Foto: Stefan Schmitz | Flickr | CC BY-ND 2.0

Beste Freundin Mama: Schwächt die enge Mutterbindung den modernen Feminismus?

Wir wollen zu Gehaltsforderungen stehen, Beziehungsmodelle selbst wählen, Kinder bekommen oder nicht. Und wenn es brenzlig wird, rufen wir Mama an. Über Mutter-Tochter-Freundschaften und deren Tendenz unsere Agenda einer gleichberechtigten Welt zu schwächen.

Abhängig von Mama

Bei jedem Text gibt es diesen Punkt, an dem ich nicht weiterkomme. Und wenn ich nicht weiterkomme, rufe ich meine Mutter an. Wir reden über Belangloses; es fällt mir schwer, heute klare Worte zu finden. Dass ich über Mutter-Tochter-Beziehungen schreibe, ist auch persönliches Anliegen. Und ich will wissen, was meine engste Vertraute dazu denkt. Dazu muss ich ihr gegenüber absolut ehrlich sein. Leise spreche ich in den Hörer: „Ich weiß, ich sollte mich auf mein eigenes Leben konzentrieren, aber ich kann mich dem nicht entziehen. Ich bin von dir abhängig; ich würde alles stehen und liegen lassen, wenn es dir schlecht ginge und ich glaube, ich bin über die Jahre zu deiner besten Freundin geworden.“

Meine Mutter lächelt. Die kurze Pause, in der sich ihre Mundwinkel auseinanderziehen, spüre ich mittlerweile durchs Telefon; wir wohnen seit zehn Jahren in verschiedenen Städten. „Das geht vorbei, sobald du eigene Kinder hast“, sagt sie. Sie meint: sobald du in die nächste Abhängigkeit rutscht. Sie erzählt von ihrer Mutter, die meinem Opa nach dem Krieg hilflos ausgeliefert war und davon, dass sie sich seit Jahrzehnten verpflichtet fühlt, jeden Morgen bei ihr anzurufen. „Kannst du dir vorstellen, wie belastend das ist?“

Verbunden durch den Penisneid

43 Prozent der Frauen rufen täglich bei ihrer Mutter an. Das kam bei einer von Reader’s Digest in Auftrag gegebenen Studie heraus. Wissenschaftler der University of Wisconsin-Madison haben 2010 zudem herausgefunden, dass die Stimme der eigenen Mutter bei Kindern zur vermehrten Ausschüttung des Wohlfühlhormons Oxycotin führt. Es wundert daher nicht, dass sie für viele bis ins Erwachsenenalter die wichtigste Bezugsperson darstellt. Wir sind bereits vor der Geburt von ihr abhängig. Frauen sind zusätzlich aufgrund des Geschlechts mit ihr verbunden. Eine „Symbiose“ nannte die Psychoanalytikerin und Säuglingsforscherin Margaret Mahler das. Freud entdeckte in dieser Gleichgeschlechtlichkeit eine Veranlagung zu neurotischen Störungen: Die Tochter macht ihre Mutter in der ödipalen Phase unbewusst dafür verantwortlich, dass sie beide – ganz anders als der Vater – eine Vagina haben. Zwei Frauen, verbunden durch den Penisneid.

Die Beziehung zu unserer Mutter ist so oder so kompliziert. Einige Frauen brechen den Kontakt ab, andere gehen auf Distanz. Und dann gibt es uns, die wie an der unsichtbaren Nabelschnur hängengeblieben sind. Kämpfen wir bei Gehaltsverhandlungen und in Beziehungsfragen längst für Gleichberechtigung, kriechen wir bei Misserfolg in Mamas warmen Schoß zurück. Da gibt es eine Frau auf dieser Welt, die uns niemals im Stich lässt. Unsere Mutter wird uns immer lieben. Das ist beruhigend. Aber dahinter stecken auch Risiken: „Das Mutter-Tochter-Paar kann sich aufgrund der gleichgeschlechtlichen Identifikation, der Ähnlichkeit und der mangelnden Loslösung leicht in eine lähmende symbiotische Dyade verstricken“, weiß die Psychoanalytikerin Hendrika C. Halberstadt-Freud. „Dies impliziert auch die Ausgrenzung einer dritten Person.“ So lähmend kann diese Zweierbeziehung also sein, dass wir andere ausschließen – und den Zeitpunkt verpassen, in dem wir lernen, unsere Kämpfe unabhängig von der Mutter auszutragen.

Die Gilmore Girls des deutschen Vororts

Dabei ist das Bild der heiligen, selbstlosen Mutter nicht alt. „Die Erfahrungen von Verlust und erzwungener Trennung während des Krieges führten zu einer bis dahin unbekannten Tendenz: die Mutter-Kind-Bindung wurde zum höchsten Gut, zur moralischen Norm und zu einem erstrebenswerten Ideal.“ So beschreibt Halberstadt-Freud den Aufstieg der Mutterrolle im letzten Jahrhundert. Mütter wurden besonders in früheren Generationen als asexuelle Wesen angesehen, die in der eigenen Intimsphäre nichts zu suchen hatten. Oder wie Nancy Friday es in ihrem Bestseller Wie meine Mutter formuliert: „Mutters Sexualität ist am schwersten zu akzeptieren. Sie fand sie auch bei uns am schwersten zu akzeptieren. Zwei Frauen, die voneinander genau das verbergen, was sie als Frau definiert.“

Heute gehen Mütter mit ihren Töchtern in die Disko. Sie wälzen Beziehungsprobleme, feiern die überfällige Trennung vom Vater, tauschen Klamotten, reden offen über Sex. Der Generationskonflikt scheint sich aufzulösen, die Interessen von Mutter und Tochter gleichen sich an. Beruhigend kann das sein, wenn die Mutter zur engen Vertrauten wird. Zerstörerisch, wenn Frauen keine weiteren Bindungen zulassen. Wenn die eigene Mutter, bewusst oder unbewusst, eine Partnerschaft boykottiert oder den Wunsch nach einem unabhängigen Leben. In einer zu engen Bindung zur Tochter ist die Identifikation oft so groß, dass eine Loslösung einem Vertrauensbruch gleichkommt. „Dies hängt damit zusammen, dass das Mädchen oft zu Recht annimmt, dass die Mutter die Loslösung als bedrohlich erfährt“, weiß Halberstadt-Freud aus ihren Studien. „All dies kann es der Frau erschweren, die zum Erreichen eigener Ziele notwendigen Aggressionen freizusetzen.“

Das Erbe des Feminismus – wie geht es weiter?

Ein großes Glück ist es, einen Menschen zu haben, der uns liebt, weil wir geboren sind. Dies ist gewiss kein Aufruf, unsere Mutter aus unserem Leben zu verbannen. Wir können nur für einen neuen Feminismus kämpfen, wenn wir die Vergangenheit mit einbeziehen. Kritisch wird es erst, wenn wir uns Gleichaltrigen emotional kaum noch zuwenden, wenn wir unsere Mutter als Therapeutin, beste Freundin, unser Seelenheil ansehen. Dann verlieren wir den Fokus auf unsere eigene Generation, erst dann verschwimmen nach und nach die innigen Momente mit unseren Freundinnen, in denen wir uns verletzlich zeigen, um gemeinsam für Stärke einzustehen.

Wir sollten weniger brave Töchter sein, als viel mehr Feministinnen, die sich in den Anliegen ihrer Generation unterstützen. Nicht immer gleich Mama anrufen, sondern auch mal unsere Freundinnen. Wir sollten Girl Gangs bilden, laut werden, uns mit unseren Problemen auf die Nerven gehen – so lange, bis wir sie gelöst haben. Eine Generation reifer, erfahrener Frauen wird hinter uns stehen, sie werden uns ein Stück begleiten. „Alles wird gut“, flüstern sie. „Aber jetzt müsst ihr alleine weiter.“ Sie werden uns ziehen lassen, damit wir ihr Erbe vorantreiben. Damit wir frei sind, um zu kämpfen. Für uns, für sie. Für alle die, die nach uns kommen.

Titelbild: Stefan Schmitz | Flickr | CC BY-ND 2.0

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