechter Wut gleichermaßen erfahren. Ab einem Alter von circa drei Jahren wird Wut bei Mädchen aber als unpassend, als unweiblich gelabelt. Es ist nachvollziehbar, dass Frauen beziehungsweise weiblich sozialisierte Menschen nicht gern wütend sind. Indem Wut gegendert wird, wird Frauen ein wichtiges Mittel genommen, mit dem sie Grenzen setzen könnten. Die Kehrseite ist, dass Jungs zwar wütend, aber nicht traurig sein dürfen, weil das wiederum als unmännlich gilt. Auch das hat Folgen, wie man beispielsweise an den Selbstmordraten bei Männern ablesen kann.
„Indem Wut gegendert wird, wird Frauen ein wichtiges Mittel genommen, mit dem sie Grenzen setzen könnten.“
Wir müssen neue Dialoge über Wut führen. Wir müssen mit Kindern anders über Wut sprechen. Auch feministischen Eltern passiert es, dass sie die Emotionen ihrer Kinder gendern. Das geschieht unbewusst, da die Mechanismen tief verankert sind. Die Statistik zeigt, dass wir mit Jungs mehr über Wut reden als mit Mädchen. Wenn Mädchen Wut zum Ausdruck bringen, bekommen sie Aussagen wie ,Du bist doch sonst immer lieb und brav‘ zu hören. Das müssen wir uns stärker bewusst machen.
Das Perfide ist außerdem: Je mehr strukturelle Reibung ich erlebe, je mehr Mikroaggressionen ich erfahre, desto wütender bin ich, aber desto weniger darf ich meine Wut ausdrücken. Das sagt wiederum sehr viel über Macht und Wert aus und betrifft zahlreiche marginalisierte Gruppen: Die Wut von Schwarzen Frauen, von Menschen mit Behinderungen oder von queeren Menschen einzudämmen, ist eine Form von Kontrolle. Wenn wir unsere Wut zum Ausdruck bringen, greifen Mechanismen wie die Trope der Angry Black Women, die dafür sorgen, dass der Ausdruck dieser Emotion gesellschaftliche Ablehnung erfährt. Wir wurden von klein auf mit der Vorstellung sozialisiert, dass marginalisierte Gruppen keinen inhärenten Wert haben und dementsprechend keinen Raum verdienen, um ihren Standpunkt klarzumachen.“
„Wir wurden von klein auf mit der Vorstellung sozialisiert, dass marginalisierte Gruppen keinen inhärenten Wert haben und dementsprechend keinen Raum verdienen, um ihren Standpunkt klarzumachen.“
In „Wut und Böse“ beschreibst du die sogenannte Wut-Dimension, die abhängig ist von Merkmalen wie Sexualität, Körperproportion oder Phänotyp. Kannst du das Prinzip erklären?
„Die Wutdimension entscheidet darüber, wie viel Wut mir in der Öffentlichkeit zugestanden wird. Das orientiert sich daran, für wie wertvoll mich die Gesellschaft erachtet. Bin ich beziehungsweise die Personengruppe, der ich angehöre, der Gesellschaft Wert genug, dass sie meine Wut ernst nimmt? Das Buch wird mit den Schlagworten ,Frauen und Wut‘ beschrieben, ich erkläre darin aber, dass die beschriebenen Phänomene nicht nur jene betreffen, die der normativen Vorstellung einer Frau entsprechen. Wie unterschiedlich Wut bei Menschen bewertet wird, orientiert sich an soziokulturellen Faktoren, nicht an biologischen.
Auch Frau ist nicht gleich Frau. Wir haben verschiedene Identitäten, die sich unterschiedlich hierarchisieren und manifestieren. Es ist ein Unterschied, ob ich eine wütende weiße Frau, eine wütende Schwarze Frau oder eine wütende queere Schwarze Frau mit Behinderung bin. Diese Nuancen sorgen dafür, dass manche Menschen mehr Reibung im Alltag spüren, mehr Diskrepanzen erleben und von mehr Ungerechtigkeiten betroffen sind als andere. Einerseits multipliziert das die Gründe, wütend zu sein, andererseits greifen gleichzeitig mehr Mechanismen, die es unangenehm machen, Wut zu äußern.
Laura Gehlhaar hat das kürzlich gut beschrieben: Wenn sie als Frau mit Behinderung Wut zum Ausdruck bringt, wird ihr gespiegelt, dass sie dankbar dafür sein soll, überhaupt Teil von Projekt yz sein zu dürfen und deshalb keine Kritik üben soll. Und das ist der Punkt: alle Leute, die nicht dem heteronormativen Bild von Frau oder Mann entsprechen, fallen aus unserem eindimensionalen gesellschaftlichen Raster. Wenn sie es wagen, kritische Beobachtungen zu äußern, erklärt man ihnen, sie sollen happy damit sein, dass sie überhaupt x bekommen oder y möglich ist.“
Also, je stärker jemand marginalisiert ist, desto weniger Raum für Wut wird der Person zugestanden, obwohl sie ihn umso dringender bräuchte.
„Es gibt so viele unterschiedliche Faktoren, die darüber entscheiden, wie viel Raum ich für meine Wut erhalte. Bin ich eine Schwarze Frau oder bin ich eine wohlhabende Schwarze Frau mit akademischem Abschluss, die ein Unternehmen führt? Das sind Dimensionen, die die Gradationen an Wut bestimmen. 2020 haben wir erstmals im Mainstream über Privilegien gesprochen, aber ich hatte das Gefühl, dass die Konversation über Privilegien sehr schambehaftet war. ,Ich bin weiß, tut mir leid‘ ist die falsche Haltung.
„Wenn wir über Frauen und Wut sprechen, geht es eigentlich darum, dass Männer mit der Wut von Frauen losgehen und sich für Veränderung einsetzen.“
Wer Privilegien hat, hat auch Macht. Und Macht ist ein perfides System: Nur wer sie hat, kann die Strukturen verändern. Wenn wir also über Frauen und Wut sprechen, geht es eigentlich darum, dass Männer mit der Wut von Frauen losgehen und sich für Veränderung einsetzen. Nehmen wir sexualisierte Gewalt: Statistiken zeigen, dass jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Diese Gefahr ist Alltag für Frauen, deshalb sagen wir uns gegenseitig ,Schreib mir, wenn du gut zuhause angekommen bist‘. Aber warum unternehmen Männer nicht genauso viel zu unserem Schutz wie wir? Warum sind Männer nicht genau so wütend darüber wie wir?“
Höchste Zeit also, Wut möglichst intersektional zu denken, unsere Privilegien zu checken und diese als Grundlage für Veränderung zu verstehen.
„Ja. Wir müssen uns das Konzept von Solidarität anschauen und anerkennen, dass wir alle miteinander verbunden sind, auch wenn wir sehr stark in neoliberalen Strukturen verhaftet sind. Die Vorstellung, dass wir alles auf einer individuellen Ebene lösen können, ist falsch. Wir kämpfen mit strukturellen Problemen, die wir nur beheben können, wenn wir gemeinsam dagegen vorgehen. Ich möchte die Verantwortung, wütend über Ungerechtigkeiten zu sein, weglenken von den Betroffenen. Wir sollten uns alle fragen: Wie wichtig ist uns eine Personengruppe, dass wir stellvertretend für sie Wut äußern, weil wir uns aufgrund von Privilegien mehr Raum dafür nehmen können. Die Quintessenz: Es geht nicht so sehr darum, was es mit meiner individuellen Wut auf sich hat, sondern darum, wie wir die Wut von unterschiedlichen Leuten bewerten, für wen wir wütend sind und warum wir nicht wütender über gewisse Leute sind.“
Dein Buch wird als Liebeserklärung an eine ungeliebte Emotion beschrieben. Wie hat sich deine Beziehung zu Wut durch die Arbeit zu diesem Thema verändert?
„Ich mochte meine Wut lange nicht, sie auszudrücken, war mir unangenehm. Das ändert sich aber in dem Moment, in dem man sich vor Augen führt, dass Wut nicht einfach eine extreme Emotion ist, sondern kulturhistorisch unfassbar viel bewirkt hat: ohne Wut könnten Frauen nicht wählen und auch kein Bankkonto eröffnen, die Black Lives Matter-Bewegung entstand aus Wut und noch so viel mehr. Diese Emotion ist wichtig. Und wenn ich weiß, wie ich sie nutzen kann, kann sie mich weit bringen. Wut ist ein Treiber – und diesem Gefühl Raum zu geben, ist für mich inzwischen der Inbegriff von Selbstliebe. Aus Wut Handlungen abzuleiten, Bedürfnisse zu äußern und Grenzen zu ziehen, steigert mein Wohlbefinden.
„Wut ist ein guter Gradmesser, um zu checken, wie viel ich mir selbst wert bin. Genug, dass ich darauf scheiße, ob mich andere doof finden, wenn ich meine Bedürfnisse äußere?“
Wir haben darüber gesprochen, wie wichtig wir die Bedürfnisse und Wut stärker marginalisierter Gruppen nehmen. Die andere Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wie wertvoll bin ich mir selbst? Selbstwert ist für weiblich sozialisierte Personen ein ganz anderes Thema als für Männer. Uns wurde früh beigebracht, Platz zu machen und dafür zu sorgen, dass es allen gut geht – da zeigen sich patriarchale Sozialstrukturen. Wut ist ein guter Gradmesser, um zu checken, wie viel ich mir selbst wert bin. Genug, dass ich darauf scheiße, ob mich andere doof finden, wenn ich meine Bedürfnisse äußere? Zu erleben, wie viel Wirkung genutzte Wut entfalten kann, ist richtig gut – diese Selbstwirksamkeit gibt Power.“