Foto: Arif Riyanto | Unsplash

„Wer soll mir das glauben?“ – Sexismus am Arbeitsplatz und warum wir endlich zuhören müssen

Autor*in
Anne-Kathrin Heier für EDITION F studio
Kund*in
Heyne
Gesponsert

Es war so viel mehr als ein Hashtag: die #metoo-Debatte in 2017. Sie hat die Grundlage für ein kollektives Bewusstsein für Sexismus in der Gesellschaft geschaffen. Ein Bewusstsein, das inzwischen weltweit in allen Bereichen unseres Lebens existiert und dem sich Frauen wie auch Männer mit aller Kraft, Solidarität und vor allem Lautstärke annehmen. Anlässlich des neuen Romans „Whisper Network“ von Chandler Baker sprechen wir mit der Arbeitsrechtlerin Katja Hinz über Sexismus am Arbeitsplatz und die Verantwortung der Unternehmen.

Harvey Weinstein wurde gerade erst zu 23 Jahren Haft verurteilt. Ein Fall, der von Beginn an die #metoo-Debatte weltweit auf die Agenda setzte. Und dennoch nur die Spitze des Eisbergs beschreibt. Jetzt hat die Amerikanerin Chandler Baker mit „Whisper Network“ einen Roman vorgelegt, der unmittelbar nach Veröffentlichung in den USA auf der New-York-Times-Bestsellerliste landete und in diesen Tagen auch in Deutschland erscheint. Das Buch drückt Entschlossenheit und auch Wut aus: Wut über die nach wie vor gellende Ungleichheit von Mann und Frau am Arbeitsplatz. Wut über das Spielchen, das Frauen nach wie vor häufig zu beherrschen haben, wenn sie im Job weiterkommen wollen. Wut über den tagtäglichen Kampf gegen sexuelle Übergriffe, die nach wie vor noch immer viel zu oft als „kleine Flirtereien“ abgetan und verharmlost werden. 

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist oft Ausdruck von Hierarchie und Machtausübung

Aber wo fängt sie an, die sexuelle Belästigung? Gerade im Zuge von #metoo hörte man plötzlich trotzige Männerstimmen mit der Frage, ob man nun nicht einmal mehr Komplimente machen dürfe. Katja Hinz, Fachanwältin für Arbeitsrecht, Gründerin der Arbeitsrechtskanzlei Studio Hinz und unter anderem spezialisiert auf die Prozessführung im Themenkomplex Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, sagt, dass ihr dieser Einwand im Rahmen von Führungskräfte-Schulungen und internen Ermittlungen sehr häufig begegne: „Der Einwand ist durchaus ernst zu nehmen, denn er zeigt, dass eine Unkenntnis und Verunsicherung besteht, die es durch geeignete Aufklärungsmaßnahmen zu beheben gilt. Die häufigsten Erscheinungsformen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind unerwünschte Bemerkungen sexuellen Inhaltes und unerwünschte körperliche Berührungen.“

Katja Hinz ist Fachanwältin für Arbeitsrecht und beantwortet uns im Gespräch ein paar Fragen. Foto: Studio Hinz

Das umfasse nicht nur gravierende Fälle wie das „Begrapschen“ von Busen oder Po. Auch ambivalente Handlungen wie Berührungen am Rücken, Oberschenkel oder an anderen Körperstellen seien sexuell belästigend, sobald sie unerwünscht sind. „Und hier zeigt sich nun die Krux: Eine sexuelle Motivation des Täters ist nicht erforderlich, um eine unerwünschte Berührung als sexuelle Belästigung zu qualifizieren. Eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist häufig vielmehr Ausdruck von Hierarchie und Machtausübung und weniger von sexuell bestimmter Lust.“ Bei sexueller Belästigung durch unerwünschte Bemerkungen handele es sich sowohl um explizite sexuelle, vulgäre oder obszöne Äußerungen als auch um Bemerkungen über sexuelle Neigungen, das Sexualleben, das Erscheinungsbild An- oder Abwesender. 

Vorgesetzter zur Kollegin: „Da musst du nicht nur fingern, sondern fisten!“

Die Autorin Chandler Baker hat mit zahlreichen betroffenen Frauen gesprochen. Sie erzählt in „Whisper Network“ eine auf Tatsachen beruhende Geschichte, die zwischen den Zeilen die Forderung stellt, dass das Bewusstsein über das Problem nicht ausreicht, sondern dass wir echte Veränderung brauchen.

Hätte Chandler Baker in Vorbereitung auf ihr Buch auch Katja Hinz zu deren Erlebnissen in Bezug auf Sexismus befragt, so hätte die Arbeitsrechtlerin nicht lange gezögert. Katja Hinz erzählt uns zwei nahezu unglaubliche Anekdoten aus ihrem eigenen Berufsleben: „Einmal sagte ein Vorgesetzter, ein Sales-Superstar, zu seiner jungen Kollegin als ‘Motivation’ vor einer schwierigen Verhandlung mit Kunden: ,Da musst du nicht nur fingern, sondern fisten!‘ – Ein anderes Mal habe ich mitbekommen, wie ein hochrangiger Bankangestellter zu einer Kollegin im Anschluss an ein Eis-Essen mit dem Team sagte: ,Das Eis war jetzt aber auch wegen der partiellen Verhärtung an meinem Körper dringend nötig.‘“

Von Sexismus am Arbeitsplatz betroffene Personen haben ganz verschiedene Ängste: „Wer soll mir das glauben?“ Foto: Vidar Nordli Mathisen | Unsplash

Sie passen sich den Regeln an

Die Protagonistinnen in Chandler Baker’s Thriller „Whisper Network“ heißen Sloane, Ardie und Grace. Sie alle haben Karriere gemacht bei einem bedeutenden Sportbekleidungshersteller in Dallas. Die Juristinnen verdienen gut, arbeiten bis zum Umfallen, stillen zwischendurch den Säugling, kümmern sich um das Schulkind oder unterbrechen ihren Meetingmarathon für Speed-Dates mit irgendwelchen Männern, um die tickende biologische Uhr unter Kontrolle zu bringen. Morgens streifen sie nicht nur das perfekte Outfit über, sondern auch eine unsichtbare Schicht aus Teflon, an der alles abperlt. Sie spielen mit. Sie passen sich den vorherrschenden ungeschriebenen Regeln an und schlucken hinunter, was eigentlich kaum zu verdauen ist. 

Unternehmen tragen eine Verantwortung

Katja Hinz findet, dass sich mit #metoo bereits vieles verändert habe, aber noch lange nicht genug. „Ich beobachte in Unternehmen, dass das Thema sexuelle Belästigung durchaus anerkannt wird. Leider ist es nach wie vor so, dass eine Vielzahl von Unternehmen erst dann aktiv wird, wenn es bereits einen Vorfall oder zumindest den Verdacht einer sexuellen Belästigung gegeben hat. In Anbetracht von Herausforderungen im Recruiting, in der Entwicklung der Talente, dem Change Management, das heute oft kein punktuelles Projekt sondern ständige Aufgabe des Managements ist, ist das Thema der sexuellen Belästigung in vielen Unternehmen leider ziemlich weit hinten auf der To-Do Liste angesiedelt.“

Die Frauen in „Whisper Network“ arrangieren sich mit den Gegebenheiten, bis der Geschäftsführer ihres Unternehmens stirbt und sich der Wind dreht: Als Nachfolger ist Ames im Gespräch, der unmittelbare Vorgesetzte von Sloane, Ardie und Grace. Die drei Frauen sind sich darüber einig, dass das auf keinen Fall passieren darf, denn Ames ist ein Mann, der sich nimmt, was er haben will. Er gilt als „schmierig“ und übergriffig: „Ames hasste es, jemandem zuzuhören, der ihm äußerlich nicht gefiel.“ Als Sloane von einer geheimen Liste erfährt, auf der die Namen aller Männer stehen, die ihre Macht über die Frauen auf sexuellem Wege ausnutzen, setzt sie auch Ames‘ Namen darauf. Kurze Zeit später wird Ames leblos aufgefunden. 

Chandler Baker’s Pageturner “Whisper Network“ schaffte es unmittelbar nach Erscheinen auf die Bestsellerliste der New York Times. Foto: Eryn Chandler

„Bedeutet es das Ende meiner Karriere, wenn ich den Vorfall melde?“

Allein in Deutschland hat mehr als die Hälfte der Beschäftigten bereits Erfahrungen gemacht mit sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz. Die meisten aber sind kaum über ihre Rechte informiert: 81 Prozent wissen beispielsweise nicht, dass es zur Pflicht der Arbeitgeber gehört, ihre Mitarbeiter*innen vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu schützen. Und mehr als 70 Prozent wüssten nicht, wen sie im Falle einer Belästigung im Unternehmen ansprechen könnten.*

In dem Buch „Whisper Network“ führen die Protagonistinnen eine geheime Liste mit männlichen Namen, die ständig erweitert wird. Was hindert Angestellte daran, entsprechende Vorfälle sofort zu melden, öffentlich zu machen? Katja Hinz stimmt zu: „Beschäftigte sind zunächst verpflichtet, intern bei ihrem Arbeitgeber eine Beseitigung der Compliance-Verstöße zu erwirken. Erst, wenn der Arbeitgeber nicht oder nicht hinreichend reagiert, darf sich der sogenannte Whistleblower an die Öffentlichkeit beziehungsweise die Medien wenden. Betroffene stehen aber oft zunächst vor einer ganz anderen Herausforderung.“ Damit spielt Katja Hinz auf ganz verschiedene Ängste an: 

  • Wer soll mir das glauben? Stichwort: „Von dem hätte man das ja nie erwartet.“
  • War es nicht auch meine Schuld? Stichwort: „Am Anfang habe ich ja immer noch mitgelacht oder mit einem flapsigen Spruch gekontert.“
  • Bedeutet es das Ende meiner Karriere, wenn ich den Vorfall melde? Stichwort: „Bei der muss man ja immer Angst haben.“
  • Wird man mir unlautere Absichten unterstellen? Stichwort: „Die will sich ja nur einen Vorteil verschaffen oder sich für eine schlechte Performance-Review rächen.“

Unkenntnis und Verunsicherung müssen minimiert werden

Wir alle haben ja bestimmte Klischees im Kopf. Wie ist es möglich, festgefahrene Rollenstereotype aufzubrechen und kollektiv umzudenken? Welche Maßnahmen können wir ergreifen? Katja Hinz ist davon überzeugt, dass ein Schritt in die richtige Richtung wäre, wenn die nach wie vor bestehende Unkenntnis und Verunsicherung im Hinblick auf die sexuelle Belästigung beseitigt oder zumindest minimiert würde. Im Rahmen interner Ermittlungen stellt sie fest, dass sich die meisten Täter zunächst nicht darüber bewusst sind, dass ihr Handeln als sexuell belästigend zu bewerten ist. „Nun kann man es sich einfach machen und behaupten, dass doch wohl jedem klar sein müsse, dass bestimmte körperliche Berührungen und eindeutig sexuell konnotierte Bemerkungen eine sexuelle Belästigung darstellen. Aber: Was ist mit den Grauzonen? Ganz ehrlich, welcher Laie kann schon von sich aus klar sagen, wo die Grenzen zu ziehen sind und welche Witze ‘nur geschmacklos’ sind und wo bereits die handfeste Belästigung beginnt?“

„Unternehmen müssen ihre Angestellten ernst nehmen“, fordert Arbeitsrechtlerin Katja Hinz. Foto: Dylan Nolte | Unsplash

Wir müssen einander ernst nehmen und zuhören

Deshalb hat der Gesetzgeber im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) den Arbeitgeber dazu verpflichtet, einer sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz durch geeignete Maßnahmen – zum Beispiel Schulungen der Mitarbeiter*innen – vorzubeugen. „Aber Hand auf’s Herz: Wieviele Unternehmen kommen dieser Pflicht denn nach?“, fragt Katja Hinz ernüchtert. Die Anzahl sei erschreckend gering. Wenn überhaupt, würden entsprechende Schulungen für Human Resource und Führungskräfte angeboten, die aber oftmals das Erlernte gar nicht oder nicht hinreichend an die Gesamtheit der Belegschaft weitergeben. 

Normalerweise darf man den letzten Satz eines Romans natürlich unter keinen Umständen verraten. Im Fall von “Whisper Network” machen wir eine Ausnahme, denn dieser letzte Satz ist eine essentielle Aufforderung für alle – vor allem aber für Arbeitgeber*innen und Unternehmen, die ihren Angestellten gegenüber eine große Verantwortung tragen:

“Hört zu.” 

* Repräsentative Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes im Themenjahr “Gleiches Recht. Jedes Geschlecht“ 2015

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