Foto: Theresia Koch

Ein Selbstversuch: „Tinder ist ein bisschen wie Primark, nur mit Menschen statt Kleidung“

Bisher dachte Johanna: „Pff, für Dates brauche ich doch keine App“ – dann probierte sie für unsere Freunde von „Hauptstadtmutti“ Tinder aus. Mittlerweile hatte sie 30 Tinder-Dates in vier Monaten – und zieht eine erste Bilanz.

Wer braucht denn eine App für Dates?

Vor etwa einem Jahr hatte ich zum ersten Mal von Tinder gehört, es aber bislang mit einem arroganten „Pff, für Dates brauch ich doch keine App!“ abgetan.

Ironischerweise hatte ich mittlerweile – aufgepasst – circa 30 Tinder-Dates in vier Monaten. Ich kann euch sagen, ich habe alles einmal durch. Die lustigsten, langweiligsten und skurrilsten Momente. Und zwischendurch war ich doch tatsächlich in einen der Tinderboys verliebt! Aber wie bin ich da eigentlich reingerutscht?

Donnerstag, 15 Uhr. Ich sitze in der Straßenbahn auf dem Weg zur Kita, neben mir ein auffällig hübscher Mann, der wie wild auf seinem Handy hämmert. Was zur Hölle macht der da? Ich versuche einen unauffälligen Blick auf sein Handydisplay zu erhaschen. Ach, Tinder! Ich mustere ihn amüsiert, er scheint einer von der Ich-swipe-einfach-immer-nach-rechts-Fraktion zu sein. Frei nach dem Motto „Quantität vor Qualität” und je mehr Likes, desto mehr Möglichkeiten für Matches, desto größer der Selbstbewusstsein-Boost.

An der nächsten Station steigt er aus, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Frustriert erinnere ich mich an den Typen aus der Bar vom letzten Wochenende. „Ich melde mich morgen bei dir.“ Heute ist Donnerstag. Morgen ist wohl ein sehr dehnbarer Begriff. Whatever.

Eine Dating-App hat wenigstens den Vorteil, dass beide Beteiligten motiviert sind, ein Treffen zustande zu bringen. Und letzten Endes sollte man nichts verurteilen, bevor man es nicht am eigenen Leib erfahren hat. Ok, Download beendet, über Facebook eingeloggt und einen schlauen Spruch – „Ich hab’ meine Ernährung umgestellt, die Kekse stehen jetzt links vom Laptop“  – unter meine Bilder gesetzt. Den hatte ich gerade auf einer Postkarte gelesen und fand ihn witzig. Ich mach das ja auch nur zum Spaß, ne?! Und schon schwimme ich auch in dem Pool der konfusen Singles im Paarungswahn. Kaum zu glauben, wie ernüchternd meine erste Stunde auf Tinder ist. Swipe left, die Hundertste. Prinzipiell lassen sich die Männer in folgende Kategorien einordnen: Männer mit Kätzchen. Männer im Fitnessstudio. Männer auf verzweifelter Suche nach Liebe…

Oh, aber da ist einer! Schockverliebt! Jason (28) – „191cm, extremely silly, laugh alot“ SWIPE RIGHT – es ist ein Match! Wohoo! Ich grinse blöd auf mein Handydisplay und remple gegen einen Baustellenaufsteller. Mal sehen, ob er sich meldet, ich schaue noch ein bisschen weiter, der ein oder andere gefällt mir ganz gut und hat das Privileg, einen Daumen hoch von mir zu bekommen. Am Abend habe ich zehn Matches und die ersten unkreativen Opener kommen rein.

21:07 Jason: „Hey wassup:-)“

21:30 Tim: „Suchste ONS oder Beziehung?“ (ONS ist das Kürzel für One-Night-Stand).

22:05 Martin: „Hahaha, dein Spruch bringt mich zum Lachen! Alles cool bei dir?“

01:00 Steven: „Süße, wir müssen definitiv siamesische Zwillinge sein, die nach der Geburt getrennt wurden. Wir müssen uns kennenlernen!”

Jason antworte ich kurz, Tim bekommt vorerst keine Antwort, da ich überhaupt nichts suche, Martin kriegt ‘n grinsenden Emoji zurück. Und zu Steve – wie strange ist das denn bitte? – entferne ich die Verbindung. Ich treffe die ersten drei.

Zwei bis drei Tinder-Dates pro Woche

Wie das Schicksal manchmal spielt, war Tim mein erstes Date. Wir treffen uns spontan an einem Samstagabend zum Abendessen in Prenzlauer Berg. „Verdammt, wär’ ich mal bei den Sneakers geblieben”, denke ich mir, als wir uns begrüßen und ich dem Herren quasi auf den Kopf spucken kann. Jetzt verstehe ich auch die Größenangaben auf den meisten Profilen. Das Date verläuft unspektakulär. Tim ist gegen meine Erwartungen freundlich und unaufdringlich, aber absolut nicht mein Fall. Er fährt mich noch mit einem Carsharing-Auto zu mir, wir verabschieden uns mit einer kurzen Umarmung, ich klopfe ihm vielsagend auf die Schulter, bedanke mich und bin weg.

Und schon eine SMS von … Tim: „Hey, fands total schön, fänd’s klasse wenn du mich auf meiner nächsten Geschäftsreise begleiten kannst!“ – Ähm, nein! Ich weiß nicht so recht, ob ich laut loslachen oder entsetzt aufschreien soll. Ich entscheide mich für einen lächelnden Emoji zurück und antworte: „Hey, ich fand’s auch schön, wir werden bestimmt gute Freunde!“ Danach hab ich nie mehr was von ihm gehört.

Noch im Hausflur check ich Tinder aus. Eine neue Nachricht von Jason. „When can I meet you?“ Wir verabreden uns für meinen nächsten babyfreien Abend am Mittwoch. Dieses Mal bin ich wirklich aufgeregt, ich fahre in sein Kaff am Rande von Berlin und schicke meinem Kumpel vorsichtshalber noch meinen Standort. Jason trägt eine Jogginghose und eine rote Trainingsjacke von der Sparkasse. Das finde ich klasse, fühle mich allerdings total overdressed neben ihm. Wir verbringen den Abend bei ihm, hören Musik, trinken Wein, lachen Tränen und wer hätte es gedacht, ich verpasse den letzten Regio-Zug zurück.

Auf seine charmante Art fädelt er einen Kuss ein, aber dabei bleibt es auch. Für diese Nacht. Dann haben wir uns zwei Monate fast jeden Tag gesehen. Jason war lustig und hot, ein kleiner Macho und ein Weichei zugleich. Ich stolzierte durch die Straßen, hörte Lana Del Rey – „Feelin’ gangsta everytime I see ya …You’re the bad boy I always dreamed of, you’re the king and baby I’m the queen of disaster“ – und schmeiße mit der festen Überzeugung, nun endlich meinen Seelenverwandten gefunden zu haben, alle meine Vorurteile über Tinder über Bord. Romantik pur, Wolke 7 – bis zu dem Moment, indem ich herausfand, dass Monsieur Frau und Kind zu Hause in den USA hat und die Stadt in zwei Wochen verlässt. BÄM! Mit Vollkaracho polierte mir meine rosarote Wolke die Fresse. „Wow, you played me like a pro“, schrieb ich trocken, dann war er auch schon weg und mit ihm mein Glauben an die Menschheit. Okay, das ist vielleicht etwas übertrieben, aber ich hatte echt keinen Bock mehr.

Start des Datingmarathons

Das war wohl der Zeitpunkt, an dem ich ironischerweise den richtigen Datingmarathon startete. Und da Tinder ja lange nicht das einzige Dating-Portal auf dem Markt ist, habe ich mich wundenleckend bei Lovoo und OkCupid angemeldet. Hier gilt: Jeder kann jeden anschreiben und man erstellt ein richtiges Profil. OkCupid fand ich so uncool, dass ich mich direkt wieder abgemeldet habe und Lovoo – was geht denn da ab? Mein Status: Overload! Innerhalb von zwölf Stunden war mein Postfach gesprengt und ich hatte 734 Matchvotes, das nahm gar kein Ende mehr! Ich fühlte mich wie der letzte Burger der Dandy-Diner-Eröffnung oder als hätte ich ein besonders gut bezahltes Jobangebot ausgeschrieben. Nur mal ein paar Zitate, damit ihr versteht, was ich meine:

„Liebe Johanna, ich bin positiv durchgeknallt, extrovertiert und treibe viel Sport. Ich bin handwerklich begabt, zeichne gerne und gehe auch gerne ins Theater. Ich liebe Kinder. Ehrlichkeit steht bei mir an erster Stelle. Melde dich, falls ich dein Interesse erweckt habe!”

„Mir ist bewusst, dass du ein paar Ligen über mir spielst, aber fragen kostet nix.”
(Mitleidsschiene? Oder noch viel schlimmer: Meint er das ernst?”)

„Könntest du mir bitte eine Beschreibung deiner Person zukommen lassen? Optisch gefällst du mir schon mal. Hoffe dein Charakter ist mindestens genau so ,hübsch’.”

„Wie stellst du dir deinen zukünftigen Mann vor? Komme ich da in Frage?”

„Hey, wie spontan bist du? Ich hab Bock. Du auch? Komm doch Netflix und Chill.” (Der Typ ist laut Radar 200 Meter von mir entfernt, wie strange wäre das denn, den morgen auf der Straße zu treffen?)

Das muss alles ein schlechter Scherz sein. Teilweise habe ich die Nachrichten beantwortet. Nicht aus Interesse, sondern weil ich ein empathiefähiger Mensch bin und mich manche Nachrichten wirklich schockiert haben. Ich fühle mich überhaupt nicht gut, trotz des ganzen Interesses, eher plagt mich ein schlechtes Gewissen, circa 500 Männern einen virtuellen Korb zu verpassen. Das ist bei Tinder besser geregelt. Geschrieben wird, wenn ein Match zustande gekommen ist, nicht vorher. 1:0 für Tinder.

Einmal musste ich wegrennen

Dort hatte ich auch mehr Erfolg und traf im Schnitt zwei- bis dreimal pro Woche mal mehr, mal weniger interessante Männer. In der Mittagspause, an meinen babyfreien Abenden auf ein Glas Wein oder einfach auf einen Spaziergang. Ich wurde mit der Zeit immer abgestumpfter und gelangweilter, die Dates waren ein reiner Zeitvertreib und eigentlich auch nur dazu da, mein gekränktes Ego wieder aufzupäppeln. Dafür ist Tinder auf den ersten Blick übrigens klasse, auf Dauer habe ich allerdings einsehen müssen, dass die Egoboosts mit der Zeit immer flüchtiger wurden. Und dann kam der Moment, in dem ich rannte.

„Isch geh dann imma Borchardt, da häng’ so Menschn mit krass Kohle und da mach ich Geschäft, weißt du?“ Ich sah ihn an, hörte die Straßenbahn in die Station einfahren, dachte „Tu ich’s? Tu ich’s nicht?” und rannte wie von der Tarantel gestochen los. Er hat sich, glaube ich, ziemlich erschrocken und rannte mit, ich schüttelte ihn jedoch schreiend mit einem: „Nee, nee, kannst stehen bleiben, das wird nix mit uns!“ ab.

Das Davonrennen verdeutlicht ziemlich gut, wie Tinder funktionieren kann und wie schwierig es ist, über Tinder zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Ich rannte von Date zu Date, selbst wenn mir einer gefiel, da war doch noch so ein Netter auf der Matchliste, den ich noch nicht getroffen hatte. Also rannte ich weiter, rastlos und vollkommen desillusioniert. Zwar hatte ich vor meinen Freunden groß getönt, ich suche keine Beziehung und wolle nur mal so gucken, aber klar, wer sich so einen Marathon leistet wie ich, kann irgendwann niemandem mehr vormachen, dass dort nicht irgendwo die Sehnsucht nach wirklicher Zuneigung versteckt ist, hinter dem ganzen Player-mir-ist-alles-egal-Getue.

Wer allerdings wirklich ehrlich auf der Suche nach einer schnellen Affäre ist, wird hier mit Sicherheit fündig, alles andere finde ich eher fraglich. Dass dort Leute schreiben, sie suchen Freundschaften, muss ich tatsächlich sehr belächeln. Jedenfalls suche ich mir nicht bewusst Freunde des anderen Geschlechts aus, die ich zufällig auch noch heiß finde – wär ja schön blöd von mir. Tinder ist ein bisschen wie Primark, nur mit Menschen statt Kleidung. Billig in der Anschaffung und die Freude daran flüchtig. Es ist wohl eine Begleiterscheinung unserer Konsumgesellschaft und des unbeständigen Großstadtlebens. Jeder hat Schiss, etwas zu verpassen.

Meinen Sohn habe ich übrigens nie auf den Bildern gezeigt. Nein, nicht weil ich ihn verstecken wollte, sondern aus dem einfachen Grund, weil ich das für mich getan habe – für mich ganz alleine. Allerdings hatte auch keiner der Männer in irgendeiner Weise ein Problem damit, wenn ich dann meistens recht schnell auf meinen Sohn zu sprechen kam. Im Gegenteil, die meisten wirkten eher beeindruckt.

Ein anderer Punkt, der mir aufgefallen ist: Viele Leute empören sich lautstark über die unglaubliche Oberflächlichkeit der App. Ganz ehrlich? Sicherlich entscheidet man anhand eines Fotos und in dem Swipewahn übersieht man hier und dort eine liebe Seele oder swiped versehentlich nach links und dann gibt es kein Zurück mehr, aber darum geht es in erster Linie ja nicht. Wenn ich früher im Club jemanden kennengelernt habe, dann sicherlich nicht wegen seines interessanten Charakters. Du wirst bewertet und bewertest. Nutzer haben außerdem die Möglichkeit, ihre Profile selbst zu gestalten und können entscheiden, wie sie sich präsentieren. Selbst schuld, wenn du am Ende nicht so tickst, wie du dich darstellst, denn das wird früher oder später bei einem möglichen Treffen ans Licht kommen.

Ich werde die App trotz allem vorerst nicht löschen, denn hin und wieder war der eine oder andere zwar bedeutungslose, aber nette Abend dabei, den ich ohne Tinder alleine vor der Glotze verbracht hätte. Und wenn mir einer nicht passt, dann renne ich halt los.

Dieser Text erschien zuerst bei Hauptstadtmutti.  Hier könnt ihr nachlesen, welche Erfahrungen die „Hauptstadtmutti“-Autorin Johanna bei Tinder und anderen Dating-Portalen gemacht hat.

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