Die Uni Zürich löst 80 Fachbibliotheken auf. Bücher sollen künftig nur noch bestellt werden können. Eine Liebeserklärung an die Ineffizienz des Stöberns.
Eine Bibliothek ist ein vielschichtiger Organismus
Eine Universitätsbibliothek ist wie ein sehr altes Gehirn. Seit Jahrhunderten saugt sie das Wissen von Autor*innen und Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt in sich auf. Eine Bibliothek ist ein vielschichtiger Organismus. Außen ist sie ein wuselndes Gebilde aus Studierenden, die um Schließfächer kämpfen, sich für eine Lernsession rüsten oder auf den Steinstufen des Eingangs ihre mitgebrachten Avocado-Räuchertofu-Toasts verschlingen.
Drinnen ist das Leben ruhiger. Studis tippen auf ihren leise brummenden Endgeräten herum. Blättern kratzige Seiten um. Kritzeln Notizen in schwarze Hefte. Marschieren mit quietschenden Sohlen auf den Gängen entlang zu den Toiletten. Hier und da wird darüber getuschelt, dass der Sitznachbar nun schon zwei Stunden Pause macht und den wertvollen Sitzplatz mit einem selbsterrichteten Bücherbunker blockiert.
Im Herzen der Bibliothek ist es leise
Das wahre Herz der Bibliothek offenbart sich erst zwischen den Bücherreihen. Hier ist es meist ganz leise. Die unzähligen aneinandergereihten, angegilbten Papierseiten, von denen viele die Notizen und Markierungen von Generationen von Studierenden wie alte Kampfnarben tragen, schlucken die Geräusche des Bibliotheksbetriebs. Hier im Herzen fühlt man sich als Studierling plötzlich sehr klein und jung angesichts dieser geballten Ladung Wissen. Gleichzeitig erkennt man sich als Teil einer Tradition. Schon die Autor*innen, deren Bücher jetzt in den Regalen stehen, standen wie man selbst einst zwischen den Bücherregalen auf der Suche nach Informationen. Jetzt sind sie tot, aber das Wissen, das sie geschaffen haben, existiert weiter – konserviert in den heiligen Hallen der Wissenschaft.
Bibliotheken sind Orte der Unsterblichkeit. Als Student*in steht man am Anfang der eigenen Universitätskarriere. Viele werden dieser nach dem Studium den Rücken kehren. Andere werden etwas schaffen, was es in Form eines Buches in das Regalmeer schafft, unzählige Generationen von Studierenden werden ihre Notizen hineinkritzeln können, bis die Seiten irgendwann vergilben und sich langsam der Kleber, der die Seiten zusammenhält, löst. Bibliotheken sind wie stumme Gespräche zwischen Generationen, die Jahrhunderte voneinander entfernt gelebt haben. Ein Aristoteles, der 384 vor unserer Zeitrechnung geboren wurde, steht unter Umständen nur wenige Meter entfernt von einer Margarete Stokowski, der amtierenden deutschen popfeministischen Königin des 21. Jahrhunderts.
Die Bibliothek soll herzoperiert werden
Manche wollen nun das Herz aus der Bibliothek herausreißen. Die Gänge, die Regale, die Bücher sollen herausoperiert werden und hinter den Kulissen verschwinden. Die Universität Zürich plant, etwa 80 Fakultätsbibliotheken aufzulösen und eine riesige Zentralbibliothek zu schaffen. Ziel dieser Bibliotheksreform sei es, die Wissenssammlung effizienter zugänglich zu machen. Die neue Mega-Bib soll keine Freihandbibliothek mehr sein, sondern eine Magazinbibliothek. Bedeutet: Statt durch unzählige Bücherreihen zu stromern, können Studierende Bücher nur noch bestellen. Dadurch soll mehr Raum für Arbeitsplätze geschaffen werden.
Bibliotheken, in denen man nicht wie an spanischen Urlaubshotspots schon zur Öffnungszeit das Badehandtuch über den Lernplatz legen muss, wenn man einen Sitzplatz haben möchte, sind eine gute Sache. Effizienz ist an sich auch eine gute Sache. Manchmal ist es aber gerade das Ineffiziente, das etwas magisch Geniales entstehen lässt. Oft genug passiert es, dass das Buch, nach dem man eigentlich gesucht hat, nicht am vorgesehenen Ort steht und man frustriert den Blick über das sonstige Angebot schweifen lässt. Das Stöbern durch die Regale ermöglicht überrasche Funde.
Vielleicht ist es ein besonders schöner Buchrücken, der aufgrund seiner in die Jahre gekommenen Eleganz entzückt. Vielleicht ist es ein kecker Titel, der den Blick fängt. Vielleicht fischt man sich dieses Buch aus dem Regal und blättert es ein bisschen durch. Vielleicht verbringt man auch die nächsten Stunden damit, in ihm zu lesen. Vielleicht war man eigentlich auf der Suche nach Sekundärliteratur zu Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Vielleicht hat man stattdessen etwas über slowenische Dichtkunst erfahren.
Kreative Explosionen entstehen nur durch Ineffizienz
In Freihandbibliotheken ist es möglich, Wissen zu entdecken, auf das man bei einer zielgerichteten Suche in einem Onlineportal nicht gestoßen wäre. Das Wissen mag nicht immer direkt für die Hausarbeit oder den Essay verwertbar sein, an dem man eigentlich arbeitet. Unnötige Lektüre ist es deshalb nicht. Ganz vielleicht stößt man sogar auf ein Buch, das in Kombination mit dem Thema, zu dem man eigentlich recherchiert, eine Explosion auslöst. Das einen neuen Gedankengang zu dem Forschungsthema entfacht, eine eigene, neuartige Idee entstehen lässt.
Freihandbibliotheken sind Orte, an denen ineffiziente Zufälle kreative Feuerwerke auslösen können. Sie abzuschaffen wäre ein weiterer Schritt hin zu einer vollautomatischen Universität, in der Studierende wie auf dem Fließband von Immatrikulation zu Studienabschluss geschleust werden. Ohne ineffiziente Kreativität.
Der Originaltext von Tessa Högele ist bei unserem Kooperationspartner ze.tt erschienen. Hier könnt ihr ze.tt auf Facebook folgen.
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